1917-11-20-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14098
Zentraljournal: 1917-A-39028
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Direktor der Deutschen Evangelischen Missions-Hilfe August Wilhelm Schreiber an den Legationsrat im Auswärtigen Amt Rosenberg

Privatschreiben



Berlin-Steglitz, den 20. November 1917.

Sehr geehrter Herr Baron!

Anbei sende ich Ihnen mit der Bitte um freundliche Kenntnisnahme u. Rückgabe

1. den von Pastor Stier verfaßten Bericht über die Verschickung der Armenier.

2. Zwei Briefe eines nach der Türkei überführten Armeniers, die aufs neue zeigen, wie gut es ist, diese Leute hier in der Kriegsindustrie zu beschäftigen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr dankbar ergebenster


A.W. Schreiber, D.

[Notiz Tiedemann 26.11.]


Dir. Schreiber hat auf Rückgabe der Anlagen verzichtet.


Anlage 1

August 1917.

Vertraulich. Nicht für die Öffentlichkeit.


Die Verschickung des armenischen Volkes.

Beim Eintritt der Türkei in den Krieg war die armenische Nation im Gebiete des türkischen Reiches organisiert im Patriarchat und in der Partei Daschnakzutiun. Letztere war ursprünglich eine revolutionäre Partei; sie war begründet, um den Kampf des Volkes gegen die Verfolgungen durch die Kurden in der Zeit Abdul Hamids zu organisieren. Bei Beginn des konstitutionellen Regiments löste sie die von ihr gebildeten kleinen Banden (Fedais) auf, die revolutionäre[n] Partei des Komitees „Einigkeit und Fortschritt“ [wurde]als Gesinnungsgenosse[n] anerkannt. Die Daschnaksutiun wurde parlamentarische Partei und ist bis zuletzt mit der Regierung gegangen. Neben ihr bestand noch die alte Partei des Hintschak, die aber keine Organisation besitzt, wenig Rückhalt im Volke hat und sich zu der Opposition gehalten hat. Die Mobilisation erstreckte sich auch auf die Armenier, die zuerst mit der Waffe gegen die Russen gekämpft haben. Enver Pascha hat noch Anfang 1915 in seinem Briefe an den Bischof von Konia erklärt, „dass die armenischen Soldaten der ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen, was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann.“ (Osmanischer Lloyd vom 26. Februar). Das Patriarchat veranlasste Gebete in den armenischen Kirchen für den Sieg der türkischen Waffen, die Armenier stifteten reichlich für den roten Halbmond.

