1909-06-19-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 13187
Zentraljournal: 1909-A-10765
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Praesentatsdatum: 06/25/1909 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 154
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Geschäftsträger der Botschaft Konstantinopel (Miquel) an den Reichskanzler (Bülow)

Bericht



Nr. 154
9 Anlagen [des deutschen Konsulats in Mersina]

Urschriftlich Seiner Durchlaucht dem Reichskanzler Fürsten von Bülow gehorsamst vorgelegt.


Miquel
[Anlage 1]

Kaiserlich Deutsches Konsulat

J.No. 403.


Mersina, den 7. Juni 1909

In der Anlage beehre ich mich, Euer Exzellenz eine Aufstellung der bei den Massakers im hiesigen Wilayet annähernd gefallenen Opfer gehorsamste einzureichen.

Nach dieser Aufstellung beträgt die Zahl der in Städten und Dörfern Getöteten beiläufig 15000. Es fehlen aber noch die Zahlen, der in den verschiedenen Tschiftliks getöteten Armenier, welche Aufstellung noch nicht fertig geworden ist. Man kann aber ganz gut annehmen, dass, die verschiedenen fernher zugekommenen Arbeiter inbegriffen, auf den verschiedenen Gehöften mindestens 3000 Personen getötet wurden, sodass der gesamte Menschenverlust im Wilajet Adana ganz gut auf rund 18000 geschätzt werden kann.

Leute wie Ferid Pascha, mit einem so klaren Kopfe, haben in Konstantinopel Zeitungsredakteuren gegenüber in Interviews ihre Verwunderung ausgedrückt, wie man von 20000 Opfern der Armenier sprechen könne, nachdem es nach den offiziellen statistischen Angaben, überhaupt nur 30000 Armenier im ganzen Wilajet gegeben habe. Das beweist, trotzdem er Grossvezier gewesen und jetziger Minister des Innern ist, dass er keine Ahnung davon hat, welchen Wert die statistischen Angaben der Provinzialbehörden haben.

Im Salmane des Wilayets Adana vom Jahr 1319 [entsprechend 1903] - seitdem ist kein neues Jahrbuch erschienen - beträgt die armenischen Bevölkerung männlichen Geschlechts 17381, weiblichen Geschlechts 17010, also zusammen 34391, während in der Stadt Adana allein über 20000 ansässig waren, wovon 15000 gerettet (8000 in der Fabrik Tripani, ungefähr 4000 in der Deutsch-Levantinischen Baumwollg. und 3000 bei den Jesuiten und Schwestern) und im ganzen Wilayet über 100000 Armenier existierten. Das armenische Hilfskomitee hat telegraphiert, dass ungefähr 90000 Armenier notleidend seien, und wenn selbst die im Wilajet Aleppo bei Alexandrette und Lattaquié mit abgerechnet werden, so kommen auf das Wilajet Adana allein immer noch 75000 notleidende Armenier. Diese Zahlen zeigen klar und deutlich, wie wenig zuverlässig die offiziellen Angaben sind.

Meinem Berichte unter J.No. 402, den ich die Ehre hatte, Euer Exzellenz unter dem 5 d.M. zu schicken, sind folgende Angaben noch vorauszuschicken:

Nach Dörtyol, ein Dorf nahe bei Payas im Golf von Alexandrette gelegen, das eine grosse Citronen- und Orangenkultur hat (jährlicher Export ungefähr 300000 Kisten) und wo sich ungefähr 4000 Armenier mit dieser Kultur befassen, hatten sich viele Armenier aus den umliegenden Dörfern geflüchtet, sodass sich schliesslich 12000 Seelen dort befanden. Diese wurden von Tscherkessen, Kurden und den Bauern der umliegenden Dörfer angegriffen, konnten sich aber infolge der günstigen Lage der Ortschaft verteidigen, sodass die Angreifer nichts ausrichten konnten. Die Mordbrenner zogen sich hierauf zurück, begaben sich nach dem Zuchthause in Payas, wo sie die Verbrecher befreiten in der Absicht, sie gegen die Armenier in Dörtyol zu verwenden, zu welchem Zwecke sie sie auch bewaffnen wollten. Unter den Gefangenen befanden sich auch Christen. Die Wache haltenden Gendarmen hatten nur scheinbaren Widerstand geleistet, aber ein Gendarm, der sich ernstlich widersetzte, wurde getötet. Die armenischen Sträflinge wurden alle getötet, die andern Christen, auch einige Griechen darunter, die man auf freien Fuß gesetzt hatte, liefen davon, weil sie nicht gegen Christen vorgehen wollten. Am fünften Tage schnitten die Mordbrenner auch das Wasser ab, sodass die Leute im Dorfe nur noch Sumpfwasser und Orangensaft nehmen konnten. Trotzdem konnte sich der Ort halten, bis er endlich durch die fremden Kriegsschiffe unter Mitwirkung der Konsuln von Alexandrette und des inzwischen angekommenen regulären Militärs, gerettet wurde, worauf sich die Mordbrenner zerstreuten und zurückzogen.


Christmann
[Anlage 2]

Annähernde Aufstellung der im Adana Wilajet getöteten Armenier. April-Mai 1909.

