1913-11-21-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14082
Zentraljournal: 1913-A-23369
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 11/23/1913 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


"Frankfurter Zeitung"

Die armenische Frage
Ergebnisse einer Studeienfahrt

Ergebnisse einer Studienfahrt.
Petersburg, im November.

Die Beruhigung auf dem Balkan, die wohl für längere Jahre einer Liquidation der Balkanprobleme gleichkommt, stellt von allen Streitfragen des großen Problems im nahen Osten die armenische in den Vordergrund. In der Türkei werden die Armenier das größte aller christlichen Völker, erhalten somit das größte Interesse und das gewichtigste Wort beim Reformwerk, das die bisherigen Untertanen zu Bürgern eines lebensfähigen Staates machen soll. Vom Osten her bedroht eher Rußland die türkischen Stellungen in Armenien. Vor wenigen Monaten schien es darüber zu ernsten Verwickelungen kommen zu sollen; wenn sich auch die Lage abgeklärt hat, so ist doch kein Zweifel darüber möglich, daß nach der zeitweiligen Saturierung der Balkanstaaten kein anderer Expansionsdrang die Türkei so unmittelbar gefährdet wie der russische. Die beiden Probleme, die sich gegenseitig beeinflusen, machen zusammen erst die armenische Frage aus.

Für die internationale Politik ist die Frage der territorialen Zugehörigkeit Hocharmeniens von größter Bedeutung. Sie fällt für die Wertung der Weltmachtverhältnisse derart in die Wagschale, daß selbst die anscheinend Unbeteiligten bei einem Machtwechsel nicht gleichgültig zusehen würden. Die strategische Bedeutung des Landes hat in der "Frankfurter Zeitung" schon vor einiger Zeit Paul Rohrbach erläutert. Sie läßt sich in knapper Fassung etwa so umschreiben, daß der Herr von Hocharmenien, wenn er den Nachbarn militärisch halbwegs gewachsen ist, die westlichen, südlichen und östlichen Vorgelände dieser natürlichen Riesenburg: Kleinasien, Mesopotamien und Westpersien tatsächlich beherrscht. Es sind das alles Gebiete, die in die Einflußsphäre der künftigen Bagdadbahn gehören, so daß Deutschland an der armenischen Frage unmittelbar interessiert ist. Doch letzterer berührt die Interessen Englands: Wenn der russische Vormarsch in Nordpersien nicht aufgehalten wird und zur Eroberung Armeniens führt, das ein Fremdherrscher in Persien zur Sicherung seiner Stellung braucht, so ist der Persische Golf, den die englische Politik zum unantastbaren Vorwerk Indiens erhoben hat, nicht länger sicher. Die strategische Bedeutung Armeniens liegt in so natürlichen Verhältnissen begründet, daß sie von jeher erkannt wurde. Jede Macht, die sich die Vorherrschaft in Vorderasien erkämpfte, mußte Armenien erobern. Nach den Persern übernahm es Alexander der Große, und später verteidigte mit wechselndem Glück das byzantische Reich lange Armenien gegen die Orientalen. Die Armenier selber konnten nur in Uebergangszeiten sich unabhängig machen, wenn auch Tigranes der Große einst ein armenisches Reich gründete, das fast als Erbe der antiken Großmächte des Ostens auftrat. Später gelang es den armenischen Königen von Ani und andern Teilfürsten nie mehr, die ganze, im hohen Mittelalter feudal gegliederte Nation unter ein Zepter zu bringen oder auch nur ihre Teilgebiete von den Arabern und von Byzanz ganz unabhängig zu erhalten. Selbst als nach dem Fall der letzten christlichen-orientalischen Staaten in Byzanz und Trapezunt ganz Vorderasien auf Jahrhunderte unter die Herrschaft der Osmanen kam, hörten die Kämpfe um Armenien nicht auf, die zwischen Persien und der Türkei bis in die letzte Kriegszeit weitergeführt wurden. Die russische Bedrohung Armeniens, die schon vor hundert Jahren einsetzte, ist mit dem Rückzug der türkischen Truppen vom Westufer des Urmiasees akut geworden.