Nach dem Rückzug der türkischen Truppen von der kaukasischen Grenze zu Anfang des Jahres 1915 wurden aus den armenischen Distrikten Klagen laut, dass die irregulären kurdischen Truppen in armenische Dörfer gelegt würden und sich dort Ausschreitungen gegen Frauen und Plünderungen zu Schulden kommen liessen. Wenn die Armenier sich und ihre Frauen verteidigten, kam es zu Ueberfällen mit Massenmorden und Vernichtung ganzer Dörfer. Die Beschwerden der armenischen Führer bei ihren jungtürkischen Freunden hatten niemals wirklichen Erfolg. Einzelne Armenier, die ja früher gleich den anderen Christen allgemein gegen Zahlung des Kopfgeldes vom Kriegsdienst befreit waren – hatten sich der Mobilisation nicht gefügt: bei der Suche nach diesen Deserteuren kam es auch in anderen Gegenden zu Schlägereien und einzelnen Todesfällen. Im Frühjahr 1915 fand aus diesem Anlass in Zeitun in Cilicien, das von je eine gewisse Selbständigkeit innerhalb des türkischen Reiches ähnlich den Kurdenstämmen besessen hat, ein Kampf zwischen Gendarmen und Deserteuren statt, wobei Gendarme getötet wurden. Etwa 20 Armenier, darunter Deserteure, verbarrikadierten sich in einem Kloster. Anfang März rückte eine starke türkische Truppenmacht an und belagerte Zeitun: die Stadt ergab sich, die Deserteure flohen nach kurzem Kampfe. Zur Strafe wurde die ganze Stadt zur Verschickung verurteilt, teils nach den Sumpfgegenden von Konia, teils nach der mesopotamischen Steppe am Euphrat. Darauf wurde befohlen, die gesamte armenische Bevölkerung Ciliciens – über 200000 Seelen – gleichfalls zu verschicken. Der Wali von Aleppo Djelal Bey erhob Einspruch gegen diese Massregel, die Hunderttausende von Unschuldigen die Schuld von wenigen Leuten büssen lassen wollte; er wurde nach Konia versetzt. Die Verschickung ist hier wie überall von der Zentralregierung in Konstantinopel befohlen worden. Mehrfach haben türkische Provinzialbehörden um Zurücknahme der Verfügung gebeten oder ihre Ausführung verzögert: sie sind dann durch energischere Beamte ersetzt worden. Für die Durchführung sorgten überall die im ganzen Lande bestehenden Klubs der Regierungspartei „Einigkeit und Fortschritt“. Mit der Organisation, der Verschickung aus Cilicien wurde der Kommandant von Syrien, Dschemal Pascha, betraut. Die Armenier erhielten eine Frist von 10 Tagen, um die Habe, die sie nicht mitnehmen konnten, zu veräussern. Trotz einiger Hinrichtungen, Mordtaten und anderer Unregelmässigkeiten ist die Deportation im allgemeinen ruhig vor sich gegangen. Die Armenier sind lange hin und her geführt worden, unter oft unzureichender Verpflegung, wobei viele umkamen. Sie sind dann im Hauran und am Euphrat angesiedelt worden, haben nach Verlauf von Monaten sich zum Teil Hütten bauen und Erwerb finden können. Doch ist die Zahl der in grosser Not befindlichen und ohne Unterstützung dem Hungertode geweihten nach Auskunft der deutschen Konsuln noch immer sehr gross.

Im April entstanden Unruhen in Wan. Dort waren am 15. April zwei armenische Führer auf einer Reise, die sie auf Veranlassung des Wali in Begleitung von türkischen Gendarmen unternommen hatten, ermordet worden. Der dritte Führer Arum fürchtete ein allgemeines Massaker und setzte das armenische Quartier in Verteidigungszustand: er konnte sich selbst gegen türkisches Militär 30 Tage halten, bis Wan am 13. Mai durch die Russen erobert wurde. Am 20. Mai wurde der Befehl gegeben, die gesamte armenische Bevölkerung der 7 ostanatolischen Wilajets, über eine Million, zu deportieren. Die Ausführung hat kurz darauf begonnen und sich bis in den August hinein erstreckt. Begründet wurde der Befehl mit militärischen Notwendigkeiten. Hier wurde die Verschickung in den meisten Fällen in sehr grausamer Weise vollzogen. Den Armeniern wurden drei, manchmal nur ein Tag zur Vorbereitung der Abreise gegeben. Ihre Habe wurde teils eingezogen, teils dem Pöbel zur Plünderung preisgegeben: was sie mitnahmen, wurde ihnen vielfach kurz hinter den Ortschaften wieder abgenommen. Die Männer wurden in Massen erschossen, die Züge der Verschickten von Kurdenhorden überfallen, an den Frauen Grausamkeiten verübt, die jungen Mädchen und Frauen in die Harems verschleppt oder meistbietend verkauft. Die Reisenden, die die Reiserouten der Deportationszüge gekreuzt haben, berichteten von massenhaft umherliegenden, oft schrecklich verstümmelten Leichen. Die Verpflegung war überall eine völlig unzureichende, vielfach wurde auch den Bewohnern der Ortschaften, durch die sie zogen, verboten, ihnen Lebensmittel zu verabreichen. Das Ziel der Verschickten, das sie aber erst nach Monaten erreichten, waren die Gegenden längs der Bagdadbahn, wo sie sich jetzt in Deportationslagern befinden. Angekommen sind fast nur Frauen und Kinder, auch von diesen sind auf dem Wege Hunderttausende umgekommen. In diese Lager hat auch keine auswärtige Unterstützung den Weg gefunden. Die Flüchtlinge gehen in grosser Zahl an Flecktyphus und Hunger zu grunde.

