1919-08-22-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14106
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Daniels: Besprechung des Buches "Deutschland und Armenien"





Politik.1
Deutschland und Armenien. Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Herausgegeben und eingeleitet von Dr. Johannes Lepsius. 1919. Der Tempelverlag in Potsdam.

Der Verfasser stellt die furchtbare Verfolgung, der die türkischen Armenier während des Weltkrieges unterworfen gewesen sind, hauptsächlich auf Grund der Berichte der deutschen Konsuln in Anatolien dar. Daß das Berliner Archiv dem Dr. Lepsius für seine Zwecke geöffnet worden ist, hat einzelnen Preßorganen Veranlassung zu einer Polemik gegeben, der offenbar jede Berechtigung fehlt. Es ist in der Presse behauptet worden, die von Dr. Lepsius gegebene aktenmäßige Schilderung der an den Armeniern begangenen Greuel sei “ein Eselsfußtritt” gegen den sterbenden türkischen Löwen. Da wir seine Hilfe nicht mehr gebrauchen könnten, so sagten wir ihm alles erdenkliche Ueble nach.

Wie wenig derartige Gesinnungen in Wirklichkeit in unserer Regierung existieren, geht schon aus der Tatsache hervor, daß Graf Brockdorff-Rantzau, als er am 7. Mai die Ansprache Clemenceaus beantwortete, ausdrücklich betonte, daß die alliierten und assoziierten Mächte nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch bezüglich unserer früheren Bundesgenossen an Wil-sons vierzehn Punkte gebunden seien. Ferner enthalten die deutschen Gegenvorschläge verschiedene Stellen, aus denen hervorgeht, daß wir Wert darauf legen, die Beziehungen zu unseren gewesenen Alliierten wieder anzuknüpfen und zu pflegen. Nichts liegt den bei uns herrschenden Kreisen also ferner, als die Türken kränken oder verleugnen zu wollen.

Die Wahrheit über Armenien mußte aber von unserer Seite trotzdem gesagt werden. Die Entente beschuldigt die deutsche Orientpolitik, die Ausrottung der Armenier in strafbarer Weise begünstigt zu haben, mindestens durch Passivität, vielleicht sogar durch Connivenz. Den Vorwurf, diese Ruchlosigkeit begangen zu haben, durften die Deutschen nicht auf sich sitzen lassen. Keine Rücksicht fiel schwer genug ins Gewicht, um die deutschen Behörden dazu bestimmen zu können, daß sie einer kompetenten Autorität wie Lepsius das Material für seine vollkommen auf eigene Verantwortung hin durchgeführte Arbeit vorenthielten.

Gegenüber den kompromittierten türkischen Persönlichkeiten ist vonseiten dieses Schriftstellers mit fast durchgehender Vermeidung von Namensnennungen die größte Schonung geübt worden; in der Sache mußte strikteste Wahrheitsliebe der Leitstern sein.

Die Resultate, zu denen Lepsius gekommen ist, sind nun leider über alle Maßen traurig. Wenn ich in dieser Zeitschrift in meinen Uebersichten über die Kriegsliteratur auf die Armenierverfolgungen zu sprechen kam, habe ich immer die Ansicht vertreten, daß die türkischen Gewaltsamkeiten durch die rebellische Haltung des Armeniertums provoziert worden seien. Auch sträubte ich mich, an die ganze Scheußlichkeit der berichteten Greuel zu glauben. Ich gestehe offen, daß ich in beiden Punkten durch das Lepsiussche Buch widerlegt worden bin. Der Autor weist aktenmäßig nach, daß die Heere der Türkei in ihrem Kampfe gegen die Russen durch die armenischen Rajah in keiner Weise gefährdet worden sind. Was türkischerseits von Spionagefällen, Bombenfunden, Deserteurgeschichten, Verschwörungen, Aufständen und Verrätereien vorgebracht worden ist, hat sich durchweg als krasse Uebertreibung oder tendenziöse Erfindung erwiesen. Schon daß die Türken in den Grenzprovinzen die ganze armenische Bevölkerung männlichen Geschlechts vom Knaben- bis zum Greisenalter zum Militärdienst eingezogen hatten, genügte, um dem Armeniertum unmöglich zu machen, daß es für die militärischen Operationen der Russen zu einem kräftigen Vorspann wurde.

Wenn das Komitee für Einheit und Fortschritt trotzdem zur Ausrottung des armenischen Volkes geschritten ist - von 1800000 türkischen Armeniern sind nach Lepsius 1 1/4 Million, Männer, Frauen und Kinder, umgebracht oder gewaltsam zum Islam bekehrt worden - so war das Motiv für dieses Wüten nicht militärischer, sondern politischer Natur. Der Weltkrieg mit seinen Komplikationen erschien den Jungtürken als eine günstige Gelegenheit, um einen Programmpunkt auszuführen, den sie schon jahrelang vor dem Kriege auf einem Kongreß zu Saloniki fixiert hatten. Anatolien sollte türkisiert werden, coûte que coûte. Der nationalistische Fanatismus, obwohl an sich religiös indifferent, scheute auch vor dem härtesten Glaubensdruck nicht zurück, um sein Ziel zu erreichen. Zahlreiche Armenier jeden Alters und Geschlechts wurden nur am Leben gelassen, wenn sie den Islam annahmen. Zeit- und stellenweise war die Zahl der “bekehrten” Armenier so groß, daß die Beschneidung der Proselyten verschoben werden mußte; anscheinend weil es an Kultusbeamten fehlte, die für den Ritus vorgebildet waren.

Was nicht beschnitten oder niedergemetzelt oder in die Sklaverei verkauft wurde, das wurde “ausgesiedelt”, d.h. in die arabische Wüste getrieben, wo Mangel und Krankheiten das Gros der Unglücklichen vernichteten. Das Eigentum der Ausgesiedelten wurde liquidiert und für ein Ei und ein Butterbrot an Mitglieder und Günstlinge des Komitees verschleudert. Man schätzt den Wert des den Armeniern abgenommenen Besitzes auf eine Milliarde. Lepsius erblickt in der Raubsucht eine der stärksten Triebfedern des jungtürkischen Chauvinismus.

Vergebens wies die deutsche Botschaft am Goldenen Horn die Türken auf das Selbstmörderische ihrer Armenierpolitik hin. Waren doch die regsamen Armenier den Türken, wenn diese indolente Nationalität wirtschaftlich in die Höhe kommen wollte, unentbehrlich. Aber die Griechen waren in zivilisatorischer Hinsicht für Anatolien ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die Armenier, und doch züngelte die Flamme des türkischen Rassenhasses, durch die Leiber der geopferten Armenier genährt, auch schon nach den Hellenen hinüber, ebenso wie sie in Mesopotamien die Nestorianer und andere dort einheimische Christen zu verzehren drohte. Alles umsonst! Die Intervention der deutschen Botschafter wurde von den türkischen Machthabern schroff und hochmütig zurückgewiesen. Die Partei, auf die Enver und Talaat sich stützten, war so wahnwitzig intolerant, daß sogar jene beiden Ultras zuweilen nicht mitgehen wollten, aber sie waren die Führer und mußten also folgen.


[Daniels]

1Buchbesprechung in einer Zeitschrift auf Seite 126. Aus den Unterlagen geht nicht die Quelle hervor.



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