OrtZahl der Opfer
Bemerkungen
Adana Stadt
5500
darunter viele Arbeiter die aus anderen Gegenden, zur Ernte gekommen waren
Christian Keuy und Indschirlik
500
Organisator der Massaker Abdul Chaloglu.
Scheich Murad
150
Kayerli
70
Die Angreifer waren die Bauern aus der Umgebung unter Führung des Eminenioglu Keur-Ali und Dourmusch.
Heymandar
30
Tanre Verdi
100
Missis
800
Organisator und Mörder Kolagasi Ahmed Bey aus Araboglu, ferner Kibarin Oglu (terrible)
Abdoglu
440
Hamidie
500
Zeugen: Ingenieure der Bagdadbahn
Nadscharli
500
Osmanie
650
Yarpuz
200
Kaypak
30
Kischness
150
Ekbez
400
Egri-Budschak
60
Hadschilar
50
Kuredschi mit Demrek
50
Islahie mit Teyek
100
Kaya-Baschi
30
Keller
200
Entilli
150
Kemesse
80
Pascha Tschiftlik
20
Bostan Tschiftlik
40
Bagtsche (Bulanik)
730
Zeugen: Ingenieure der Bagdadbahn
Kuschdschi Mustafa
80
Kisladschi
60
Hassan Beyli
400
Sarranli
30
Lapadschili
300
Kharni
350
Geuck-Tschayr
140
Kurtlar
50
Merdschimek
200
Kapuli
50
Karatasch
200
Akbenli
60
Ayas
80
Narkulak
20
Kilissa-keui
100
Aghzi-Bojuk
30
Kilawur
30
Sakisli
130
Dschamili
30
Sazak
50
Akardscha
300
Hadschin
15
Yerdelen
50
Erzin
20
Tarsus
100
Kozoluk
400
Tomuk
20
Euzerli-Ovakli
200
Eloglu
60
Jahuetschi
80
Zusammen
15165
für das Vilajet Adana
Die im Wilajet Aleppo (in Antiochien, Kessab, Kirik-Han, Beylan usw. getöteten Armenier werden auf mindestens 2000 geschätzt;


[Anlage 3]
Mersina den 7.6.1909

J.No. 418.

In Anbetracht des Umstandes, dass Konstantinopler Zeitungen, auch der ”Tanin”, das Organ der gegenwärtigen Regierung, sich nicht schämen, die von europäischen Zeitungen gebrachten Berichte über die Begebenheiten in Adana als übertrieben hinzustellen und ausserdem noch behaupten, was die offiziellen Lügen sagen, nämlich dass mehr Armenier als Türken getötet worden seien, sollte man doch, der Wahrheit zuliebe, dagegen protestieren, denn es wäre doch gerade höchste Zeit, dass dieses Lügensystem einmal ein Ende nimmt.

Nachdem ich inzwischen genügend Gelegenheit hatte, mit vielen Personen, Christen und Türken, alt und jung, in Adana Rücksprache zu nehmen, erlaube ich mir, Euer Exzellenz folgende Erklärungen zu machen.

1) Ein Aufstand seitens der Armenier hat nicht stattgefunden; auch das mehr oder weniger provozierende Auftreten der Armenier hat keinen Anlass zu den Metzeleien gegeben.

2) Grösstenteils in Adana selbst ist auf Anregung der Regierung aus Konstantinopel ein Anschlag auf die Armenier beschlossen worden, zu dem die Behörden bereitwilligst ihre Hände reichten; handelte es sich dabei doch um ein geplantes, vorbereitetes Abschlachten, nicht nur der Armenier allein, sondern aller Christen, die Europäer nicht ausgenommen; am 2. Tage aber kam ein Befehl, aus Konstantinopel, das Abschlachten auf die Armenier zu beschränken.

3) In Adana haben sich nicht allein rein reaktionäre Elemente an den Massakers beteiligt, sondern auch solche, welche allgemein als Jungtürken betrachtet wurden; so ist einer der Genossen, den man mit als Uranstifter ansieht, Eschref Bey, Präsident des freisinnigen Klubs, Ihsan Effendi, Eigentümer, Herausgeber und Redakteur der berüchtigten Zeitung „Itidal“, beide hervorragende Mitglieder des Komitee „Union et Progrès“. Abdul Rahman Effendi Bagdadli Sadé und fast alle anderen der Uranstifter sind Mitglieder des Komitee „Union et Progrès“.

4) Man gab sich allgemein der Hoffnung hin, dass die aus Konstantinopel angekommene Militärkommission ernst und gerecht vorgehen werde, was bei einigem guten Willen ja auch nur zu leicht wäre, über den wirklichen Sachverhalt genaue Aufklärungen zu erhalten. Anstatt dessen aber hat diese Kommission gleich von allem Anfang an eine gewissermassen feindselige Stellung gegen die Christen eingenommen, nur Christen einstecken lassen und die von denselben abgegebenen Erklärungen einfach als Verleumdungen hingestellt und gar keine Notiz davon genommen.

Ganz natürlicherweise mussten die übrigen Christen das Zutrauen zu dieser Kommission verlieren und wagten es, schon aus Furcht, die Lage dadurch nur noch zu verschlimmern, nicht mehr, weitere Erklärungen abzugeben. Die Mehrzahl der eingesteckten Christen gehört den besseren Klassen an; nachträglich fing die Kommission an, auch Türken einzustecken, aber nur solche aus den niedersten Schichten der Bevölkerung, die schliesslich doch weiter nichts als Instrumente in den Händen der allgemein bekannten Uranstifter, die man nicht nur frei herumlaufen lässt, sondern auch noch zu Mitgliedern der verschiedenen Hilfsorganisationen ernannt hat, wären.

