1916-01-03-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14090
Zentraljournal: 1916-A-02888
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 02/01/1916 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 16/K.No. 2
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/22/2012


Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 16 / K.No. 2
Aleppo, den 3. Januar 1916

2 Anl.

Euer Exzellenz überreiche ich gehorsamst in der Anlage die folgenden Nachrichten zur Armenierverschickung:

1) Abschrift eines Berichtes des Diakons Künzler aus Urfa über die dortigen Vorgänge seit Anfang August bis Anfang Dezember. Der Bericht wiederholt zwar zum Teil schon bekanntes, verdient aber doch eine Wiedergabe. Insbesondere ist daraus zu entnehmen dass zwischen 500 und 1000 Armenier bereits abgeschlachtet waren, ehe die Kämpfe Anfang Oktober begannen. Nämlich 100 in der Stadt, mehrere 100 eines Arbeiterbataillons im Norden der Stadt, und 400 eines Arbeiterbataillons im Süden der Stadt, abgesehen von den bereits vorher verschickten und auf dem Wege nach Diarbekr ermordeten. Neu ist auch, was er über das Geschick der Stadt nach ihrer militärischen Niederzwingung berichtet.

2) Abschrift eines Berichtes des Ingenieurs Bastendorff, der während der entscheidenden Ereignisse wochenlang in Ras ul Ain und Tell Abiad für den Bau der Bagdadbahn beschäftigt war und dessen Glaubwürdigkeit die allerbeste ist. Seine mündlichen Berichte waren noch viel erschütternder. Immerhin enthält auch der schriftliche Bericht Tatsachen genug, um einen Einblick zu gewähren in die bewusste und gewollte Vernichtung der Verschickten durch türkische Regierungsorgane. Die von den Armeniern immer wieder vorgebrachte Erzählung, dass die Züge der Verbannten absichtlich kreuz und quer geführt worden sind, um sie "zu Tode zu wandern" findet hier an einem Beispiel ihre Bestätigung. Ein Trupp Verschickter aus Urfa hat folgenden Weg zurücklegen müssen:

Von Urfa nach Tell-Abiad,
von Tell-Abiad nach Rakka,
von Rakka nach Tell-Abiad,
von Tell-Abiad nach Rakka.
Die Strecke von TellAbiad nach Rakka beträgt in der Luftlinie rund 90 km.

3) Die schon öfter gemeldete und soeben wieder bestätigte Tatsache dass Regierungsorgane die Bevölkerung zur Vertilgung der Armenier aufgefordert und ermutigt haben, kann dahin eingeschränkt werden, dass Djemal Pascha, der Höchstkommandierende der 4. Armee persönlich die Vernichtung der Armenier nicht gewollt hat. Sein Wille hat sie nicht aufzuhalten vermocht, aber es ist eine Erleichterung, in dem grauenhaften Bilde auch einmal einen versöhnlichen Zug entdecken zu können. Das Sammellager der Armenier in Islahiye ist 6 Wochen lang trotz der Verteidigung durch deutsche Ingenieure der Gegenstand zahlreicher Raubüberfälle durch Kurden gewesen, bei denen Frauen und Kinder abgeschlachtet wurden. Als Djemal Pascha durchkam und ihm darüber Vortrag gehalten wurde, stellte er seine 12 Leibgendarmen zur Verfügung, die sehr energisch gegen die Kurden vorgingen und einige gefangen einbrachten. Diese sind dann gehängt worden.

Wenn die Zustände im Bereich der 4. Armee, obwohl sie schlimm genug sind, doch nicht an diejenigen im Bereiche der 3. Armee heranreichen, so wird neben den durch die geographische und politische Lage sowie durch den verschiedenen Stand der Verkehrswege bedingten Unterschieden auch der Einfluss Djemal Paschas in Anschlag zu bringen sein.

4) Während ich früher wiederholt berichtet habe, dass Leichen der Armenier unbeerdigt geblieben sind und den Raubtieren zum Opfer fielen, kann nach neuerdings mir erstatteten mündlichen Berichten kein Zweifel mehr sein, dass auch noch lebende Armenier, die im Krankheits- und Erschöpfungszustande im Freien lagerten und um die sich niemand kümmerte, von Hunden angefressen worden sind.

