1916-11-21-DE-002
Deutsch :: de
Home: www.armenocide.net
Link: http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1916-11-21-DE-002
Quelle: DE/PA-AA/R14094
Zentraljournal: 1916-A-31495
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 11/21/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger an den Legationsrat im Auswärtigen Amt Rosenberg

Schreiben



Berlin, den 21. November 1916
Sehr geehrter Herr Baron,

In der Anlage überreiche ich Ihnen die Uebersetzung eines Artikels aus dem Journal des Débats. Dieser Anlass würde geeignet sein, in der Frage des Erwerbs des Coenaculums einen ernsthaften Versuch zu machen. Ich habe ein Exemplar dieses Artikels an Herrn von Kühlmann gesandt.

Mit vorzüglicher Hochachtung


M. Erzberger

Anlage

Artikel aus dem „Journal des Débats“ vom 13.11.1916. Nr. 318.

Die deutsche Beteiligung am armenischen Blutbade.


Die armenischen Greuel sind häufig und ausführlich in Zeitungen und Broschüren besprochen worden. Man hat den Beweis für die Grausamkeit der Verfolger, für die von den Verfolgern entfaltete, wilde Gier eine unschuldige Rasse zu vernichten, erbracht. Dem Volke wurden Photographien verstümmelter Leichname, geplünderter Städte gezeigt; es konnte in den erschütternden Berichten über diese Karawanen des Elends und des Todeskampfes lesen dass die in’s Innere des Landes transportierten Armenier infolge Hungertodes, Erschöpfung, Krankheiten oder ganz einfach durch die Karabiner der ihnen das Geleit gebenden Kurden niedergestreckt, niemals ihr Reiseziel erreichen. Und die ganze Welt hat angesichts dieser quälenden Traumbilder, dem Schrecken der erwürgten Kinder und niedergemetzelten Frauen Entrüstungs- und Empörungsschreie über das türkische Volk und die ottomanische Regierung ausgestossen.

Aber über eins legt sich die europäische öffentliche Meinung – und ganz besonders die neutrale – keine Rechenschaft ab, dass Deutschland die Verantwortung für diese Hinmetzeleien trägt, die wie ein Opernmechanismus geregelt sind und die nicht einmal mit einem nationalen Aufstande oder mit einem dieser blutigen Stürme, die oftmals über Völker hinwegfegen, entschuldigt werden können.

Ein in Genf vom „Armenischen Hilfscomité 1915“ veröffentlichtes kleines Werk liefert zwei Dokumente, die den Beweis für die deutsche Beteiligung – in sittlicher und materieller Beziehung – anlässlich der Organisation der armenischen Greuel erbringen. Sie erregen ganz besonderes Interesse, weil sie alle Beide von, über die begangenen und von der deutschen Regierung gebilligten Verbrechen, entsetzten Deutschen redigiert sind.

Der Autor des ersteren ist Dr. Martin Niepage, Oberlehrer an der Realschule in Alep. Wir werden nur die wesentlichsten Stellen anführen. Nachdem er die Gewalts- und Todesszenen, deren Augenzeuge er war, beschrieben hat, gibt er den folgenden, von ihm an die deutsche Gesandtschaft in Konstantinopel gesandten Protest wieder:

„“Tu alim et aleman“ – „das ist die Lehre der Deutschen“, sagt der einfache Türke denjenigen, die ihn nach den Aufhetzern dieser Frevel fragen. Die gebildeteren Türken geben zu, dass, selbst wenn das deutsche Volk diese Grausamkeiten missbilligt, die deutsche Regierung doch, aus Rücksicht auf ihre türkischen Verbündeten nichts tut, um sie zu verhindern.