Schon vor der Verschickung dieses Hauptteils des armenischen Volkes waren sämtliche armenischen Soldaten entwaffnet worden, sie wurden dann als Strassenarbeiter verwendet. Die Entwaffnung erstreckte sich auf das ganze Volk und ging ohne Ruhestörung vor sich. Sämtliche armenischen Beamten wurde entlassen. Am 24/25. April wurden in Konstantinopel 235 Armenier, die führenden Männer aus den besten Gesellschaftsklassen, verhaftet; 3 Tage vorher hatte die Verhaftung der Intellektuellen in ganz Anatolien begonnen. Gegen keinen von den Verhafteten ist ein Gerichtsverfahren anhängig gemacht worden, die Meisten von ihnen sind ohne Richterspruch hingerichtet worden.

Anfang August wurde auch mit der Verschickung der armenischen Bevölkerung von Westanatolien mit Ausnahme des Wilajets Smyrna, der Anfang gemacht: hier wohnten über 300000 Armenier. Die Ausführung hat sich bis in den Oktober erstreckt. Es gibt jetzt noch Armenier in Konstantinopel und Smyrna in grösserer Zahl; einzelne, die sich zu verbergen wussten oder durch Geldsummen ihre Freiheit erkauften oder als unentbehrlich – viele Handwerke werden nur von Armeniern betrieben – zurückbehalten wurden, sind noch zerstreut im ganzen Lande vorhanden. Im grossen und ganzen ist die armenische Bevölkerung mindestens auf die Hälfte ihres Bestandes durch Mordtaten, Hunger und Seuchen heruntergebracht. Der Rest sind 130 - 200000 am Euphrat, 150000 an der Bagdadbahn, 45000 bei Aleppo, 30000 bei Damaskus; über 200000 sind durch die Kriegsoperationen Russlands dorthin gerettet.

Die von der deutschen Presse aufgestellte Behauptung von einer allgemeinen Verschwörung der Armenier, die zum Teil auf einer völligen Unkenntnis der Vorgänge beruht, wird durch folgende Tatsachen widerlegt: Am 4. Juni 1915 stellt das offizielle türkische Communiqué gegenüber den Angriffen der Agence Havas vom 24. Mai wegen angeblicher Massenmorde in Armenien fest, dass „Die Armenier in den in der Havasmeldung genannten Orten keine Handlungen begangen hätten, die die öffentliche Ruhe und Ordnung hätten stören können.“ Noch am 27. Aug. hat der türkische Generalkonsul in Genf, obwohl damals fast das ganze Volk bereits verschickt war, in einer Mitteilung für die Presse behauptet: die gesamte armenische Bevölkerung erfreut sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden; es hat nur einige Schuldige gegeben, die von den ordentlichen Gerichten abgeurteilt worden sind.“ Die 5 Communiqués von 1915 nennen nur einen armenischen Abgeordneten, der (vor Beginn des Krieges) nach Russland geflüchtet wäre und dort Freischaren zum Kampf gegen die Türkei gebildet hätte, 2 Armenier, die Züge zur Entgleisung gebracht hätten, einen, der sich geweigert hätte, Strassenarbeit zu übernehmen und einen Gendarmen erschossen hätte. Ausser den schon geschilderten Vorgängen in Zeitun und Wan wird noch von einem bewaffneten Widerstand der Armenier gegen die Verschickung in Schabin-Karahissar berichtet; das ist ferner vorgekommen in Urfa, Musch, Sassun und auf dem Berge Mussa in Cilicien: die dorthin geflüchteten Armenier wurden auf ihren Hülferuf von einem französischen Kriegsschiff aufgenommen – hierauf geht wahrscheinlich die Bemerkung des türkischen Communiqués, dass Kommandanten feindlicher Schiffe sich mit Armeniern in Küstenorten in Verbindung gesetzt hätten.

Auch für die Behauptung von der Anstiftung einer armenischen Verschwörung durch England sind keine Tatsachen als Unterlage vorhanden. Die Behauptungen des Jungägypters Rifaat, die durch die deutsche Presse gingen, sind eine Verwechslung mit dem vor dem Krieg aufgedeckten Komplott der türkischen Oppositionspartei, an dem einige Mitglieder der armenischen Partei Hintschak beteiligt waren.