Die Armenier klagt man an, geschossen zu haben, während es der Kommission doch ein leichtes gewesen wäre, festzustellen, dass die Armenier nirgends angegriffen haben, sie haben sich immer nur in Notwehr verteidigt und ihnen das Recht der Verteidigung noch absprechen zu wollen, ist eine Handlung, der man die Militärkommission nicht für fähig hielt. Das ist ein Hohn auf alle Gerechtigkeit, wo Europa nicht ruhig zusehen sollte, denn gerade darin liegt eine grosse Gefahr für die Zukunft. An jedem Armenier, den man hinrichten würde, weil er sich bloss verteidigt hatte, würde man Meuchelmord begehen.

5) Alle die in inländischen Zeitungen erschienen öffentlichen Berichte sowohl Djevad Bey’s als auch des jetzigen Walis, bezeichne ich als absolut unwahr.

Die Lage in Adana ist noch lange nicht geklärt und die reaktionäre Partei fühlt sich noch stark genug, um mit Drehungen zu kommen und die Arbeiten der Militärkommission zu erschweren.


Christmann


[Anlage 4]
Mersina, den 9. Juni 1909

J.N. 423

4 Anlagen [Anlage 5 bis 8]

Euer Excellenz beehre ich mich anliegend Abschriften der von Ingenieuren der Bagdadbahn Studie beim Konsulat niedergelegten Beschreibung ihrer Erlebnisse, gehorsamst einzureichen, nämlich:

1. Bericht des Regierungsbauführers Reichard und des Ingenieurs Toll, über die Metzeleien in Bagtsche.

2. Bericht der Ingenieure Heybusch und Wüst, über die Vorfälle in Missis.

3. Bericht der Ingenieure Culemeyer und Stutz über die Ereignisse in Adana.

4. Bericht des Brigadechef Hans Ertl, ebenfalls über die Ereignisse in Adana.

Ich kann nicht umhin gehorsamst zu bemerken, dass mit der einzigen Ausnahmen des unter 4. angeführten Berichtes, alle anderen Berichterstatter von den Bemühungen des Konsulats-Dragoman Tzivoglu keine Erwähnung machen, währenddem es allgemein bekannt ist, dass Dragoman sich hervorragend ausgezeichnet hat und, dass er nach der Verwundung des englischen Vizekonsuls Major Doughty-Wylie, allein und mit offenbarer Gefahr seines Lebens das Rettungswerk fortsetzte; Dragoman Tzivoglu hat tausende von menschlichen Geschöpfen in Sicherheit gebracht und tatsächlich das Leben gerettet; es ist ausschliesslich sein Verdienst, dass Militär nach Bagtsche geschickt wurde und die dort befindlichen Deutschen nach Adana kommen konnten. Die Kommandanten von S.M.S. Hamburg und Lübeck hatten Gelegenheit in Adana sich von der Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen und haben, ich glaube, auch eine Belohnung für Dragoman Tzivoglu angeregt. Ich wage auch den Dragoman dem Wohlwollen Euer Excellenz, gehorsamst zu empfehlen.

Das im Bericht unter 2. dem türkischen Major Lutfi Bey gespendete Lob ist wohlverdient; solange dieser Offizier in Missis weilte ist die Ruhe nicht gestört worden, als er weggehen musste fing die Metzelei der Armenier an; eine Art Trost wird uns gegeben dadurch, dass Lutfi Bey den bedeutend wichtigeren und grösseren Ort Hadschin hat retten können, denn da in Hadschin hätten 5000 Menschen das Leben verlieren können.


Christmann
[Anlage 5]

Bericht über die Armenier-Massaker in Bagtsche im April 1909.


Am 15.4.09 zeigten sich auf den Bagtsche umgebenden Bergen, besonders in der Richtung von Djumarfagli grössere Ansammlungen von Gebirgsbewohnern, die offensichtlich in böser Absicht gekommen waren. Der Brigadechef, Herr von Brehm, sowie der kaufmännische Beamte der Firma, Herr Küchler, begaben sich zum Kaimakam, um diesen über die Ursache dieser Vorgänge zu befragen. Die Erklärung des Kaimakam, dass nichts sei, beruhigte uns. Gegen Abend jedoch liess uns der Kaimakam sagen, die Lage sei ernst, wir möchten beisammen bleiben, vom Wali in Adana sei Nachricht gekommen, dass daselbst Unruhen ausgebrochen wären und der Kaimakam selbst für die Sicherheit der Fremden haftbar sei, von seiten des Wali könne auf Hilfe nicht gerechnet werden. Nach Empfang dieser Nachricht beschlossen wir, die Nacht gemeinsam im Hause des Ob. Ingenieur Winkler zur Beruhigung der Tochter und der beiden Schwägerinnen des Ob-Ingenieurs zu verbringen.