Sogar die zartbesaiteteren Muselmanen, Türken und Araber schütteln ihre Köpfe und können ihren Tränen nicht Einhalt gebieten, wenn sie einen, von türkischen Soldaten eskortierten Zug Verbannter durch die Stadt ziehen sehen und ansehen müssen, wie schwangere Frauen, Sterbende und Leute, die nicht mehr ausschreiten können, von den Soldaten geschlagen werden. Sie können nicht begreifen, dass ihre Regierung diese Grausamkeiten angeordnet hat und machen ausschliesslich die Deutschen dafür verantwortlich, die man während des Krieges für die Beherrscher der Türkei hält. Die Mullhas in den Moscheen behaupten, dass nicht die Pforte diese Grausamkeiten gegen die Armenier und deren Ausrottung angeordnet hat, sondern die deutschen Offiziere.

Die Szenen, die man hier seit Monaten erlebt, werden den orientalischen Völkern ewig eingeprägt bleiben und ein Schandfleck auf dem deutschen Wappen sein.

Wir wissen, dass die deutsche Botschaft in Konstantinopel durch ihre Konsuln über Alles unterrichtet ist. Da aber bis heute in dem Verbannungsverfahren keine Aenderung eingetreten ist, zwingt uns unser Gewissen diesen Bericht zu veröffentlichen.“

Der Verfasser des Berichtes gibt nicht zu, dass, selbst wenn die deutsche Regierung den festen Willen gehabt hat diese Massnahmen zu verhindern, sie nicht imstande gewesen wäre die türkische Regierung zur Vernunft zu bringen. „Wir werden nicht imstande sein“, ruft er aus, „die Türken von ihrer Ansicht abzubringen, dass Deutschland diese Niedermetzeleien organisiert hat, wenn unsere Diplomaten und Offiziere nicht energisch vorgehen werden. Und wenn man uns der Furcht oder Schwäche zieh, die uns daran hinderten ½ Millionen Frauen und Kinder zu retten, würde das allein schon genügen, dem Bilde des deutschen Krieges im Spiegel der Geschichte einen so fürchterlichen Stempel aufzudrücken, dass dieser es auf immer entstellen würde.“

Das zweite Kapitel des kleinen Werkes ist den Aufzeichnungen eines deutschen, in der Türkei gestorbenen Reisenden gewidmet, Aufzeichnungen, die der Entrüstung des Dr. Niepage Folge zu geben scheinen. Es genügt nur eine charakteristische Stelle aus ihnen zu zitieren, die sämtliche, bereits vorher festgestellten Beschuldigungen bestätigt – und ihnen als Schluss dienen kann:

Am 14. August wurden 24 Armenier in Marasch erschossen; unter ihnen befanden sich 2 zwölfjährige Kinder. Am 15. August wurden 24 erschossen und späterhin 14 erhängt. Die 24 Erschossenen waren durch eine schwere, um den Hals gelegte Kette miteinander verbunden und in einem Haufen aufgestellt. In Gegenwart der muselmanischen Bevölkerung wurden sie hinter dem amerikanischen Gymnasium hingerichtet. Ich habe mit eigenen Augen angesehen, wie die noch in Todeskämpfen sich windenden Leichname den Gewalttätigkeiten eines barbarischen Pöbels ausgeliefert wurden; man zog sie an Händen und Füssen und die Schutzleute und Gendarmen entluden, um die muselmanische Volksmenge zu belustigen, eine halbe Stunde lang ihre Revolver auf die fürchterlich verstümmelten Leichname. Hierauf begaben sich diese Leute vor das deutsche Hospital, „Jaschasin almanya“, „Hoch Deutschland“ schreiend. Muselmanen haben immer und immer wieder behauptet, dass nur Deutschland die Armenier auf diese Art und Weise vernichten liess.“

Es ist sehr schwer festzustellen, in wiefern diese Aussagen auf Wahrheit beruhen. Aber es bleibt immerhin erwiesen, dass sich die Deutschen selbst die Frage der Mitwisserschaft ihres Landes an diesen gemeinen Hinschlachtereien vorgelegt haben und dass für manche unter ihnen diese Mitwisserschaft eine entscheidende Rolle bei den armenischen Greueln gespielt hat.

J. – K.



Copyright © 1995-2024 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved