Die Klagen über angebliche und wirkliche Verfolgungen, denen die Armenier in Folge des Krieges ausgesetzt sind, werden immer zahlreicher und lauter; umgekehrt werden diese beschuldigt, dass sie mit den Reichsfeinden sympathisieren, mit ihnen hochverräterische Verbindungen unterhalten und an einzelnen Orten sich offen gegen die Landesbehörden aufgelehnt haben. Die Verstimmung gegen die Armenier wird vermehrt durch die Nachrichten über die Haltung der Armenier im Auslande; nicht nur aus dem Kaukasus, sondern auch aus Amerika, Bulgarien und anderen Ländern sollen Tausende von ihnen freiwillig in die russische Armee eingetreten sein, und es wird behauptet, dass die russische Sektion der Partei Daschnakzutiun für den Fall eines für die Türkei ungünstigen Ausganges des Krieges die Vernichtung der mohamedanischen Bevölkerung in den von der Türkei abzutretenden Gebietsteilen fordere. Besonders gravierend lauten endlich die Berichte über die Aufführung der armenischen Mannschaften in der türkischen Armee während des Feldzuges im Kaukasus: sie sollen wiederholt ihre Waffen gegen die Türken gekehrt haben, eine Tatsache, die auch von deutschen Offizieren, die diesen Kämpfen beigewohnt haben, bestätigt wird.
Von jeder Seite werden die Anschuldigungen der anderen Seite als grundlos zurückgewiesen, bezw. die Schuld an den Ereignissen dem anderen Teile zugeschoben. Nur in einem Punkte dürfte Übereinstimmung herrschen: dass die Armenier seit Einführung der Konstitution den Gedanken an eine Revolution aufgegeben haben, und dass keine Organisation für eine solche besteht.
Zweifellos haben nun in Ostanatolien Ausschreitungen und Gewaltakte gegen die Armenier stattgefunden, und im allgemeinen dürften die Vorgänge von armenischer Seite richtig geschildert, wenn auch übertrieben sein. Vielfach handelt es sich um die Drangsale und Leiden, die jeder Krieg, auch in Kulturländern, im Gefolge hat; in anderen Fällen lag aber die Schuld auch auf seiten der Armenier, und die Behörden trifft höchstens der Vorwurf, dass sie nicht rechtzeitig Vorsichtsmassregeln getroffen haben und hinterher mit unnötiger Strenge eingeschritten sind.
Das mir aus armenischer Quelle (Patriarchat und Mitteilungen des Dr. Liparit Nasariantz) vorliegende Material bezieht sich in der Hauptsache auf das eigentliche Kriegsgebiet (Vilajet Erzerum) und die unmittelbar daran grenzenden Bezirke (Vilajete Van und Bitlis).
Für die Vorkommnisse in diesen Gegenden werden von armenischer Seite verantwortlich gemacht:
1. die unter der Bezeichnung Miliz militärisch organisierten türkischen Irregulären und Banden von Marodeuren; ihnen werden zahlreiche Plünderungen, Raubmorde und sonstige Ausschreitungen gegen die armenische Landbevölkerung zur Last gelegt;
2. die dem Komité Union et Progrès affiliierten Klubs, in denen viel unlautere Elemente vertreten sein sollen. Es wird behauptet, dass diese Klubs, speziell der von Erzerum, förmliche Proscriptionslisten aufgestellt haben, und eine Reihe politischer Morde, die seit Dezember v.Js. an verschiedenen angesehenen Armeniern verübt worden sind, werden auf ihre Tätigkeit zurückgeführt. Es wird hinzugefügt, dass das Ministerium des Innern bereits vor einiger Zeit von den Armeniern vor dem Treiben dieser Klubs gewarnt worden sei, die schon einmal - bei den Vorfällen in Adana im Jahre 1909 - eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben;
3. verschiedene Zivilbeamte, speziell der Gouverneur von Musch (Vilajet Bitlis) und der Vali von Van. Es wird u.A. angeführt, dass einige 2000 mohammedanische Familien aus dem von den Russen okkupierten Distrikt von Alaschgerd in den armenischen Dörfern von Musch untergebracht worden seien, die kaum imstande sind, ihren eigenen Unterhalt aufzubringen; die armenischen Bauern würden wie Zugvieh zum Transport von Munition und Proviant verwendet, viele von ihnen erlägen der unmenschlichen Behandlung, und die wenigsten, angeblich kaum ein Viertel, kehrten in ihre Dörfer zurück. In zwei Bezirken von Van sollen unter Konnivenz der Kaimakame förmliche Metzeleien vorgekommen sein.
In den vom Kriegsschauplatz entfernteren Provinzen scheint die Lage der armenischen Bevölkerung soweit erträglich zu sein, obwohl auch von dort vereinzelte Klagen eingegangen sind: doch handelt es sich im ganzen um Vorfälle von geringerer Bedeutung, wie Haussuchungen nach verbotenen Waffen und Deserteuren, wobei es gelegentlich zu Ausschreitungen gekommen sein soll, und dergleichen mehr.
Mehr Beachtung verdienen zwei Vorfälle im Vilajet Adana, über welche die Kaiserliche Botschaft auch durch Konsularberichte eingehend informiert ist.