16.4. Die Nacht verlief ruhig und morgens gegen 5 Uhr begaben sich einige Herren nach ihrer Wohnung um zu schlafen. Eben dort angekommen, erhob sich ein Geschrei, Gejöhle und Gebrüll und es begann eine wüste Knallerei. Schleunigst gingen wir zum Hause Winkler zurück. Da inzwischen bereits der Sturm auf ein armenisches Haus am Südrande der Stadt erfolgte, mussten wir, um der Rotte auszuweichen, uns nach der Nordseite der Stadt flüchten, um unsern Weg dort fortsetzen zu können. Unterwegs wurden wir von einer bewaffneten Rotte angefallen, der vorderste erhob die Axt gegen Herrn Toll, während die übrigen die Gewehre auf uns in Anschlag brachten und mit Beilen und Knüppeln auf uns eindrangen. Herr Toll sagte mit ruhiger Stimme, man dürfte uns nicht angreifen, wir seien Fremde, worauf ein Türke, der uns anscheinend kannte, uns freien Durchgang verschaffte. Dieser Vorgang war äusserst kritisch, denn ein Schuss von uns und aller Schicksal war besiegelt. Bei unserer Ankunft im Hause Winkler tobte der Kampf in der Nachbarschaft bereits mit grösster Heftigkeit. Zu unserem Schutze stand uns der Tscherkesse Hassan Bey aus der dortigen Regie sowie unsere türkischen Diener Ali und Ismael zur Verfügung. Das Gemetzel nahm seinen Lauf, in kürzester Zeit brannte Bagtsche an allen Ecken und Enden. Mit grösster Mühe nur, gelang es der Dienerschaft und den Türkisch sprechenden Herren, die Banden vom Angriff auf unser Haus abzuhalten. Dass dies dennoch schliesslich gelang, lässt den Schluss auf einen wohl durchdachten Plan der ganzen Bewegung zu; zu dieser Annahme trägt ferner der Umstand bei, dass Frauen und Kinder, bis auf vereinzelte Ausnahmen geschont wurden. Die Männer jedoch, davon waren wir Augenzeugen, wurden mit grausamster Gewissenhaftigkeit zu Tode gebracht.

Auf unser dringendes und wiederholtes Ersuchen beim Kaimakam trafen zu unserem Schutze 1 türkischer Landwehrhauptmann und 2 Gendarmen ein. Der Hauptmann, Hadji Ressid bin Ali und die beiden Gendarmen haben mit grösster Aufmerksamkeit und Aufopferung Tag und Nacht den Sicherheitsdienst versehen, wobei auch der von sämtlichen Herren mit versehene und militärisch eingerichtete Wachdienst sich auf’s beste bewährte. Der Himmel war dem Unternehmen der Türken günstig, denn es blies ein heftiger Wind, welcher uns durch den mitgeführten Rauch Tag und Nacht Atem und Aussicht nahm und uns unsere Aufgabe sehr erschwerte, die 4 umliegenden Häuser gegen Feuer zuschützen, denn, wären diese, auf der Windseite liegenden Häuser von den Flammen ergriffen, dann wäre unser Haus nicht zu retten gewesen.

17.4. Gegen Mittag kamen zu Fuss von Osmanié etwa 30 mit Militärgewehren bewaffnete Reservisten, welche zu unserem Schutze vom Wali entsandt waren. Von dem Major aus Osmanié erhielten sie jedoch mitsamt unserm Hauptmann den Auftrag, sich unverzüglich nach Hassan Beyley zu begeben, um bei den dortigen Metzeleien verwendet zu werden. Durch diese Massnahme des Majors von Osmanié waren wir wieder auf unsern eigenen Schutz angewiesen, derselbe Herr hat sich später uns gegenüber gerühmt, dass durch seine „Tatkraft“ in Osmanié kein Armenier mehr am Leben wäre. Es mag hier darauf hingewiesen werden, dass das Militär durchweg mit den Aufrührern fraternisierte.

Durch den Abzug der Mordbande nach Hassan Beyley bekamen wir etwas Luft. Gegen Abend brannte auch Hassan Beyley, jenes auf Verteidigung eingerichtete von ca. 600 wohlbewaffneten Familien bewohnte Armenierdorf. Der armenischen Mannschaft von Hassan Beyley gelang es jedoch, durchzubrechen, ein Teil von ihnen zog sich östlich, der andere Teil westlich zurück. Jetzt wurde die Lage noch kritischer, da nach Aussage des Kaimakams die rachedürstigen Armenier bei einem Angriff auf Bagtsche auch die deutsche Flagge wohl kaum respektiert hätten.

Auch die türkischen Banden wurden immer direktionsloser, wie aus den Erzählungen unseres griechischen Arztes, der am vorigen Tage zu uns gestossen war, hervorging. In dessen Haus waren die Bürgermeister von Djumafakli und Kizlatsch mit bewaffneten Banden eingedrungen, haben dort die Zimmer nach Armeniern durchsucht und gestohlen, was zu stehlen war. Nach ihrer Aussage hatten sie Befehl, die Fremden zu schonen, gaben aber die tröstliche Versicherung, dass sie auch einen entgegengesetzten Befehl gewissenhaft befolgen würden. Der Arzt musste ihnen vier Armenier ausliefern, denen ihr Leben garantiert wurde; diese Leute wurden vor dem Hause des Doktors ohne weiteres ermordet. Der Neffe des Mufti von Bagtsche, des einflussreichsten Mannes der Stadt, kam mit einer bewaffneten Bande, um den Direktor der Tabakregie zu suchen, der mit ihm und dem Mufti verfeindet ist. Sie fanden hierbei 3 Armenier, welche ermordet wurden; nachher kamen nochmals die beiden oben erwähnten Bürgermeister und erschlugen weitere 5 Armenier, welche sich inzwischen zum Arzt geflüchtet hatten. Die Familie des Mufti von Bagtsche, der mit einem Wort das ganze Blutvergiessen hätte verhindern können, zeigte gegen uns eine äusserst feindselige Haltung; so kam der Bruder des Mufti, Jussuf, mehrfach in unser Haus, um nach versteckten Armeniern zu suchen, was wir natürlich nicht gestatteten; noch bei unserer Abreise drohte er uns, den Regiedirektor Nadjear, einen Araber, aus unserm Zuge herauszuschiessen, musste es jedoch infolge unseres energischen Hinweises auf die Karabiner unserer Tscherkessen bei der Drohung bewenden lassen.

