1916-02-25-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14090
Zentraljournal: 1916-A-05281
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Telegramm-Abgang: 02/25/1916
Praesentatsdatum: 02/26/1916
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger an das Auswärtige Amt

Bericht




Meine Anwesenheit in Konstantinopel gab mir Gelegenheit, mit allen massgebenden deutschen Persönlichkeiten daselbst zu sprechen, aber auch mit türkischen einflussreichen Politikern mich zu unterhalten, u.a. auch mit dem Kriegsminister Enver Pascha und dem Minister des Innern Talaat.

Von ganz verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ist das allgemeine Urteil in Konstantinopel, dass die Türkei derzeit der durch Deutschland galvanisierte Leichnam sei. Diese Meinung teilt man in der Botschaft und die meisten deutschen Offiziere und die Mehrzahl der in Konstantinopel lebenden deutschen Kaufleute sprechen sie aus. Ist schon diese Einmütigkeit, die man unter Deutschen im Ausland sonst selten findet, überraschend, so noch mehr die einheitliche Begründung. Der Gedankengang dieser Kreise ist im allgemeinen folgender:

Die Türkei hat uns während des Krieges nicht zu unterschätzende Dienste geleistet. Das derzeit am Ruder befindliche jungtürkische Kabinett kann sich auf keine feste Mehrheit im Volke, auch nicht auf eine solche im Parlament stützen. Das jungtürkische Komitee ist nicht nur nicht deutschfreundlich, sondern neigt nach Frankreich, was aus der gesamten Geistesauffassung und Geschichte der Jungtürken zu erklären ist. Deutschfreundlich sind nur der tatkräftige Enver Pascha, der sehr einflussreiche Talaat und der weniger einflussreiche Halil Bey. Kammerpräsident Hadji Ali Bey wird als ein starker Mann der Zukunft bezeichnet. Auf diese vier Männer stützt sich derzeit in Konstantinopel der gesamte deutsche Einfluss. Djehmal Pascha, der die Armee in Damaskus befehligt, kann, trotzdem er durch seine Stimmenabgabe den Krieg gegen die Entente mit herbeigeführt hat, nicht als zuverlässig deutschfreundlich bezeichnet werden. Die Alliierten, die derzeit wenig Einfluss haben, sind gleichfalls, wie die grosse Masse der Jungtürken in den Händen der Entente. Den massgebenden Jungtürken ist durch den militärischen Erfolg das Nationalbewusstsein sehr gestiegen, so dass sie eine völlig freie Türkei als einziges Kriegsziel bezeichnen, eine Forderung, die undurchführbar sein dürfte.

Der oesterreichische Botschafter Markgraf Pallavicini erklärte mir, dass es für die Zukunft der Türkei politisch nur zwei, praktisch nur einen Weg gäbe. Entweder die Türkei stelle sich unter die Führung der Mittelmächte und kann dann zu einem Dasein gebracht werden, das sich unter dem Schutz der Mittelmächte noch auf geraume Zeit erstrecken könnte. Dieses aber sei nur erreichbar unter kräftiger Führung der Zentralmächte. Die Jungtürken dagegen wünschen eine solche Führung nicht. Sie nehmen einige deutsche Berater in die Ministerien, nicht aber in die praktische Verwaltung, weil sie keine Fremden haben wollen.

Darum sei dieser erste Weg nicht gangbar und es bleibe nur der zweite übrig: Die Mittelmächte müssten sich über die Türkei mit den anderen kriegführenden Staaten verständigen. Der Krieg sei auf dem Balkan ausgebrochen, er sei wegen des Balkans ausgebrochen und werde daher auch auf dem Balkan enden. Er, (Markgraf Pallavicini) habe nahezu seine gesamte Laufbahn auf dem Balkan zugebracht, er sei früher ein Anhänger einer wieder zu erweckenden Türkei gewesen, müssen aber heute, nach allem, was er erlebt und gesehen habe, offen bekennen, dass er sich geirrt und dass sein früheres Programm nicht ausführbar erscheine. Der deutsche Botschafter Wolff-Metternich beurteilt die Sachlage ähnlich.

Mit dem Urteil der Diplomaten Hand in Hand geht das der deutschen Kaufleute, die teilweise dreissig Jahre und länger in Konstantinopel leben und die ihrerseits hervorheben, wie die Jungtürken darauf ausgehen, jeden nicht jungtürkischen Kaufmann von allen Staatslieferungen auszuschliessen und die ältesten Geschäftsbeziehungen abzubrechen. Wer von der deutschen Zukunftswirtschaft ”Berlin-Bagdad” spreche und hiervon für das deutsche Volk einen grossen Gewinn erhoffe, sei ein geradezu gemeingefährlicher Phantast. Die Türken nützten uns in diesem Kriege aus, wie es kaum ein zweites Mal in der Weltgeschichte dagewesen sei. Der stets sinkende Kurs unserer Mark sei dafür der beste Beweis. Völlig verkehrt wäre es, wenn man von deutscher Seite aus sich viel Mühe gäbe, den Türken nachzulaufen. Es sei nochmals betont, dass diese Ansicht übereinstimmend von den Diplomaten und Offizieren und den Kaufleuten geteilt wird.