Es liegt dafür das Zeugnis eines älteren deutschen Ingenieurs von unbedingter Zuverlässigkeit vor, der in Arab Punar stationiert, die Strecke zwischen dort und Harab Nass unter sich hatte. Die Beobachtung ist sowohl von ihm selbst, wie von seinen eingeborenen Angestellten gemacht worden. Sein Name steht auf Erfordern zur Verfügung.

Der Leichengeruch auf der Strecke zwischen diesen beiden Stationen war derartig stark, dass er sich mehrfach das Gesicht verbunden hat, wenn er sie zu Pferd zurückzulegen hatte.

Gleichen Bericht lasse ich der Kaiserlichen Botschaft zugehen.


Rößler
Anlage 1

Abschrift

Urfa, den 5. Dezember 1915.

Ich nehme an, dass Sie ueber die meisten hiesigen Vorgaenge seit August richtig unterrichtet sind. Dennoch moechte ich hier etwas wiederholen. Vielleicht, dass darunter doch noch etwas ist, was Sie nicht wissen.

Anfang August Ankunft zweier Bey's von Diarbekr. Gleich darauf begann der Zu-Tode-Transport, der schon lange gefangen gehaltenen Armenier, darunter also auch unser Apotheker Abraham. Am 15. August beginnt neue Suche nach jungen Armeniern, behufs angeblichen Soldatendienst. Am 19. wurde bei einer Hausdurchsuchung aus dem Hinterhalt ein Polizist niedergeschossen. Nachmittags 3 Uhr. Die uebrigen Polizisten springen weg ins moslemische Quartier und melden es der Obrigkeit. Chalil und Ahmed Bey, die oben Erwaehnten gaben Order zu einem Massakre. Bis zum Abend fielen zirka 100 Armenier. Anderen Tags werden ungefaehr 100 Armenier des Arbeiterbataillons 1 ½ Stunde noerdlich von Urfa abgeschlachtet. Anderen Tags 400 eines im Sueden arbeitenden Arbeiterbataillons. Seit dem 19. August Stille, aber die Armenier halten sich in ihren Haeusern versteckt. Am 29. September suchte die Polizei nach jungen Armeniern, welche nachts zuvor aus einem Hause Schuesse abgaben. Hierbei wurde wieder auf sie geschossen. Wer fliehen konnte floh. Auf dem Markte sich befindliche Armenier wurden abgeschlachtet, doch hatten sich seit dem 19. Auguste nur einzelne herausgewagt, auf den Markt etc. Schon am Abend war das armenische Viertel fuer Mohammedaner nicht mehr zugaenglich. Dann begann die Belagerung, welche ja fuer die Armenier schlecht enden musste. Am 16. Oktober die Uebergabe der meist an der Verschwoerung unbeteiligten Armenier, besonders Frauen und Kinder. Die uebergebenen Maenner wurden abgeschlachtet, auch einige gehaengt. Die Frauen und Kinder nach und nach nach dem Sueden verschickt. Die Suche nach dem Rest der Armenier, welche sich nicht ergaben, sondern sich in Brunnen etc. versteckt hielten, dauerte noch recht lange bis Mitte November.

Anfaenglich liess man an der Revolution unbeteiligte Baecker am Leben und in ihren Laeden arbeiten, aber am 20. November entfernte man auch diese, in dem man sie auf den Weg schickte und sie dann draussen abschlachtete.

Ein paar Armenier, die das zweifelhafte Metier hatten, den Tuerken die Wege zu den Verstecken zu zeigen, durften mit ihren Familien in Urfa bleiben. Auch Apotheker Karekin kann bleiben, aber jetzt werden diese Leute halb gezwungen Moslem zu werden. Unserem Apotheker wurde es heute nahegelegt, wenn er bleiben wolle, wenigstens einen moslemischen Namen anzunehmen. Wahrscheinlich wird auch unserem Arzt diese Sache nahegelegt.