Erst im Jahre 1916 sind von der türkischen Botschaft in Berlin durch das Wolffsche Büreau Nachrichten über größere bewaffnete Widerstände und Greueltaten durch die Armenier verbreitet worden. Sowohl hier wie in den Communiqués von 1915 wird aber nicht unterschieden zwischen den Armeniern, die als russische Untertanen im russischen Heere zu dienen verpflichtet waren (über eine Million Armenier wohnen in Russland), den Freischaren, die sich in Russland gebildet hatten, und den türkischen Armeniern. In der gleichen Weise wird der Tatbestand verdunkelt in einer von der türkischen Regierung herausgegebenen Sammlung von Photographien, die den Titel führt: „Die Leidenschaft und Bewegung armenischer Revolutionäre“, mit türkischem, englischem, französischem und deutschem Text. Gerade aus diesem Heft geht für den Kundigen zur Genüge hervor, wie wenig Tatsächliches die Türken für eine revolutionäre Bewegung der Armenier beizubringen wissen. Die Hälfte der Bilder zeigen den Armeniern abgenommene Waffen: dabei ist im Orient jedes Volk bewaffnet. Die übrigen Bilder gehen, soweit es sich nicht um die Erhebung in Wan und die russischen Armenier handelt, auf die Zeit vor der Begründung der Konstitution zurück, in der auch die Jungtürken eine revolutionäre Partei waren, und beziehen sich ausserdem meist auf selbstverständliche Aeusserungen des Nationalgefühls.

Die eigentlichen Gründe für die Verschickung des armenischen Volkes, die, wie gezeigt, in den Verschuldungen Einzelner keine irgendwie genügende Grundlage hat, sind vermutlich die folgenden:

1. Die Türkei versuchte noch vor der Kriegserklärung an Russland die russischen Armenier zu revolutionieren. Diesem Ziele sollte der von der Regierung erlaubte Parteikongress aller Daschnakzagan – aus der Türkei und aus Russland – dienen, der in den ersten Augusttagen 1914 unter Teilnahme von jungtürkischen Führern in Erzerum stattfand. Dort erklärten jedoch die anwesenden russischen Armenier zu einem solchen Vorgehen nicht imstande zu sein; sie versprachen jedoch ihren türkischen Parteigenossen sich nach Möglichkeit zurückzuhalten. Der Aerger der Türken über dies Misslingen ihres Planes, dass sie den türkischen Armeniern als Schuld anrechneten, hat die Antipathie gegen die Armenier verstärkt.

2. Der Hauptgrund sind die Bemühungen der Armenier vor dem Kriege um Reformen in den ostanatolischen Wilajets, die in Artikel 61 des Berliner Kongressprotokolls zugesagt waren, in jedem Jahre das türkische Parlament beschäftigt und wesentlich mit der Unterstützung Deutschlands im Jahre 1914 durch das Gesetz über die Wilajets einen Abschluss gefunden hatten. Durch dies Gesetz war den Armeniern eine ihrer Bevölkerungsziffer entsprechende Beteiligung an den Wilajetsbeiräten und bei der Besetzung der Beamtenstellen zugestanden und die 6 ostanatolischen Wilajets zwei Generalinspektoren aus neutralen Ländern unterstellt worden. Diese Bestrebungen werden von der türkischen Regierung fälschlich als staatsgefährliche Bestrebungen nach einer Autonomie Armeniens bezeichnet, während sie in durchaus gesetzlichen Bahnen sich bewegten und es sich um eine Ordnung innerhalb des türkischen Staates zum Schutz des von den Kurden von je bedrohten Lebens und Eigentums der Armenier handelte: auch die Generalinspektoren sollten türkische Beamte bleiben.

3. die jetzige jungtürkische Regierung vertritt den Zentralisationsgedanken, im Gegensatz zu der dezentralistischen Partei der Opposition. Sie versucht die Türkei als starkes Reich allein auf der türkischen Rasse aufzubauen, die noch nicht die Hälfte der gesamten Bevölkerung des Reiches ausmacht, und hat deshalb auch die Araber sichtlich zurückgesetzt. Die Armenier waren ihr für dieses Ziel am hinderlichsten, da sie das arbeitsamste und intellektuell am höchsten stehende Volk der Türkei sind.