Der Wert des Landes, das ein ewiger Zankapfel zu sein scheint, ist mit der strategischen Bedeutung nicht erschöpft. Es ist ein Durchgangsland, durch das die kürzeste und natürlichste Straße nach Persien führt. Das Land selber ist nicht überreich, aber landwirtschaftlich hoher Entwicklung fähig und wohl auch nicht ohne mineralische Bodenschätze. Rußland hat zu seiner Eroberung schon einen großen Schritt getan, da es von Persien schon 1818 und von der Türkei 1878 den Nordosten Armeniens erwarb. Damit hat es im Lande selber einen Stützpunkt, was die militärische Aufgabe sehr erleichtern würde. Das heute noch türkische Gebiet aber ist weit ausgedehnter, strategisch und verkehrsgeographisch wichtiger. Zu seiner Verteidigung hat die Türkei eine ansehnliche, selbst während des letzten Krieges nicht erheblich geminderte Truppenmacht versammelt, die mindestens vor einer russischen Ueberrumpelung schützt. Die russischen Rüstungen aber sind ungleich umfassender. Im Kaukasus stehen immer drei kriegsbereite Armeekorps, denen vom Schwarzen und vom Kaspischen Meer her leicht Ergänzungen nachgeschickt werden können. Im Grenzgebiet selber schieben sich die Bahnen, die durchaus nach militärischen Gesichtspunkten angelegt werden, immer weiter vor. Von Kars aus, das mit Tiflis schon verbunden ist, zielt man nach Erzerum, der wichtigsten türkischen Festung in Armenien. Rußland hat sie schon zweimal besessen und ihr bloßer Name klingt dem russischen Kaukasusoffizier wie Hohn. Das von Kars zur türkischen Grenze etwa halbwegs gelegene Sarikamysch wird noch vor Neujahr den ersten Eisenbahnzug sehen und die Vorarbeiten zur Weiterführung der Strecke sind im Gange. Die Türken könnten, selbst wenn sie Geld und Unternehmungsgeist hätten, einstweilen hinter ihren Grenzen nicht ebenso rüsten, weil Rußland sich ein Vetorecht gegen alle Bahnbauten östlich von Erzerum gesichert hat. Eine längere Verteidigung Armeniens gegen die russische Uebermacht wäre daher unmöglich, und wenn sich die Verkehrsverhältnisse in Kleinasien nicht gründlich und schnell ändern, wird der russische Vorsprung immer größer werden. Tatsächlich wird aber einstweilen Armenien der Türkei nicht durch ihre Truppen, sondern durch die Diplomatie der Mächte erhalten.

Damit übernimmt aber Europa auch die Pflicht, die armenische Frage nach ihrer nationalen Seite hin zu prüfen. Sie besteht überall, wo Armenier wohnen, aber ihre Lösung ist in der Türkei am dringlichsten. Nicht aus idealen Gerechtigkeitsgründen, die von den Diplomaten wenig gewertet werden und ebenso gut zu Reformen im russischen Armenien führen müßten, aber aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Solange die Armenier ihre Zugehörigkeit zur Türkei als ein unerträgliches, bei der ersten Gelegenheit abzuschüttelndes Provisorium betrachten, kann keine Truppenanhäufung und keine Neubewaffnung den Krankheitszustand des Reiches heilen, der schließlich aus Armenien ein neues, gefährlicheres Mazedonien machen müßte, um das einmal ein Kampf nicht zwischen kleinen Balkanstaaten entbrennen würde.

Man hat die Armenier mit den Juden verglichen. Vielleicht sind die beiden Völker, die äußerlich unleugbar eine gewisse Aehnlichkeit haben, auch ihrer Abstammung nach, die beidemal auf die frühgeschichtlichen Hethiter weist, verwandt. Ein ähnliches Schicksal lastet auf beiden Völkern. Seit Jahrhunderten haben die Armenier kein eigenes Staatswesen mehr, leben sie, zum größten Teil über weite Länder anderer Völker zerstreut. Lange waren sie ganz rechtlos, noch heute sind sie vielfach rechtlich eingeschränkt. Die hübschen Tugenden der Nüchternheit, Klugheit, kaufmännischer Begabung und Arbeitsamkeit, finden sich, wenn auch nur nach orientalischem Maßstab, bei den Armeniern wieder. Ihr Nationalgefühl ist so stark, daß es dem Aermsten noch die Vorteile bedingungsloser Solidarität der Gemeinschaft sichert. Nicht zum mindesten beruht es auf der nationalen Religion, obwohl kleinere Teile der Nation ihr verloren gegangen sind und zu Rom übertraten (armenische Uniaten) oder sich gar zum Protestanismus bekennen. Die Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben werden, hört man überall auch gegen die Armenier; als Kaufleute gelten sie für skrupellos, das Wirtsvolk suchen sie zu bewuchern. Aber vor den Juden haben die Armenier eines voraus: ein fester Stamm von Bauern ist im alten Lande geblieben, denen auch von kritischen Reisenden nur Gutes nachgesagt wird. Darum ist die Armenierfrage nicht einheitlich. Der über die türkischen Hafenstädte zerstreute Teil des Volkes ist in derselben Lage wie alle andern Christen im ottomanischen Reich. Eine Reform, die sie alle umfassen würde, ist kaum zu formulieren. 1803 versuchte Sultan Abdul Asis die Frage durch die Gewährung einer "armenischen Verfassung" zu lösen, die ein Stück Papier geblieben ist. Viel leichter zu fassen ist aber das Problem, wenn man es auf die Armenier beschränkt, die das eigentliche armenische Hochland bewohnen. Für diese armenische Frage, die mit der kurdischen zusammenfällt, findet die Diplomatie schon eine Grundlage vor, auf die sich der Reformanspruch rechtlich stützen läßt.