Das voellig an der Revolution unbeteiligte einzige christliche Dorf Garmudj ist letzte Woche auch verschickt worden! Sehr traurig!

Oft denke ich, wenn nur jemand von uns nach Rakka, Der Zor etc. gehen koennte, um dem Rest Ueberlebender der Verschickten beizustehen. Allein ich bin sicher, die Regierung wuerde eine Huelfe unserseits nicht zulassen. So muessen wir denn das Volk mit seinen guten und boesen Seiten einfach untergehen lassen.


[Jakob Künzler]
Anlage 2

Abschrift:

Aleppo, den 18. Dezember 1915.

Herrn Konsul Roessler

Auf Ihren Wunsch hin unterbreite ich Ihnen einen kurzen Abriss dessen, was ich in Ras-el-Ain und Tell-Abiad ueber das Martyrium der Armenier beobachtet resp. aus zuverlaessigen direkten Quellen erfahren habe.

Meine Beobachtungen beginnen in Ras-el-Ain. Anfang Juni verbreiteten sich dort die ersten Nachrichten ueber die Massacres an der russischen und persischen Grenze. Bei der Ausloehnung der Arbeiter der Bagdadbahn am 12. Juni erschienen ploetzlich 6 Gendarmen und etwa 12 Tscherkessen, um saemtliche Armenier zum Kaimakam zu bringen. Auf meine Vorstellungen beim Kaimakam mit Fehmi Bey und Durri Bey, beide Angestellte der Bahn, erklaerte der Kaimakam, keinen Befehl zur Verhaftung der Armenier gegeben zu haben und hiess sie wieder zur Arbeit zurueckkehren. Vorher waren sie aber ausgepluendert worden. Von aelteren Gendarmen erfuhr ich spaeter, dass der Kaimakam an der Beute mitgeteilt hat. Da mir von verschiedenen Muselmanen aus Ras-el-Ain mitgeteilt wurde, dass eine Verhaftung der Armenier nochmals erfolgen wuerde, da der Kaimakam nur durch unsere energischen Einwendungen eingeschuechtert, selbe entlassen habe, und dass beim zweiten Male die Armenier dem Tode nicht entgehen wuerden, liess ich alle christlichen Arbeiter nach Urfa zurueckbringen.

Anfang Juli trafen die ersten Armeniertransporte von der Seite der russischen und persischen Grenze her ein. Es waren Frauen und Kinder, welche Kurden unterwegs ausgepluendert hatten und die gaenzlich ohne Mittel blieben, ohne Obdach wurden sie am See zusammengefuehrt. 6 Tage dauerte es bis die Regierung Lebensmittel heranschaffte. Taeglich trafen neue Transporte ein, so dass sich die Zahl der Emigranten in Ras-el-Ain auf ueber 10000 innerhalb kurzer Zeit erhoehte. Inzwischen begann die Weiterbefoerderung in der Richtung Der Zor. Die huebschsten Maedchen nahmen die Tscherkessen und Araber aus Ras-el-Ain zu sich nach Hause; viele waren schon unterwegs von den Kurden zurueckbehalten worden. Ein schwunghafter Maedchenhandel wurde durch die Gendarmen betrieben: gegen Zahlung von einigen Medjidies durfte jeder nach seinem Geschmack Maedchen oder Frauen fuer kurze Zeit oder fuer immer zu sich nehmen.

Der Aufseher ueber die Armenier in Ras-el-Ain, ein gewisser Nuri Schauch aeusserte unserem Arzt Dr. Farah gegenueber, dass er sich ein Vergnuegen daraus mache, armenische Maedchen unter 12 Jahren zu entjungfern.

Eine Szene, der ich im Bahnhof Ras-el-Ain beiwohnte muss ich erwaehnen. Ein Zug mit Soldaten kam an. Etwa 10 Mann waren sehr schlapp und krank. Ein armenischer Arzt, der selbe behandelte, erklaerte die Leute fuer uebermuedet, und dass es angebracht sei, die Kranken fuer eine Woche zur Erholung nach Aleppo zurueckzusenden. Dann kam ein tuerkischer Arzt, der schimpfte, die Kranken seien Faulenzer und dieser Armenier wolle den tuerkischen Staat ruinieren. Der Truppenkommandant bearbeitete dann den armenischen Arzt mit der Peitsche und hiess ihn fesseln und nach Aleppo zurueckbringen.