In Bagtsche herrschte völlige Anarchie, der Kaimakam war gänzlich machtlos und in den Händen des Mufti, aus unserem Haus wurden unter Gendarmeriebedeckung der armenische Priester und ein anderer Armenier auf dringendes Verlangen des Kaimakams herausgebracht und trotz Zusicherung des freien Geleites erschlagen. Der Kaimakam erklärte, es stünde zwar nicht in seiner Macht, uns schützen zu können, jedoch über seine Leiche führe der Weg der Mordbanden zu uns.

18.4. Die Nacht und der Vormittag vergingen mit ernsten Beratungen. Da wir uns des Ernstes der Lage voll bewusst waren, wurde jede Meinung gehört, denn es stand nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das von Damen und Kindern auf dem Spiele. Am späten Nachmittag trafen 10 Mann Infanterie, berittene, von dem Sultan Tschiftlik bei Hamidié mit der Weisung ein, sofort am nächsten Morgen mit uns abzureisen. Der Kaimakam widerriet uns die Abreise mit dem Hinweis, dass er selbst bei 4 mal so starken Bedeckung keine Garantie übernehmen könne. So sassen wir denn schutzlos in der Mörderstadt. Wie wir erfuhren, hat der Kaimakam 7 mal an einem Tage seinen ganzen Einfluss aufbieten müssen, um einen Sturm auf unser Haus abzuwenden.

19.4. Inzwischen hatte der Telegraf seine Schuldigkeit getan. Obgleich die meisten Depeschen über unsere Notlage unterschlagen oder verstümmelt wurden, war unsere Lage in Adana dennoch nicht unbekannt geblieben und der dortige Vertreter der Firma, Herr Kozlowski, sandte uns 10 Tscherkessen. Das Eintreffen dieser rauhen Gesellen, welche gut bewaffnet und discipliniert waren, flösste uns Vertrauen ein. Mittags brachte der Kaimakam seine Frau in unser Haus, da er sich in seinem eigenen Hause nicht sicher fühlte, der Einfluss des Mufti veranlasste jedoch den Kaimakam, seine Frau gegen Abend wieder zurückzuholen. Dieser Vorgang bestärkte uns in unserer Ansicht, dass wir Bagtsche so schnell wie möglich verlassen müssten, da die Situation immer gefährlicher wurde; der Mufti selbst gab an, uns nicht gegen die aufgeregten Volksmasse schützen zu können. Nunmehr beschlossen wir bestimmt, am nächsten Morgen abzureisen und der Mufti versprach uns, genügend Tiere zu verschaffen. Gleichzeitig schlossen wir mit dem Mufti, da der Kaimakam sich für die Einhaltung eines Vertrages ausser Stande erklärte, ein Abkommen zwecks Bewachung der von uns zu verlassenden Häuser ab.

20.4. Morgens gegen 7 Uhr verliessen wir Bagtsche unter Zurücklassung aller Instrumente, Kleidungstücke und sonstiger Ausrüstung. Das Wohnhaus der 1. Brigade war mitsamt seinem ganzen Inhalte ein Raub der Plünderer und Flammen geworden.

Unser Weg nach Adana, der einen 3tägigen Dauerritt bedeute, zeigte uns die Grösse des über Südanatolien hereingebrochenen Schreckens. Ueberall auf und am Wege und in den Feldern lagen unzählige, schrecklich verstümmelte, verwesende Leichen und Brandruinen sowie an den Leichen fressende Aasgeier und Hunde zeigten die Spur der schrecklichen Würger. In den Flüssen Djihan und Seihun schwammen Dutzende von Leichen dem Meere zu, aber das Meer speit die schreckliche Beute wieder aus und tage lang noch schwimmen am Strande bei Mersina die stummen Zeugen menschlicher Bestialität.

Aber es waren nicht nur Tage des Schreckens, welche wir in Bagtsche verlebten, sonders es bot sich auch Gelegenheit zu wohltätigen Handlungen gegen die armen Waisen und Witwen. Besonderer Dank gebührt unsern deutschen Damen, welche mit unermüdlicher Arbeitsfreudigkeit das schwere Amt der Verpflegung von uns und vielen armenischen Flüchtlingen, Männern, Weibern und Kindern, ausübten. Auch dem Gesellschaftsarzt bot sich wieder Gelegenheit, seine Kunst an den Verwundeten in und ausser dem Hause zu beweisen, was umso schwerer war, als ihm seine Instrumente geraubt waren.

Mersina, den 25 April 1909

gez. Reichard, Regierungsbauführer.

gez. Toll, Ingenieur.


[Anlage 6]

Bericht der Ingenieure der Bagdadbahn Emil Heubusch und Werner Wüst


Wir befanden uns seit Ende Oktober 1908 in Missis zwecks Tracierung der Teilstrecke Adana-Missis der Bagdadbahn.

Am Nachmittag des 14. April 1909 machte uns Herr Major Lutfi in Missis, mit dem wir uns durch häufige Besuche angefreundet hatten, die Mitteilung, dass in Adana ernste Unruhen ausgebrochen seien. Da er befürchtete, dass sich der Aufstand auch auf Missis ausdehnen werde, übermittelte er uns in liebenswürdigster Weise zu unserem Schutze einstweilen 3 Militärgewehre mit Munition.