Von allen Seiten wurde ich dringend gebeten, doch in Berlin darauf hinwirken zu wollen, dass keinerlei amtliche Empfehlungen des deutsch-türkischen Freundschaftshauses und Sammlungen hierfür stattfinden. Die ganze Idee dieses Freundschaftshauses sei verfehlt, es werde nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern unseren Interessen direkt schaden. Deutschland aber werde durch diese Idee und eine Reihe von phantastischen Broschüren in eine Art Taumel versetzt, wie man ihn in den Zeiten der Burenbegeisterung erlebt habe und dann sei der Katzenjammer umso grösser. Mehr als alle Worte spricht die Tatsache, die mir der Dragoman der deutschen Botschaft, welcher der Sekretär des deutsch-türkischen Freundschaftsbundes ist, unterbreitet hat. Er klagte darüber, dass kein einziger Kaufmann in Konstantinopel bereit sei, in das Komitee zur Errichtung dieses Freundschaftshauses einzutreten und sich bisher nur Geheimrat Göppert von der Botschaft auf deren Wunsch bereit erklärt hätte, dies zu tun. Meine Umfrage bei den deutschen Kaufleuten bestätigte diese Aeusserung mit dem Beifügen, dass sie sich auch künftig nicht bereit finden lassen würden, an der Ausführung eines solchen phantastischen Planes mitzuarbeiten, selbst wenn ihnen Orden in Aussicht gestellt würden. Es ist mir aufgefallen, wie nahezu übereinstimmend scharf auch die Propaganda des Herrn Professor Jäckh verurteilt worden ist und wie sogar von den Seiten, die dem Projekt des Herrn Professor Jäckh wohlwollend gegenüberstehen, gewünscht wurde, dass Professor Jäckh mehr zurücktreten soll. Das gesammelte Geld möge man lieber für Förderung der deutschen Schulen, für Unterstützung des deutschen Klubs usw. verwenden, dann werde es den deutschen Interessen mehr nützen, als durch die Herstellung eines Hauses in Stambul, das bei der ersten Schwenkung der türkischen Politik niedergebrannt und zertrümmert würde. Die Hereinziehung der Person Seiner Majestät in dieses Projekt haben alle Stimmen, die ich in Konstantinopel gehört habe, auf das Lebhafteste bedauert.

Als ein zweiter übereinstimmend geäusserter Wunsch ist anzuführen, dass möglichst wenig Leute während der Dauer des Krieges in die Türkei entsendet werden sollen. Soweit es Geschäftsleute sind, ist gar keine Aussicht vorhanden, dass die Wünsche derselben erfüllt werden können. Die betreffenden Persönlichkeiten sitzen dann Tage und Wochen lang in Konstantinopel, räsonnieren über alle Zustände, kehren unbefriedigt nach Deutschland zurück und verurteilen unsere Diplomatie. Auch mit der weiteren Entsendung von Offizieren sollte äusserst vorsichtig umgegangen werden, dasselbe gilt von den Kommissarien usw.