Im September kam ich nach Tell Abiad. Dort hatten die Soldaten der Bahnbewachung alle Armenier, die sich an der Bahn angesiedelt hatten, abgeschlachtet und ausgeraubt. Kurz vor meiner Ankunft hatte der Kaimakam etwa 3000 Frauen und Kinder, welche aus der Gegend von Amasia kamen in einem Han am Bahnhof untergebracht. Die Leute, welche 4 bis 5 Monate unterwegs waren, krankten an Hunger, Dyssentrie und Typhus. Weder Brot noch sonstiges Essen wurde vom Kaimakam verabreicht. Wer das Glueck hatte etwas Geld bei sich zu verbergen, so dass es unterwegs nicht geraubt wurde, hatte Gelegenheit in einem Backofen Brot zu kaufen; wem alle Barschaft geraubt wurde, war dem Hungertode geweiht. Etwa 1000 starben innerhalb eines Monats. Dieser Han bot das jammervollste Bild: alles ausgehungerte Gestalten, dem Tode nahe, die Erde voll von Menschenkot. Der Kaimakam aeusserte eines Tages: "mein Herz ist nicht so empfindlich wie das der Europaeer, ich kann gleichgueltig dem Sterben dieser Menschen zusehen."

Begreiflicherweise griff auch der Typhus in die Reihen der Bahnangestellten ueber und auf die Reklamationen der Eisenbahndirektion wurde der Han geraeumt und die Armenier wurden nach dem 5 Km entfernten Ain-el-Arus transportiert: ueber tausend waren derartig schwach, dass Wagen und Esel zum Transport requiriert werden mussten. In Ain-el-Arus sind dann auch diese Uebriggebliebenen gestorben.

Im November kamen die Frauentransporte von Urfa. Eine Frau die mich wiedererkannte bat mich ihre Kinder zu retten. Der Aufseher trieb sie zurueck und rief ihr zu: "Gerettet wird keiner, du wirst gehen bis du krepierst. Und wo du liegen bleibst, fressen dich die Hunde." Soldaten aus Hama, die diese Gruppe begleiteten verlangten vom Aufseher, dass er Brot heranschaffe, da die Frauen bereits zwei Tage unterwegs seien; er antwortete: "Krepieren sollen sie, zu essen gibt es nichts."

Diese Gruppe wurde nach mehrtaegigem Aufenthalt in Tell-Abiad und Ain-el-Arus, nach Rakka weitergesandt. Von Rakka wurden selbe nach Tell-Abiad zurueckgesandt, da sie angeblich nach Mossul weiter sollten. Von Tell Abiad wurden sie dann wieder nach Rakka zurueckgesandt. Inzwischen setzte nachts staerkere Kaelte ein, welche jedenfalls das noetige beitrug, ein nochmaliges Hin- und Hersenden zu eruebrigen.

Gegen 10000 Emigranten kamen im November und Anfang Dezember aus der Richtung Urfa im Tell Abiad durch. In einem Gespraech mit dem Streckenkommandanten Djemil Bey und einem Inspektor Mahmud Bey, frug unser Arzt Dr. Farah, wo man alle diese Armenier hintransportiere; Djemil Bey antwortete: "Nach Rakka". Mahmud Bey, der selbst die Art der Behandlung der Armenier missbilligte entgegnete: "Auf den Weg nach Rakka."

Alle Massnahmen die den Armeniern gegenueber getroffen wurden, was ich gesehen habe und beobachten konnte, gehen darauf hinaus, was mir der Direktor der Emigranten Schuekri Bey sagte: "Das Endresultat muss die Ausrottung der armenischen Rasse sein. Es ist der staendige Kampf zwischen Muselmanen und Armeniern, der jetzt definitiv ausgefochten wird. Der Schwaechere muss verschwinden."


[Bastendorff]



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