Bei Beginn des Massakers, am Morgen des 15 April, sandte uns Herr Major Lutfi 2 Soldaten, obwohl ihm selbst nur noch 1 Offizier und 20 Mann zur Verfügung standen, da er seine übrigen Offiziere und Mannschaften nach Adana hatte senden müssen. Da die Bevölkerung, besonders aber aus der Umgegend eingetroffene Tscherkessenabteilungen, unser Haus zu stürmen beabsichtigten, ein Plan, der nur durch das umsichtige und energische Eingreifen des Herrn Major unter eigener Lebensgefahr verhindert wurde, baten wir telegraphisch das deutsche Konsulat in Mersina, beim Wali in Adana militärische Bedeckung für uns erwirken zu wollen, unter deren Schutz wir nach Adana zu unseren Collegen und Landsleuten zu kommen hofften. Eine Antwort auf diese Depesche ist jedoch nicht erfolgt und auch nicht gegeben worden. Auch das Oestereichische Konsulat baten wir telegrafisch um Schutz, diese Depesche hat jedoch niemals ihren Bestimmungsort erreicht, wie wir später aus dem Munde des österreichischen Konsuls erfuhren. Herr Chefingenieur Godard, der sich im Auftrage der türkischen Regierung mit dem Dragoman des französischen Konsulats Mersina, Herrn Chatir, auf einer Inspektionsreise nach Hamidié befand, infolge der ausgebrochenen Unruhen aber kurz vor Hamidié wieder umkehren musste, war am Abend des 14 April zu uns nach Messis gekommen. Zur selben Zeit, als wir unsere Telegramme an das Deutsche und Oesterreichische Konsulat in Mersina aufgaben, sandte auch Herr Godard an das französische Konsulat Mersina eine Depesche ähnlichen Inhalts. Nach kurzer Zeit traf vom Franz. Konsulat Mersina die Rückantwort ein, dass man beim Wali in Adana veranlasst habe, zu seinem Schutze eine Abteilung Gendarmerie nach Missis zu senden. Eine Escorte von 7 Mann traf auch noch am selben Abend unter dem Befehle des Chefs der Gendarmerie zu Adana und eines Hauptmanns in Missis ein, unter deren Schutz wir am 16 April morgens 51/2 Uhr Missis verliessen und gegen 10 Uhr vormittags Adana erreichten. Dass man kurz vor Adana auf uns schoss und unser Militär das Feuer kräftig erwiderte, dürfte noch zu erwähnen sein.

Nur dem glücklichen Zufall, dass Herr Ingenieur Godard zu uns stiess und wir uns unter den ihm vom franz. Konsulat gewährten Schutz stellten sowie dem energischen Auftreten des Herrn Major Lutfi gegen die Bevölkerung zu unseren Gunsten habe wir es also zu verdanken, dass wir glücklich Adana erreichten.

Unser Effekten (Instrumente, Pläne, Gepäck etc.) mussten wir in Missis zurücklassen und ersuchen für den Fall, dass diese abhanden gekommen oder beschädigt worden sind, um Wahrung unserer Ersatzansprüche.

Mersina, den 20 April 1909

Dipl. Ingenieur gez. Emil Heubusch. Dipl. Ingenieur gez. Werner Wüst.


[Anlage 7]

Ereignisse in Adana.


Während der ganzen Dauer der Unruhen befanden sich die unterzeichneten Ingenieure der Bagdadbahn in Adana. Der folgende Bericht enthält eine Darstellung des in dieser Zeit von uns Gesehenem und Erlebten. Den Ereignissen gehen bereits verschiedene Morde zwischen Armeniern und Türken voraus. Daraufhin zeigten sich am Dienstag, den 13 April, abends, die ersten Militärpatrouillen in den Strassen der Stadt. Nachdem am Mittwoch, den 14 April, morgens die Waffenläden förmlich ausverkauft wurden, und verschiedene weitere Morde sich ereigneten, schlossen sich cirka 10 Uhr morgens sämtliche Läden und um 101/2 begann das Schiessen, zuerst in der inneren Stadt, dann sich gegen Mittag schnell in alle Quartiere fortpflanzend. Unser Haus, das von unserer Ingenieurbrigade gemietet war, lag an der Grenze zwischen einem grösseren armenischen und einem türkischen Fellachenviertel, nördlich von dem Bahnhof der Mersina-Adana-Bahn.

Nachdem um unser Haus die ersten Armenier von den verfolgenden Türken erschlagen worden waren, folgten wir einer Einladung der beiden Leiter eines deutschen Etablissements in das sichere Nachbarhaus, in dem wir auch dessen andere 4 Angestellte nebst dem übrigen Personal versammelt fanden. Hinzu gesellten sich noch die 3 Frauen eines türkischen Offiziers der nebst diesen sich in seinem, inmitten des armenischen Viertels gelegenen Hauses nicht mehr sicher fühlte.

Um 2 Uhr begaben sich die Damen und Kinder des deutschen Hauses in den bereit stehenden Zug, um sich nach Mersina in Sicherheit zu bringen, da nun die Situation immer ernster zu werden begann. Von da ab begann in unserer Umgebung die allgemeine Jagd der mit Knüppeln, Säbeln, Messern, Revolvern und Gewehren bewaffneten Türken auf die sich in ihre Häuser flüchtenden Armenier. Es beteiligten sich vor allem der Pöbel und das reguläre Militär einer circa 50 Mann starken Quartierwache in unserer Nähe daran. In vielen Fällen übernahmen Hodschas die Führung der Mengen.

