1917-02-07-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14095
Zentraljournal: 1917-A-04543
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 02/09/1917 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: A 436
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Gesandte in Den Haag (Rosen) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



A 436
Haag, den 7. Februar 1917

Euerer Exzellenz beehre ich mich anbei eine der Kaiserlichen Gesandtschaft anonym aus dem Haag zugesandte Flugschrift: ”Die armenischen Greuel - Drei Dokumente“ gehorsamst vorzulegen.

Euere Exzellenz darf ich um hochgeneigte Bescheidung bitten, ob dort etwas über die Verfasser und Vertreiber der Flugschrift bekannt ist.


Rosen

[Notiz Tiedemann 11.2.]


Es existiert eine Aufzeichnung von mir über „den Brief an das AA“ und seine Verfasser, die vor etwa 3 - 4 Monaten bei A oder III d z.d.A. genommen wurde. Bitte erg. darum, kommt A 29610 pr. 1/11.16 der Anlage AN Türkei 183 Bd. 45 in Frage?.

[Notiz Tiedemann 12.2.]

Die Aufzeichnung ist s.Z. gleichzeitig mit A 29610 gemacht worden, scheint aber nicht bei den Akten zu sein. Vielleicht bei III d? Anlaß bot ein Schreiben des türkischen Botschafters an S.E. Näheres bei den Akten?

[Notiz Auswärtiges Amt 12.2.]

Bei A nicht ermittelt. Geh. Reg. III mit der Bitte um gefl. Feststellung.

[Notiz Auswärtiges Amt 13.2.]

Bei III a nicht ermittelt.


Anlage [Es handelt sich bei den drei Dokumenten um eine gedruckte Flugschrift.]

Die armenischen Greuel
Drei Dokumente
I
Bericht des Lehrerkollegiums der Deutschen Realschule in Aleppo (Türkisch-Kleinasien) an das Auswärtige Amt in Berlin

Aleppo, den 8. Oktober 1915

Dem Auswärtigen Amte erlauben wir uns ganz ergebenst Folgendes zu berichten:

Es schein uns Pflicht, die Aufmerksamkeit des Auswärtigen Amtes darauf zu lenken, dass unserer Schularbeit die sittliche Grundlage u. die Achtung bei den Eingeborenen fürderhin fehlt, wenn die deutsche Regierung tatsächlich nicht im Stande sein sollte, die Brutalität zu mildern, mit der hier gegen die ausgewiesenen Weiber und Kinder getöteter Armenier vorgegangen wird.

Angesichts der Schreckensszenen, die sich täglich bei unserem Schulgebäude unter unseren Augen abspielen, ist unsere Schularbeit zu einer Verhöhnung menschlichen Empfindens herabgesunken. Wie können wir Lehrer ”Schneewittchen und die sieben Zwerge” mit unseren armenischen Kindern lesen, wie sollen wir deklinieren und konjugieren, wenn in den Höfen gegenüber und neben unserem Schulgebäude der Tod unter den verhungernden Stammesgenossen unserer Schüler Ernte hält: Mädchen, Knaben, Frauen, fast nackt, am Boden liegend, andere zwischen Ausgelittenen und schon bereit gestellten Särgen ihre letzten Seufzer aushauchen.

40 - 50 Skelette bleiben übrig, wenn 2000 - 3000 gesunde Bauersfrauen aus Hocharmenien hier heruntergetrieben werden. Die Schönen dezimiert die Sinnenlust ihrer Wächter. Die Hässlichen fallen den Stockhieben, dem Hunger, dem Durst zum Opfer, denn am Ufer des Wassers liegend, lässt man die Verdurstenden nicht trinken. Europäern, die Brot unter den Hungernden verteilen wollten, verweigert man das. Ueber hundert Leichen Verhungerter trägt man täglich aus Aleppo heraus.

Und das alles geschieht unter den Augen hoher türkischer Beamter. 40 - 50 Gerippe liegen in einem Hofe bei unserer Schule zusammen. Sie sind wie irrsinnig. Sie haben das Essen verlernt. Gibt man ihnen Brot, legen sie es gleichgültig zur Seite. Sie stöhnen leise und warten auf den Tod.