Dringend wünschenswert dagegen ist die Entsendung eines Finanzsachverständigen in die Botschaft nach Konstantinopel. Es soll aber kein Bankier oder Spekulant ausgesucht werden, sondern ein tüchtiger Finanzmann entweder aus dem Reichsschatzamt oder dem Finanzministerium oder der Reichsbank oder der Seehandlung oder der Preussen-Kasse. Fast jeder der Herren in der Botschaft hat mit Finanzsachen zu tun. Es ist ihnen damit eine Arbeitslast aufgebürdet, der sie unter den heutigen Verhältnissen nicht gewachsen sein können. Hauptaufgabe dieses Finanzsachverständigen ist es, an eine Regelung der Valutaverhältnisse heranzutreten. Die Verhältnisse sind auf diesem Gebiet unhaltbar geworden. Früher kostete ein türkisches Pfund Mark 18,48. Je grösser unsere Subsidien an die Türkei werden, desto weniger wird die Mark wert. Ich selbst zahlte für das Pfund Mark 24,50. Unsere Beamten, die aus Deutschland entsandten Arbeiter in den Munitionsfabriken und die Soldaten, die bei den Banken deutsches Geld umwechseln müssen, oder ihr deutsches Gehalt in türkischer Währung erhalten, verlieren ein Drittel davon. Ich habe Szenen erlebt, wie Landwehrmänner in den Banken fast weinten, als sie beim Umwechseln ein Drittel des Friedenswertes verloren. Die aus Deutschland entsandten Arbeiter in den Munitionsfabriken, denen man hohe Löhne in Aussicht stellte, leiden entsetzlich. Sie büssen zunächst ein Drittel ihres Lohnes infolge Kursverlustes ein, dann ein weiteres Drittel infolge der enormen Teuerung, welche alle Preise in Deutschland gewaltig übersteigt. Da die Türkei finanziell vollständig von Deutschland lebt, so muss sich hier eine Regelung finden lassen, wonach ein fester Kurs für die Mark einfach eingeführt wird, und zwar der Kurs, wie der zu Friedenszeiten üblich war. Es ist widersinnig, dass der Franken heute in der Türkei höher steht, als die Mark. Diese Aufgabe sollte baldmöglichst gelöst werden. Unter den bisherigen Kursverhältnissen haben am meisten gelitten neben Soldaten und Munitionsarbeitern die Beamten auf der Botschaft und in den Konsulaten. Ich halte es für ein Gebot der Gerechtigkeit, dass diesen Persönlichkeiten der durch den Kursverlust entstehende Ausfall aus der Reichskasse ersetzt wird. Sie sind dann infolge der enormen Teuerung immer noch schlechter daran, als ihre Landsleute in der Heimat.

Zur Beseitigung mancher Misshelligkeiten und Missverständnisse dürfte es auch beitragen, wenn dem Herrn Botschafter eine grössere Summe für die Einrichtung der Botschaft und unter der Verpflichtung der Verwendung zur Repräsentation zur Verfügung gestellt würde. Die vielfach hervorgetretene Behauptung, dass der deutsche Botschafter seiner Aufgabe nicht gewachsen sei, dass der den deutschen Interessen dort nur Schaden zufüge, halte ich für unbegründet. Graf Wolff-Metternich verfolgt in Konstantinopel die einzig mögliche Politik. Wenn man den Klagen im einzelnen nachgeht, so laufen sie in den verschiedensten Variationen immer und immer wohl darauf hinaus, dass der Botschafter nicht genügend an Repräsentationen leiste, dass er die Türken dadurch verletzt habe, dass er noch kein einziges Diner gab, während die massgebenden Türken (vielleicht auch viele Deutsche) nach einer solchen Einladung Verlangen zeigen. Dieser Uebelstand könnte durch 20 – 30000 Mark ausserordentliche Repräsentationsgelder Abhilfe beseitigt werden.

Ueber die Armenierfrage und einer Reihe die Christen berührende Fragen erlaube ich mir, einen besonderen Bericht zu erstatten. Für heute füge ich noch bei die Aufzeichnung, welche ich bei der Deutschen Botschaft in Konstantinopel aus meiner Unterredung mit zwei türkischen Ministern hinterlassen habe:

gez. Erzberger.”

Die Wünsche, wie sie mir von seiten des armenischen Patriarchates übermittelt worden sind und auf die ich in meinem späteren Bericht zurückzukommen gedenke, bestehen im wesentlichen darin:

1. Gestattung der Rückkehr der Bischöfe, Priester, Nonnen und Laien. (Adana, Angora, Cäsara).
2. Keine weiteren Ausweisungen aus Konstantinopel, Brussa, Aleppo und Marusch [Marasch].
3. Keine Zwangsbekehrungen.
4. Rettung der Waisenkinder.
5. Staatliche Hilfe für die Verbannten.
6. Anerkennung des Patriarchen.
Wenn ich die Gesamteindrücke meiner Reise in Konstantinopel zusammenfasse, so gehen sie dahin: Die Ansicht, dass die Türkei ein sicherer und starker Bundesgenosse für das Deutsche Reich dauernd bleiben werde, kann ich nicht teilen. Noch weniger für richtig halte ich die in Deutschland vielfach verbreitete Meinung, dass das türkische Reich in seiner heutigen Gestaltung einen grossen wirtschafts-politischen Faktor für Deutschland bilden werde. Die Türkei hat uns während dieses Krieges nicht unwesentliche Dienste geleistet. Wenn Deutschland dafür die Türkei territorial ungefährdet über diesen Krieg hinwegbringt, hat es diesen Dienst hinreichend gelohnt. Eine völlige Aufhebung der Kapitulationen halte ich angesichts der im Kriege begangenen Ausrottung der Armenier und der Verfolgung der Christen im türkischen Reich für unmöglich.

Berlin, den 25. Februar 1916


M. Erzberger
Mitglied des Reichstags



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