4. Die Türkei ist noch jetzt ein offiziell auf dem geistlichen Recht beruhender Staat. Für die Einheit des Reiches sind ihr alle Christen hinderlich. Wie stark diese Rücksicht bei den Verschickungen mitgespielt hat, zeigt die Tatsache, dass die Armenier, die zum Islam übertraten, verschont wurden. Die Erklärung des Heiligen Krieges hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Volksleidenschaften gegen die Christen, in diesem Falle die Armenier, aufzuregen. So kann die Verschickung in gewissem Sinne auch als eine Christenverfolgung aufgefasst werden.

Die deutsche Regierung hat auf Grund der Berichte ihrer Konsuln von Beginn der armenischen Verfolgungen durch die Botschaft in Konstantinopel gegen die der Gerechtigkeit und Humanität ebenso ins Gesicht schlagende wie dem türkischen Staate selbst aufs äusserste schädliche Massregeln, leider vergeblich, protestiert. Durch die Vernichtung der Armenier, durch deren Hand 90% des auswärtigen Handels ging, sind grosse deutsche Kapitalien verloren gegangen. Zugleich ist die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei stark in Frage gestellt, da die Armenier in allen Berufen, die Intelligenz erfordern, vielfach oft allein vertreten waren und als Arbeiter z.B. bei den Bahnbauten vornehmlich gesucht wurden. Sie bildeten dazu einen starken Bestandteil der türkischen Beamtenschaft und es ist fraglich, ob für sie ein an Arbeitskraft ihnen gleichkommender Ersatz gefunden werden kann.


Anlage 2

Abschrift.

Braila, den 13.6.17.

Sehr geehrter Herr Camparos,

Anbei ein Lebenszeichen von mir. Gott sei Dank bin ich noch am Leben. Wir sind von Berlin, wie Sie sagten, am gleichen Tage weiter nach Konstantinopel abgeführt worden. Nach 46tägigem Aufenthalt im Gefängnis sind wir hierhergebracht worden. Hier gabs wieder Gefängnis. Und nun durch Gottes Fügung bin ich hier im Bay. Feldlazarett 10 als Dolmetscher. Wir sind alle an Typhus erkrankt gewesen. Natürlich haben unsere Landsleute den Tod als ihren Erlöser gewünscht, um von den Martern befreit zu sein. Der Mihran bekommt alle Tage Schläge.

Mit freundlichem Gruss ergebenst Ihr


Petrus Keworkian.
türk. Dolmetscher Bay. Feldlazarett 10.
Deutsche Feldpost No. 182.

Anlage 3


Abschrift.

Braila, 29.6.17.

Sehr geehrter Herr Kamparos,

Ihren unerwarteten Brief habe ich dankend erhalten. Meine vorherige Karte war blos eine Andeutung auf die Erlebnisse, die wir 5 Armenier mitmachten. In Berlin sind wir am gleichen Tage abends 8 Uhr in einen Güterwagen verladen worden; natürlich mit 13 Mann der Wachmannschaft, einigen Unteroffizieren und einem Leutnant, sodass es so aussah, als ob wir Verbrecher wären, die in ihrem Leben nur Mord verübt hätten. So mussten wir 12 Tage in diesem Käfig liegen. Wir waren im ganzen 39 Mann, meist Juden, auch 6 Griechen. In Konstantinopel angekommen, sehnten wir uns nach etwas Essen; doch siehe wir wurden von einigen Askries abgeführt in einen Hof. So ging es von einem Platz an den anderen, wir wurden garnicht fertig. Am Abend leistete ein reicher Jude für die Nacht Bürgschaft für uns. Wir waren natürlich fast verschmachtet, denn seit 48 Stunden hatten wir nichts zu uns genommen. Wir stürzten dann nur so in die Stadt, als ob wir noch nie etwas gegessen hätten. Durch die hohen Preise konnten wir uns nicht viel erlauben. Am anderen Tage wurden wir 5 Armenier wie Böcke von den Schafen abgesondert und jetzt wurden wir auch als Armenier behandelt. Zunächst ging es in das Hauptpolizeiamt. Hier wurden wir in den Büchern der Parteien eifrig aufgesucht. Gegen Abend wurden wir dem Präsidenten vorgestellt, der uns sein höhnisch lächelndes Gesicht zeigte und einige armenische Worte uns entgegenschleuderte. Dann führte man uns in ein Untersuchungsgefängnis. Hier hatten wir ein läusefreies Zimmer und lagen auf dem Boden bis zum Morgen.