Ta-â-lim el alman (die Lehre der Deutschen) sei das, behaupten die Eingeborenen. Grässliche Flecken drohen hier dem Ehrenschild Deutschlands in der zukünftigen geschichtlichen Erinnerung der morgenländischen Völker. Die Deutschen, sagen die Gebildeteren unter den Aleppinern, wollen wohl diese Greuel nicht. Vielleicht weiss auch das deutsche Volk nicht darum. Wie wären sonst bei den wahrheitsliebenden Deutschen Zeitungs-Artikel möglich, die von humaner Behandlung armenischer Hochverräter berichten? Aber vielleicht sind der Deutschen Regierung durch gewisse Kompetenzverträge die Hände gebunden? Nein, wenn es sich darum handelt, dass Tausende hilfloser Frauen und Kinder dem sicheren Hungertode entgegengeführt werden, da haben die Worte ”opportun” und ”Kompetenzvertrag” keine Bedeutung mehr. Jeder Kulturmensch ist da kompetent und hat die heilige Pflicht einzuschreiten. Unsere Achtung im Morgenlande steht auf dem Spiele. Auch feiner empfindende Türken und Araber schütteln bedauernd den Kopf, wenn beim Transport durch die Stadt, von brutalen Soldaten mit Knütteln auf hochschwangere Weiber losgeschlagen wird, die sich nicht mehr fortschleppen können.

Noch stehen fürchterliche Menschenhekatomben bevor, das zeigt der in der Anlage beigefügte Erlass Djemal Paschas, (”Den Ingenieuren der Bagdadbahn ist verboten, Photographien von Armenierzügen zu machen. Alle schon aufgenommenen Platten müssen innerhalb 24 Stunden abgeliefert werden. Andernfalls Verfolgung durch das Kriegsgericht.”) ein Beweis, dass man an massgebenden Stellen das Licht wohl fürchtet, aber noch nicht gewillt ist, mit diesen die Menschlichkeit entwürdigenden Szenen ein Ende zu machen.

Es ist uns bekannt, dass das Auswärtige Amt von anderen Seiten bereits eingehende Schilderungen der hiesigen Verhältnisse empfangen hat. Da sich aber in dem Deportationsverfahren bislang nicht das Mindeste geändert hat, so fühlen wir uns doppelt zu diesem Bericht verpflichtet, zumal wir im Auslande die ungeheure Gefahr deutlich erkennen, die hier dem deutschen Namen droht.


gez. Dir. Huber, gez. Dr. Niepage, gez. Dr. Graeter, gez. M. Spieker.

Anmerkung. Zu diesem Bericht und zur Persönlichkeit Herrn Dr. Graeters äussert sich Herr Dr. Forel (vormals Professor in Zürich) in der ”Berner Tagwacht” vom 12. August 1916 wie folgt:

”Nachdem das deutsche Auswärtige Amt die Sache schon im Oktober 1915 erhielt, aber dennoch verschwieg, während die Unterzeichneten den Mut haben, für dieselbe einzustehen, hielte ich meinerseits das Schweigen für eine Feigheit. Dr. Eduard Graeter kenne ich seit Jahren als einen ausgezeichneten Menschen, der hohen Idealen nachstrebt und sich für dieselben aufopfert. Von einer gehässigen Parteinahme gegen Deutschland und die Deutschen, von jedweder Uebertreibung und falscher Tendenz kann daher keine Rede sein. Verwandte des Herrn Dr. Graeter sind überdies in Basel für ihre umfangreiche aufopfernde Tätigkeit in der Frage der Abstinenzbewegung wohlbekannt.

Jeder Zusatz würde dem kurzen Bericht an das deutsche Auswärtige Amt nur Eintrag tun. Starr vor Entsetzen steht man den Tatsachen gegenüber. Geht denn die Waffenbrüderschaft der Deutschen und der Türken so weit, dass hier Stillschweigen geboten erscheint? Für die deutsche Strategie vielleicht ja, man kann ihre heutige Not begreifen; aber wir neutralen Länder müssen laut gegen solche bestialische Ausrottung eines ganzen Volkes protestieren, die alle Grausamkeit der Raubtiere weit hinter sich lässt.”

Ivorne, 10. August 1916.


Dr. A. Forel, vormals Professor in Zürich.

II


In der ”Allgemeinen Missions-Zeitschrift” (Monatshefte für geschichtliche und theoretische Missionskunde) herausgegeben von Prof. Dr. Julius Richter (Berlin-Steglitz) und Pfarrer Dr. Joh. Warneck (Bethel bei Bielefeld) Verlag von Martin Warneck, Berlin W. Schellingstr. 5 erschien in der November-Nummer 1915, II. Heft, Seite 506 u. ff. folgende Beschreibung der Metzeleien in Armenien. Durch eine Verfügung des Berliner Kriegspresseamts vom 10. Nov. 1915 wurde der Abdruck und die Verbreitung dieses Aufsatzes verboten.