Die Niedermetzelung der Leute geschah auf grausamste Weise, selbst Greise und schwer Verwundete wurden noch vollends totgeschlagen und zum Teil schrecklich verstümmelt. Den Gefallenen nahm man Waffen, Geld und Kleidungsstücke ab.

Vor allem müssen wir 2 Fälle konstatieren, wobei sich reguläres Militär im Beisein der Unteroffiziere und Offiziere auf das Grausamste betätigte. Ebenso einen Fall, wo 2 flüchtende Armenier von 2 regulären Soldaten, die die Bahnlinie zu bewachen hatten, aufgehalten und nach kurzem Gespräch auf 2 Schritt Distanz mit ihren Mausergewehren wie Hunde niedergeschossen wurden. Auf diese Weise wurden allein auf dem Bahnkörper und in seiner Nähe 12 Armenier ermordet. Selbst junge Burschen von 13 bis 14 Jahren benutzten Revolver und Knüttel gegen bereits schwer Verwundete.

Am Mittwoch Nachmittag kam der englische Konsul von Mersina nebst seiner Frau in Adana an und begab sich sofort zum Wali auf den Konak in die innere Stadt. Seinem und seiner Frau energischen Auftreten ist es zu verdanken, dass hunderten von Armenier das Leben erhalten geblieben ist und die Lage, die auch für die Fremden zeitweise höchst ernst und bedrohlich war, sich nach 2 Tagen klärte.

Von aus der Stadt kommenden deutschen Herren hatten wir vernommen, dass dort die allgemeine Plünderung bereits um 12 Uhr mittags begonnen hatte. In der Nacht zum Donnerstag begann das Inbrandstecken einzelner Häuser in der Stadt und Umgebung, später ganzer Quartiere. Um 3 Uhr nachts zählten wir nicht weniger als 36 Feuerstellen von der Terrasse des Hauses aus, darunter das Grossfeuer des vollständig niederbrennenden Dorfes Ingirli.

Am Donnerstag früh 8 Uhr ging der letzte reguläre Zug nach Mersina mit einer Menge von Flüchtlingen ab. Bald nachher gingen Pöbel und reguläres Militär, sowie von ausserhalb eingetroffene Rediftruppen an die Erstürmung der Häuser des armenischen Viertels südlich der Bahnlinie. Der Kampf war furchtbar. Das Schnellfeuer der Mausergewehre mischte sich mit dem Krachen der einstürzenden Häuser. Alles wurde niedergemacht bis auf wenige Fliehende, die, von den Schützenlinien der Militärs in’s Freie getrieben, dort ihren Weg von der Landbevölkerung abgeschnitten fanden. Die erstürmten oder verlassenen Häuser wurden von Pöbel und Militär gemeinsam geplündert und in Brand gesetzt. Die gut bewaffneten Armenier hatten Soldaten und sonstigen Angreifern nicht unbeträchtliche Verluste beigebracht.

Der englische Konsul, welcher sich zu der am Ende dieses armenischen Viertels belegenen Tabakregie begeben wollte, wurde dabei am rechten Arm von einem Geschoss verletzt. Den ganzen Donnerstag hielt das Morden, Plündern und Brennen im Innern und in der Umgebung der Stadt an, wobei man auf beiden Seiten zu grausamsten Verstümmelungen schritt.

Besonders hervorzuheben ist, dass die aus Tarsus und andren Orten herantransportierten, sogenannten Rediftruppen, am Donnerstag den Pöbel in allen Schandtaten auf’s Kräftigste unterstützten, sodass sie am Donnerstag aus Sicherheitsgründen zum teil wieder abtransportiert werden mussten.

Vom Donnerstag Abend an hatte das reguläre Militär offenbar den Befehl bekommen, von nun an wenigstens Weiber und Kinder der Armenier zu schützen und dem Plündern Einhalt zu tun. Am gleichen Abend erklärte uns die im Hause befindliche Redifpatrouille, dass sie das Haus besetzen und wir dasselbe verlassen müssten, da der Kampf in dem Armenierviertel nördlich der Bahn in der Nacht seinen Anfang nehmen konnte. Die Nacht verbrachten wir im Hause des Herrn Tripani zu, wo sich auch der englische Konsul befand.

Das Militär, welches in dieser Nacht die Ueberlegenheit der Armenier und einen Vorstoss derselben aus der Stadt befürchtete, hatte sich auf die Wache am Bahnhof zurückgezogen und niedrige Steinschanzen aufgeworfen. Es ereignete sich jedoch in dieser Nacht nichts in unserm Armenierviertel und, da wir am Donnerstag Nachmittag einmal die Beobachtung gemacht hatten, dass Eindringlinge von regulären Soldaten zurückgeholt wurden, von den gleichen, die im Viertel südlich der Bahn gemordet und geplündert hatten, so mussten wir annehmen, dass immerhin ein Befehl vorgelegen hat, dieses Viertel zu schützen. Am schlimmsten, was den Brand betrifft, ist es jedenfalls in der Nacht zum Freitag hergegangen.