Anfang März haben sich in der armenischen Ortschaft Dörtjol, nachdem schon vorher wiederholt Engländer von der Flotte gelandet waren und ungestört Einkäufe besorgt hatten, zwei aus jener Gegend stammende Armenier aufgehalten, die dort im englischen Interesse agitierten. Einer dieser Emissäre fiel den türkischen Behörden in die Hände und ist in Adana hingerichtet worden. Die weitere Folge war, dass die gesamte männliche Bevölkerung von Dörtjol ausgehoben und nach dem Vilajet Aleppo geschafft wurde, wo sie zum Wegebau verwendet wird; drei Individuen wurden, weil sie zu fliehen versuchten, niedergeschossen. Es kam hinzu, dass zur Zeit dieser Vorfälle zahlreiche Fahnenflüchtige sich in Dörtjol versteckt hielten, auch hatte man nicht vergessen, dass die Bewohner während des Massakres im Jahre 1909 sich mit den Waffen in der Hand gegen die Türken verteidigt hatten.
Über die Ereignisse in Zeitun, die durch den Widerstand der Armenier gegen die Rekrutierung hervorgerufen worden sind, ist bereits berichtet worden; auch in diesem Falle dürfte die Behörden kein anderer Vorwurf treffen, als der, dass sie nicht rechtzeitig eingegriffen haben.
Mit Bezug auf die vorstehend geschilderten Verhältnisse ist von armenischer Seite die Bitte geäussert worden, dass die Kaiserliche Botschaft und unsere Konsulate ihren Einfluss bei den türkischen Regierungsorganen geltend machen möchten, um den weiteren Verfolgungen der Armenier in den in Betracht kommenden Landesteilen Einhalt zu tun. Als besonders wichtig wird die Bestellung von erfahrenen, mit den armenischen Angelegenheiten vertrauten Valis und Mutessarrifs für die betreffenden Provinzen bezeichnet, auch glaubt man, dass die Anwesenheit deutscher Konsuln in Van, Bitlis usw. hinreichen würde, um die ärgsten Ausschreitungen zu verhindern.
Hier wie auch im Innern wird von den Armeniern eine solche Verwendung unseres Einflusses zu ihren Gunsten als ein nobile officium für uns als christliche europäische Grossmacht angesehen und als eine natürliche Folge unseres Bundesverhältnisses zur Türkei erwartet, weil es im eigensten Interesse der Türkei, also auch in unserem, liege, das armenische Element zu schützen und seine Sympathien sich zu bewahren; es wird hervorgehoben - was, wie bemerkt, von den Türken bestritten wird -, dass die Armenier trotz aller Leiden, denen sie ausgesetzt seien, sich loyal und korrekt, mindestens aber passiv verhalten; bei einer fortgesetzten, systematischen Verfolgung wäre aber zu befürchten, dass diese friedliche Gesinnung ins Gegenteil umschlüge; die regierungsfreundlichen Parteien, wie die Daschnakzutiun, würden die Massen nicht mehr zurückhalten können, und es entstünde die Gefahr, dass bei einem Vordringen der Russen nicht nur die Armenier in dem Invasionsgebiete zum Feinde übergehen, sondern auch eventuell im Rücken der türkischen Armee Insurrektionsherde sich bilden.
Der Appell an das nobile officium der deutschen Vertretung in der Türkei ist aus der Entwicklung der armenischen Frage verständlich, besonders aber jetzt, wo infolge des Krieges die Dreiverbandmächte hier ausgeschaltet sind und als Schutzmächte nicht in Frage kommen. Aber ein Versuch, diesem Appell Folge zu geben und die Rolle zu übernehmen, die England nach dem Berliner Kongress und neuerdings Russland als Beschützer der Armenier gespielt haben, würde von der Pforte als eine unberechtigte und lästige Einmischung in ihre innerpolitischen Angelegenheiten empfunden werden. Der Moment ist umso weniger dazu geeignet, als die Pforte gerade jetzt daran gegangen ist, die Schutzrechte, die andere fremde Mächte über türkische Untertanen ausgeübt haben, zu beseitigen. Auch hat sie auf das durch die Ereignisse der letzten Jahre stark gehobene Nationalbewusstsein der türkischen Elemente Rücksicht zu nehmen.
Was die sonst von armenischer Seite vorgebrachten Erwägungen anbetrifft, so dürften sie ernste Beachtung verdienen, und ich habe daher schon vorher wiederholt Anlass genommen sowohl auf der Pforte wie beim Patriarchat auf eine versöhnliche Politik und auf die Erhaltung guter Beziehungen zu einander zu dringen. Hierbei war auch die weitere Erwägung massgebend, dass unsere Feinde nicht ermangeln werden, für das den Armeniern zugefügte Unrecht uns verantwortlich zu machen und diese gegen uns aufzuhetzen. Aber die den Armeniern jetzt so ungünstige Stimmung in den Regierungskreisen zieht unserer Verwendung für die Armenier noch engere Schranken und mahnt zu besonderer Vorsicht. Andernfalls laufen wir Gefahr durch das Eintreten für eine vielleicht aussichtslose Sache wichtigere und uns näher liegende Interessen aufs Spiel zu setzen. Ich glaube daher auch, dass die in diesem Zusammenhange angeregte Vermehrung der deutschen Konsulate in den sogenannten armenischen Provinzen ihren Zweck nicht erfüllen würde. Voraussichtlich würde die Pforte darin den Versuch einer Überwachung ihrer eigenen Behörden durch uns erblicken, ähnlich wie s.Z. England und in jüngster Zeit Russland durch Entsendung konsularischer Vertreter die Durchführung der armenischen Reformen in jenen Landesteilen zu kontrollieren versucht haben; eine solche Massregel wäre geeignet, die Behörden erst recht gegen die Armenier aufzubringen und so den entgegengesetzten Erfolg herbeizuführen.