Nach dem Wortlaute des Berliner Vertrages (Art. 61) verpflichtete sich die Hohe Pforte, "die Verbesserungen und Reformen durchzuführen, die durch die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erforderlich werden und deren Sicherheit gegen die Tscherkessen und Kurden zu gewährleisten". Von den Maßnahmen sollten die Berliner Garantiemächte periodisch unterrichtet werden. Auf diesen Artikel, der bisher toter Buchstabe war, wird man sich in den nächsten Monaten wohl noch oft berufen. Natürlich ist der Ausdruck "Armenien" darin nicht zufällig ausgeschaltet. Der Ersatz leidet aber an großer Unklarheit.

"Von Armeniern bewohnt" sind zum Teil fast alle Provinzen der asiatischen Türkei; der Nachsatz, daß die Sicherheit der armenischen Bevölkerung gegen Kurden und Tscherkessen zu schützen sei, gibt aber darüber Auskunft, was eigentlich die Berliner Diplomaten meinten. Aber die Statistik der im engen Sinn armenischen Wilajets zeigt schon die Schwierigkeit von Reformen. Nach Lynch, dessen Angaben sich auf das Jahr 1890 beziehen, heute aber ungefähr wieder zutreffen dürften, da die großen Verluste der armenischen Bevölkerung in den Metzeleien der neunziger Jahre und durch die nachfolgende Auswanderung jetzt infolge des natürlichen Zuwachses wieder ausgeglichen sein werden, wohnten (in Tausend Seelen):

Vilajet Moslems Armenier Total
Wan 52 75 127
Bitlis 145 97 242
Kharput 182 96 278
Diarbekir 45 15 60
Erzerum 428 106 544
Armenische Hochebene in der Türkei [insgesamt] 853 387 1252

Die Differenz in der Gesamtsumme kommt durch die Nichtberücksichtigung einiger tausend anderer Christen (Griechen, Nestorianer) zustande. Die Moslems sind ungefähr zur Hälfte Kurden (410 T.) und "Osmanlis" (443 T.), d. h. türkisch redende Abkömmlinge verschiedener Völkerschaften, unter denen auch die Armenier vertreten sind. Von einer genauen Statistik ist natürlich nicht die Rede: die Zahl der Armenier ist vielleicht auch höher, bis auf eine halbe Million anzusetzen. Ungefähr ebensoviele wohnen im russischen Teil des armenischen Hochlands, etwa 800000 in der übrigen asiatischen Türkei, etwa 450000 in russisch Transkaukasien, fast 200000 in Konstantinopel und der europäischen Türkei. Kleinere Gruppen sind in Westarabien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, in Persien, in Astrachan und selbst in Indien zerstreut. "Armenische Reformen" können daher immer nur geringe Bruchteile des Volkes umfassen. Je weiter man andererseits den Begriff der "von Armeniern bewohnten Provinzen" in der Türkei zieht, desto mehr sinkt der prozentuale Anteil der Armenier an der Bevölkerungsziffer. Selbst im engsten Umkreis des eigentlichen Armeniens haben sie nur in kleineren Bezirken die absolute Mehrheit für sich; überall aber, außer etwa im Hochgebirge, wo nur noch Kurden wohnen, bilden sie das wirtschaftlich und bei der Zersplitterung der mohammedanischen Bevölkerung auch zahlenmäßig als Einheit wichtigste Element. Reformen in diesem umschriebenen Gebiete sind nach dem Urteil aller Landeskenner durchaus möglich. Für die Türkei werden sie unbedingt vorteilhaft sein, da es natürlich sehr bedenklich ist, in einem von außen bedrohten Grenzgebiet eine unzuverlässige Bevölkerung durch undisziplinierte, im Ernstfall zudem militärisch und politisch ganz unzuverlässige Nomaden niederhalten zu lassen. Die Politik Abdul Hamids lief auf dieses Mittel hinaus; die Jungtürken haben schon oft erklärt, daß sie den Armeniern entgegenkommen wollen. Sie brauchen ihnen außer der Sicherheit des Lebens und Eigentums nur größere Möglichkeiten kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung zu geben. Freilich dürfen dabei nicht, wie dies in armenischen Propagandanachrichten geschieht, die Rechte der Kurden einfach übergangen werden. Die Wirtschaftsverhältnisse in den zu reformierenden Gebieten sind sehr verwickelt; vielfach muß ein Sprung aus dem Mittelalter zu modernen Formen gemacht werden. Es besteht in einigen Teilen Armeniens sogar noch ein Rest der Leibeigenschaft, wobei die Kurden als Herren, die Armenier als Hörige erscheinen. Die Ablösung solcher Rechte muß, wenn schwere Erschütterungen vermieden werden sollen, vorsichtig und gerecht vor sich gehen; selbst Rußland hat im Kaukasus damit noch nicht völlig aufgeräumt.



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