An Freitag Morgen konnten wir wieder unser Haus beziehen. Es besserte sich die allgemeine Lage ein wenig, indem das Militär sich jetzt bemühte, einige Ordnung wieder herzustellen. Unter Abnahme führte das Militär aus unserm Armenierviertel Männer, Frauen und Kinder heraus, ihnen das Leben zusichernd. Am Freitag Nachmittag wurde zwischen armenischen und türkischen Notabeln ein vorläufiger Waffenstillstand vereinbart, was aber nicht verhinderte, dass noch den ganzen Freitag und Samstag hindurch geschossen und geplündert wurde.

Freitag Nacht ging auch das grosse Armenierdorf Giaurköi, 3 km nördlich von Adana, nach 3tägiger Verteidigung in den Flammen auf. Wir konnten auf unserer Nachwache das Geschrei der Leute hören.

Von Freitag Morgen ab erhielten wir eine ständige Wache von 4 regulären Soldaten in’s Haus, in dem sich 30 bis 40 armenische und andere Flüchtlinge befanden.

Zu Beginn der Unruhen hatten sich in die Deutsche Baumwollfabrik einige Hundert Armenier nebst Frauen und Kindern geflüchtet, welche in einem Wohnhause im Hofe der Fabrik untergebracht wurden. Um militärischen Schutz für diese konnte man nicht nachsuchen, da das reguläre Militär am Mittwoch und Donnerstag gegen die Armenier ging. Nahrungsmittel konnte den Leuten von Mittwoch Morgen bis Freitag Abend nicht gebracht werden. Vor Hunger und Angst waren 2 Frauen und 1 Mann irrsinnig geworden. Die Leute, welche am Freitag Abend entwaffnet wurden, verliessen das Haus jedoch erst am Sonntag. Da die Armenier in unserm Viertel aller Lebensmittel bar waren, wurde tätlich Brot an sie ausgeteilt.

Am Sonnabend endlich wurde in unserer Umgebung mit dem Forträumen der Kadaver begonnen. Hunderte von Getöteten in der Stadt waren noch während des Mordens in den Seihunfluss geworfen worden.

Sämmtliche Ingenieure, welche sich in dem Unruhengebiet befanden, haben sich auf Mersina zurückgezogen.

Mersina, den 25 April 1909


Ingenieure der Brigade Stylianides
gez. H. Culemeyer.
gez. I. Stutz.


[Anlage 8]

Bericht des Ingenieurs der Bagdadbahn Hans Ertl.


Dienstag, den 13 d.M. hatte ich geschäftlich in Adana zu tun u. wollte Donnerstag wieder in meine Station Missis zurückkehren. Es kam jedoch anders. Mittwoch vormittag ging ich vom Hotel Athanase in die Stadt um diverse Einkäufe zu besorgen, musste aber unverrichteter Dinge wieder umkehren, da sämmtliche Läden, mit Ausnahme der stark frequentierten Waffenhandlungen, geschlossen waren; zahlreiche Militärpatrouillen durchstreiften die Stadt.

Nach einem kurzen Besuche im Bureau der Herren Ingenieure Stylianides, Stutz und Culemeyer, begab ich mich zu unserm Vertreter, Herrn Kozlowski, dessen Haus sich in der Nähe der Banque Ottomane befindet, um dortselbst die Postsachen zu beheben. Als ich mich nach ungefähr einer halben Stunde wieder entfernen wollte, wurde mir erklärt, dass es nicht mehr möglich sei, da bereits die Plünderung der Geschäfte ihren Anfang genommen hatte und man jeden Augenblick blutige Zusammenstösse erwarten müsse.

Plötzlich ertönten Schüsse, vor unserem Hause hatte sich eine grössere Menschenmenge angesammelt, welche mit grossem Geschrei über irgend etwas zu verhandeln schien. Nach kurzer Zeit zerstreute sie sich wieder nach allen Richtungen. Das Geknatter der Schüsse tönte fortwährend an unser Ohr. Die Nachrichten von aussen strömten uns sehr spärlich zu, da wir als Kundschafter nur einige mit uns in geschäftlicher Verbindung stehende Türken aussenden konnten.

Für Donnerstag früh wollten wir Militärbedeckung haben, um auf den Bahnhof und von da nach Mersina gelangen zu können, bekamen selbe aber nicht, da in der Stadt Alles drüber und drunter ging, und das vorhandene Militär bei weitem nicht ausreichte, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Von Zeit zu Zeit hielten wir von der Dachstiege Ausblick um uns über die Lage der verschiedenen Brandherde zu unterrichten. Am nächsten Tage mussten wir aber auch auf diese Rundschau verzichten, da einige Kugeln in den Hof hereinflogen und wir auf der freiliegenden Stiege ein gutes Ziel abgegeben hätten. Das Gewehr- und Revolverfeuer dauerte die ganze Zeit über bis Freitag Mittag in mehr oder weniger intensiver Weise an.

Am Freitag früh gelang es uns, eine 20 Mann starke Militärpatrouille zu erhalten, welche uns, sowie noch mehrere Griechenfamilien, zum Bahnhof eskortierte. Dort bestiegen wir den Zug, konnten jedoch nicht abfahren, da aus Yenitsche und Tarsus, die Nachricht eintraf, dass die Strecke durch die Aufständischen stark gefährdet sei. Der gesammte Zugverkehr wurde bis auf weiteres eingestellt. Nun nahmen uns die Herren der Deutsch-Levantinischen Baumwollgesellschaft in ihrem beim Bahnhof gelegenen Wohngebäude auf. Insbesondere verdiene die Herren Direktoren Lutz und Stöckel die volle Anerkennung und unsern wärmsten Dank.



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