Die deutsche Schuld.
“Art. 2. Die Kommandeure der Armee von unabhängigen Armeekorps und von Divisionen dürfen im Fall militärischer Notwendigkeit und für den Fall, daß sie Spionage und Verrat vermuten, einzeln oder in Massen die Einwohner von Dörfern oder Städten fortschicken und sie an anderen Orten ansiedeln.“
In den Befehlen war vorgesehen, daß das liegende Eigentum der zu Deportierenden in Verzeichnisse eingetragen und in behördliche Verwahrung genommen, daß die Auszusiedelnden in die Gegenden der Bagdadbahn verschickt und ihnen dort neues Land vermessen werden sollte. In dieser Form, die sich leidlich mit den notwendigen militärischen Maßnahmen zivilisierter Staaten vertrug, hat v.d. Goltz dem Plane zugestimmt. Es ist ihm zum Vorwurf zu machen, daß er bei seinem langjährigen Aufenthalt in der Türkei nicht vorhergesehen hat, wie die Ausführung einer solchen Maßregel durch türkische Beamte sich gestalten würde, daß er nach der Geschichte der türkisch armenischen Beziehungen und unter Berücksichtigung des sich immer weiter ausbreitenden Pantürkismus nicht Verdacht geschöpft hat. Aber Goltz hat eben in derselben falschen Einschätzung des Türkentums gelebt wie alle, die den Türken nur als Soldaten kennen. Die Osmanen waren von je ein Kriegervolk und haben sich als Militärs stets von der besten Seite gezeigt: daher stammt das Wort von dem Türken als dem einzigen Gentleman des Orients, das bekanntlich auf Bismarck zurückgeht. Dazu begegnet man immer wieder der Erfahrung, daß infolge der Abschließung voneinander, in der die einzelnen Völker im Orient leben, auch da, wo sie dieselben Städte bewohnen, Ausländer selbst nach langjährigem Aufenthalt in der Türkei dem Charakter der einzelnen Völkerschaften wie einer Terra incognita gegenüberstehen. Ein krasses Beispiel bildet der deutsche Töpfermeister in Naumanns “Asia”, aber ein Beispiel, das sich von jedem, der sich im Orient wirklich umgesehen hat, um Hunderte vermehrt werden kann.
Das deutsch-türkische Stärkeverhältnis.
Die türkische Regierung hat sich nur allmählich und zögernd zu den Maßnahmen gegen die Armenier bekannt. Am 4. Juni erklärt sie in dem ersten Communiqué über die armenische Frage, daß ihre Maßregeln “keineswegs eine gegen die Armenier gerichtete Bewegung darstellen”. Erst im fünften Communiqué vom 16. Juli teilt sie mit, daß wegen der behaupteten revolutionären Bewegungen “diese Armenier aus den Grenzzonen und den Gebieten, wo Etappenlinien eingerichtet sind, entfernt worden” sind, um sie dem Einfluß der Russen zu entziehen. Noch am 27. August versichert der türkische Generalkonsul von Genf in der Presse, daß “die gesamte armenische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden erfreuten”. Erst als die gesamte deutsche Presse auf die Seite der Türkei in der Armenierfrage tritt, die türkischen Behauptungen nicht bloß unbesehen und gutgläubig annimmt, sondern sie sogar noch überbietet, wagt sich die türkische Regierung offen hervor. Nach der Einnahme von Wan meldet die Agentur Milli: “Von den 180000 Muselmanen, die das Wilajet Wan bewohnen, haben sich kaum 30000 retten können. Der Rest blieb den Mordtaten der Russen und Armenier ausgesetzt, ohne daß man bis jetzt über deren Schicksal etwas erfahren konnte.” Daraus macht die deutsche Presse: “Erwiesenermaßen sind 150000 Mohammedaner den Armeniern zum Opfer gefallen” - während in Wirklichkeit kaum einem Mohammedaner etwas geschehen ist und die übergroße Mehrzahl jener Mohammedaner aus Kurden besteht, die in ihren Bergen sicher waren. Man kann sich nicht wundern, wenn die Türken durch solche Parteinahme der Presse ermutigt worden sind, den Noten der deutschen Regierung eine energische, fast höhnische Ablehnung entgegenzusetzen. Hätte die deutsche Regierung der deutschen öffentlichen Meinung nur etwas Raum gelassen, hätte sich zeigen dürfen, mit welchem Abscheu weiteste Kreise des deutschen Volkes den türkischen Maßnahmen gegenüberstanden - und das hätte sich gezeigt, sobald man nur etwas von den Tatsachen hätte erfahren dürfen - selbst die Türkei hätte dem einmütigen Urteil der zivilisierten Welt gegenüber nicht den Zynismus entwickelt, mit dem sie in der armenischen Frage vorgegangen ist.
Es hat nicht an leisen Versuchen der deutschen Regierung in dieser Linie gefehlt. Zweimal ist in den Berliner Pressebesprechungen die Diskussion der armenischen Frage überhaupt untersagt worden. Aber jedesmal kamen unmittelbar nachher offizielle türkische Berichte, die man sich für verpflichtet hielt, durch das Wolffsche Bureau verbreiten zu lassen. Während aber auch ohne jenen Ukas die armenierfreundlichen Artikel völlig aus der Presse verbannt waren, hat es niemals an entstellenden armenierfeindlichen Artikeln in der Presse gefehlt, die auf Beschwerde von seiten der Armenierfreunde zwar von oben gemißbilligt wurden, ohne daß jedoch etwas Ernstliches geschah, die Wiederholung zu verhüten.
Die Diskussion ist nun freigegeben. Wir können keine Freude mehr darüber empfinden. Denn wir stehen vor einem Berg von Scherben. Erst wenn der ungehinderte Verkehr mit dem Auslande wieder stattfinden kann, wird die deutsche Oeffentlichkeit inne werden, wie gewaltig sich Deutschland durch die falschen Zensurmaßnahmen geschadet hat und welchen ernsten Beitrag das dadurch im Auslande entstandene unrichtige Urteil über die deutsche Stellungnahme in der armenischen Frage zu dem Weltwiderstand gegen Deutschland geliefert hat.