Von hier aus gings nun ins Kriegsministerium. Hohe würdentragende Männer frugen nach unserer Herkunft; dann wurden wir in das rote Haus unten gebracht, wo die mit Ketten gebundenen Ehebrecher und Mörder eingesperrt liegen. Der Lehrer, der sich vorher nicht mit den Schlägen einverstanden erklärt hatte, erhielt einige Ohrfeigen von (Tschanis), dass er in die Stube rollte.

Jeden Morgen mussten wir türkische Aborte putzen, sämtliche Gänge ausreinigen, Essen holen und alles erledigen, was es zu tun gab. Unter den Aufsehern waren auch einige gerechte Männer. Kalte Kornsuppe war 45 Tage lang unser Essen. An Sultans Geburtstag erschien ein hoher Offizier im Gefängnis, der auch sein Augenmerk auf uns richtete und sich dann mit dem Gefängniskommandanten auf uns hinweisend in ein Gespräch einliess. Zwei Tage darauf wurden wir photographiert und am 3. Tage morgens eingeladen in einen Personenwagen, mit uns ein Kanun [?] & drei Soldaten zur Bewachung. Wohin? Niemand wusste es. Wir waren ruhig, denn wir hatten uns vorbereitet auf den Tod, der uns von allem Jammer erlösen würde.

Jeder von uns 5 fing an zu prophezeien, was man mit ihm machen würde. Mihran fabelte, er würde bald zu seiner Frau kommen. Alle waren wir in guter Laune, weil der Zug doch nach dem Balkan sausste. Bald liessen sich die Soldaten mit uns in ein Gespräch ein, sodass wir erfuhren, was ungefähr unser Los sein könnte. Am andern Tag kamen wir in Adrianopel an. Wir waren wie die Schiffbrüchigen, die das feste Land betreten haben. So fuhren wir, Gott dankend, durch Bulgarien durch. Die Balkangebirge durchfahrend kamen wir in Rustschuk an. Hier übernachteten wir auf einem Schiff und morgens früh fuhren wir die Donau hinunter nach Braila. Wir wurden dem 6. türk. A.K. überwiesen. Zwei Tage darauf bekam ich meinen jetzigen Posten.

Ich will Ihnen Herr Kamparos nicht verschweigen, wie ich Gott dankte und mich erlöst fühlte von all dem Elend, was unser Volk dulden muss, als ich mich in Deutschen Händen wusste. Der Lehrer und Mihran sind nach dem Depot gekommen und mussten Soldat sein. Nachher wurde der Lehrer wieder 25 Tage lang eingesperrt. Vor wenigen Tagen kam er hier an und erzählte mir sein Schicksal. Ich möchte seine Erlebnisse nicht weiter beschreiben, da es nicht meine Angelegenheiten sind. Jedenfalls ist kein Volk auf der Welt, das so leiden muss wie das Unsre. Wie es in Zukunft wird, das wissen wir nicht. Ich möchte mir gern deutsche Staatsangehörigkeit verschaffen. Natürlich ist es sehr schwer, aber ich versuchs einmal. Wenn Sie mir vielleicht Auskunft darüber geben könnten, würde ich Ihnen sehr dankbar sein.

Von den zwei anderen Armeniern weiss ich augenblicklich nichts. Einer hatte Typhus, der andere ist zu den Oesterreichern gegangen. Der Erstere war in Hannover Teppichhändler, der Letztere in Berlin Zigarettenverkäufer (Zigarettenfabrik Samara.)

Wenn es Gottes Wille ist und wir den Frieden erleben dürfen, dann möchte ich gern wieder in das Schwabenland zurückkehren.

Mit den besten Grüssen Ihr Landsmann


Petrus Keworkian

Herzlichen Dank für das Päckchen, leider dauerte es 3 - 4 Wochen, bis es hier ankam.



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