”Wir können es uns nicht versagen, aus den vielen Originalberichten über das entsetzliche Elend der Armenier unseren Lesern wenigstens einige kurze Auszüge mitzuteilen. Sie versetzen uns erst an den Ausgangspunkt der Deportationen, dann in eine Stadt des Durchzuges der ausgewiesenen Scharen und dann in die Wüste, wohin sie ausgewiesen sind. [Die folgenden Passagen entsprechen mit wenigen Veränderungen dem in Dok. 1915-08-21-DE-001 wiedergegebenem Bericht der Schwestern Thora von Wedel-Jarlsberg und Eva Elvers.] ”Am 7. Juli ging der erste Transport von Ersingjan ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten. Und sie sollen wirklich das nächste Reiseziel, Kharput, erreicht haben. Am 8., 9. und 18. Juli verliessen neue Scharen die Stadt, im Ganzen 20 - 25000 Personen .... Sehr bald hörten wir Gerüchte, dass Kurden die wehrlose Schar überfallen und vollständig ausgeraubt hätten. Die Wahrheit dieser Gerüchte wurde von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte uns unter Tränen, dass die Kurden die Frauen misshandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten .... Am 11. Juli wurden nun reguläre Truppen nachgeschickt, um ”die Kurden zu bestrafen”. Anstatt dessen haben sie - die Truppen - die ganze wehrlose Schar, die zum allergrössten Teile aus Frauen und Kindern bestand, niedergemacht. Aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, haben wir es hören können, wie die Frauen auf den Knien um Erbarmen gefleht und wie manche ihre Kinder selbst in den Fluss geworden haben. Auf unsere entsetzte Frage: ”Und ihr schiesst auf Frauen und Kinder?” kam die Antwort: ”Was sollen wir machen! Es ist ja Befehl.” Einer fügte hinzu: ”Es war ein Jammer mitanzusehen. Ich habe auch nicht geschossen ...” Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Ersingjan herum Menschenjagd gehalten, wo sich viele versteckt haben sollen ... Am Abend des 18. gingen wir mit unserem Freunde, Herrn G., vor unserem Haus auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, dass kaum zehn Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte nun in erschütternder Weise, wie es ihnen auf dem weiten Wege ergangen sei. Schlachtend, schlachtend, bringen sie sie daher. Jeden Tag sind 10 - 12 Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Den Kindern, die nicht mitkommen können, die Schädel eingeschlagen. Die Frauen beraubt und geschändet. Ich selber habe drei nackte Frauenleichen begraben lassen. Gott möge es mir zurechnen.” So schloss er seinen grauenerregenden Bericht .... Am folgenden Morgen in aller Frühe hörten wir, wie die Todgeweihten vorüberfuhren. Wir schlossen uns ihnen an und gingen mit ihnen zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es waren nur zwei Männer übrig geblieben. Von den Frauen waren einige geisteskrank geworden. Eine rief: ”Wir wollen Moslems werden, wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt, nur rettet uns! Jetzt bringen sie uns nach Kemagh und schneiden uns die Hälse ab ...” Auf dem Wege begegnete uns ein grosser Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in gutem Stande waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen: Einige wenige Männer, sonst Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und grossen blauen Augen, die uns so todernst und mit solch unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Himmelreichs. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Grossen, bis auf die uralten Frauen, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden von hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden. ”So macht man es jetzt”, erzählte uns ein griechischer Kutscher, ”und die Leichen sind ja auch flussabwärts gesehen worden”. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm sagte, er habe eben einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mama Chatun, zwei Tage von Erzerum, nach Kemagh gebracht. ”Alle weg”, sagte er. Wir: ”Wenn ihr sie töten wollt, warum tut ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum erst sie so namenlos elend machen?”... Er: ”So ist es recht; sie müssen elend werden. Und wo sollten wir mit den Leichen hin? Die würden ja stinken!”

Zwischen dem 10. und 30. Mai wurden weitere 1200 der angesehensten Armenier und andere Christen ohne Unterschied der Konfession aus den Vilajets Diarbekir und Mamuret-ul-Asis verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Tigrisboote verladen unter dem Vorwand, dass man sie nach Mossul bringen wollte. Den Transport führte der Adjutant des Walis mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abreise nahm man den Leuten alles Geld (etwa 6000 Lire) und die Kleider ab und warf sie dann in den Fluss. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, keinen entkommen zu lassen. Die Kleider der Leute wurden in D. auf dem Markte verkauft.

Im Vilajet Aleppo sind die Bewohner von Hadschin, Scheer, Albistan, Göksun, Tascholuk, Seitun, sämtlicher Alabaschdörfer, Geben, Schivilgi, Furnus und Nebendörfer, Fundatschak, Hassanbeli, Charne, Lappaschli, Dörtjol und anderer Orte ausgewiesen worden und wurden kolonnenweise in die Wüste geschickt unter dem Vorwande, sie sollten dort angesiedelt werden. Das Dorf Tel Armen (an der Bagdadbahn, nahe Mossul) mit Nebendörfern - zirka 5000 Einwohner - wurde bis auf wenige Frauen und Kinder massakriert. Man warf die Leute lebendig in die Brunnen oder verbrannte sie. Man sagt, die Armenier sollen zur Besiedelung der Ländereien 24 - 30 Kilometer abseits der Bagdadbahn dienen. Da aber nur Frauen und Kinder verbannt werden, da alle Männer, mit Ausnahme der alten, im Kriege sind, so ist das gleichbedeutend mit Mord der Familien, da keine Arbeitskräfte, kein Geld zur Urbarmachung des Landes vorhanden sind. Ein Deutscher begegnete einem ihm bekannten Soldaten, der auf Urlaub von Jerusalem kam. Der Mann irrte am Euphrat umher und suchte seine Frau und seine Kinder, die angeblich in jene Gegend verschickt waren. Solchen Unglücklichen begegnet man oft auch in Aleppo, da sie meinen, dort näheres über den Verbleib ihrer Angehörigen erfahren zu können. Es ist wiederholt vorgekommen, dass bei Abwesenheit eines Familiengliedes dieses bei seiner Rückkehr keinen der Seinigen wiederfand, da alles, alles weggetrieben war. Durch einen Monat hindurch beobachtete man fast täglich im Euphratstrom abwärts treibende Leichen, oft zwei bis sechs Personen zusammengebunden. Die männlichen Leichen sind zum Teil sehr verstümmelt (abgeschnittene Geschlechtsteile, usw.). Frauenleichen mit aufgeschlitzten Leibern. Der türkische Militär [Offizier] – Kaimakam in Djerabulus - am Euphrat weigert sich deswegen, die Leichen beerdigen zu lassen, da er bei den Männern nicht feststellen könne, ob es Mohammedaner oder Christen seien; im übrigen habe er auch keinen Auftrag. Die am Ufer angeschwemmten Leichen werden von Hunden und Geiern gefressen. Für dieses zahlreiche Augenzeugen (Deutsche). Ein Beamter der Bagdadbahn erzählte, dass in Diredjik tagaus tagein die Gefängnisse gefüllt und nächtlich entleert werden (Euphrat). Ein deutscher Rittmeister sah zwischen Diarbekir und Urfa unzählige unbeerdigte Leichen am Wege liegen.”


III

Auszug aus einem Brief vom 7. Juli 1916, (des Herrn Dr. Graeter), Lehrer an der deutschen Realschule in Aleppo (Türkisch-Kleinasien).

Und nun auf besonderen Wunsch von Frau A., erlaube ich mir Ihnen noch einiges über die Armeniergeschichten im Allgemeinen zu erzählen. Es handelt sich diesmal nicht um eines der traditionellen Massakers, sondern um nicht mehr und nicht weniger als um die Ausrottung des armenischen Volkes in der Türkei, wie die türkischen Beamten von Talaat Bey bis zum letzten Gendarmen hinunter mit dem grössten Zynismus, die deutschen Konsuln mit etwas Verlegenheit zugeben. Man gab zuerst an, man wolle bloss die Kriegszone säubern und den Auswanderern neue Wohnsitze anweisen, und begann mit den kriegslustigsten Gebirgsbewohnern, die man mit Hilfe der Versicherungen der türkischen Regierung, der eigenen Kirchenoberhäupter, der amerikanischen Missionare und eines deutschen Konsuls aus ihren Felsennestern herauslockte. Dann folgten Ausweisungen überallher, selbst aus Gegenden, in welche der Krieg nie hinkommen wird, und wie sie vorgenommen wurden, zeigt die Tatsache, dass von 18000 aus Charput und Siwas ausgewiesenen nur 350 in Aleppo ankamen, von 1900 aus Erserum 11 Personen. In Aleppo waren die ärmsten übrigens keineswegs am Ende ihrer Leiden. Wer hier nicht starb - die Friedhöfe sind überfüllt - der wurde nachher weitergetrieben nach der syrischen Steppe gegen Der Zor am Euphrat, wo ein geringer Prozentsatz sein Leben fristet, mit dem Hungertode ringt.

Ich berichte dies aus eigener Anschauung. Ich war im Oktober des letzten Jahres dort und sah viele Armenierleichen im Euphrat schwimmen, oder auf der Steppe liegen. Die Deutschen verhalten sich mit einer Anzahl von rühmlichen Ausnahmen passiv dazu, mit der Begründung ”wir brauchen eben die Türken!” Ich weiss auch, dass einem Angestellten der deutschen Baumwollgesellschaft und einem der Bagdadbahn von ihren Vorgesetzten verboten wurde, den Armeniern zu helfen, dass deutsche Offiziere sich über die Armenierfreundlichkeit des deutschen Konsuls beklagten, dass ein deutscher Lehrer an einer Schule der deutsch-türkischen Vereinigung, obschon sehr tüchtig, nicht angestellt wurde, weil er eine Armenierin zur Frau hat. Man fürchtet, die Türken könnten daran Anstoss nehmen. Die Türken sind weniger rücksichtsvoll.

”Es handelt sich um eine interne türkische Angelegenheit, wir dürfen uns nicht hineinmischen!” So hört man immer wieder. Aber als es sich darum handelte, die Armenier zur Nachgiebigkeit zu überreden, da mischte man sich doch drein. Und als die Armenier von Urfa, nachdem sie gesehen hatten, wie es ihren Volksgenossen aus anderen Gegenden ergangen war, sich weigerten ihre Stadt zu verlassen und Widerstand leisteten, da liess kein Geringerer als Graf Wolf von Wolfskehl die Stadt bombardieren, und nachdem 1000 männliche Armenier sich ergeben hatten, vermochte er es nicht zu verhindern, dass alle niedergemetzelt wurden.

Leider ist die Lage nicht so, dass man eine Besserung für die armenische Nation erhoffen kann. Allgemeine Teuerung, zunehmende Unzufriedenheit, das Näherkommen der Russen, das alles lässt keine gute Prognose zu. Einzig die Deutschen könnten etwas tun, jetzt wo sie so viele Truppen in der Türkei haben. Noch sind viele Armenier am Leben. Es gibt noch einige Waisenhäuser, welche die Türken noch nicht ausgeraubt haben, an der Bagdadbahn arbeiten noch einige Tausend Männer, Frauen und Kinder, die der türkischen Behörde ein Dorn im Auge sind. Sollen diese auch noch sterben oder im Islam aufgehen? Das ist die bange Frage, die jeder menschlich und christlich fühlende Mensch in der Türkei sich stellt.


[Antwort Stumm an Den Haag (No. 67) 26.2.]

Auf den Bericht A No. 436 vom 7. d.Mts.

Die Verfasser des Briefs an das AA. sind hier bekannt. Es sind die Herren Direktor Huber, Oberlehrer Dr. Niepage, Oberlehrer Dr. Graeter und Frau Spieker, sämtlich von der deutschen Realschule in Aleppo. Direktor Huber, Dr. Niepage und Frau Spieker sind Deutsche, Dr. Graeter ist Schweizer. Die Veröffentlichung des Briefes an das AA. ist auf Dr. Graeter zurückzuführen, der übrigens ebenso wie Dr. Niepage zur Zeit der Veröffentlichung sein Amt in Aleppo bereits niedergelegt hatte und sich nicht mehr in der Türkei aufhielt.

Wer die Vertreiber der Flugschrift sind, ist hier nicht bekannt. In Deutschland ist die Verbreitung dieser und ähnlicher Flugschriften verboten. Wahrscheinlich stammen sie aus der Schweiz. Es wäre mir interessant zu erfahren, ob etwa Dr. Lepsius in irgend einem Zusammenhange mit der Verbreitung der Flugschriften steht. Ew. pp. bitte ich, in dieser Richtung vorsichtige Erkundigungen einzuziehen und mir das Ergebnis mitzuteilen.


[Notiz Auswärtiges Amt 24.2.]


Ein „Brief“ oder „Bericht“ der vier deutschen Lehrkräfte in Aleppo an das Ausw. Amt ist bei III d nicht bekannt. Nr. I der Druckanlage ist vermutlich ein von feindlicher (?) Seite veranlaßter Auszug aus den Veröffentlichungen von Niepage und Lepsius.



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