86. Sitzung des Reichshaushaltsausschusses am 29. September 19162
I.
Die traurigen Vorgänge sind allgemein bekannt. Die Entente, England, Frankreich und Russland tragen an ihnen aber die Hauptschuld. Ich erinnere an dieser Stelle an den Artikel im Daily Chronicle vom September 1915, der lobend anerkennt, dass das armenische Volk von Anfang des Krieges an die Sache der Entente zu der seinen gemacht, von Anfang ohne Markten noch Feilschen an der Seite der Entente gefochten und mit Recht als der siebente Bundesgenosse betrachtet werden müsse. Der Artikel ist überschrieben: The seventh Ally!
Wir haben in der armenischen Frage von Anfang an energische Vorstellungen bei der Pforte erhoben. Wir werden vielleicht später einmal nach dem Kriege, wenn unsere Position nicht mehr so delikat ist wie heute, unsere ganzen Verhandlungen in einem Weissbuche niederlegen. Ich kann Ihnen vertraulich erzählen, dass unser Botschafter soweit gegangen ist, sich direkt den Unwillen des Grosswesirs und des Ministers des Innern zuzuziehen. Nach den ersten drei Monaten seiner Tätigkeit haben die betreffenden Minister gesagt, der Botschafter scheine wohl nichts anderes zu tun zu haben, als sie immer in der Armeniersache anzuöden.
Die neuen Klagen, dass die armenischen Waisenhäuser aufgelöst, die Armeniermädchen in die Harems und die Knaben in die türkischen Waisenhäuser gebracht und gezwungen werden, Mohammedaner zu werden, haben mir Anlass gegeben, persönlich bei dem zurzeit hier anwesenden türkischen Minister des Auswärtigen ernste Vorstellungen zu erheben. Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Vorgänge nicht nur für die Türken sondern auch für uns ausserordentlich peinlich wären und wir dringend bitten müssten, Mittel und Wege zu finden, dass hier Abhilfe geschaffen werde.
Ich kann nur sagen, wir haben alles getan, was wir konnten. Das äusserste, was uns übrig bliebe, wäre, das Bündnis mit der Türkei zu brechen. Sie werden verstehen, dass wir uns dazu unter keinen Umständen entschliessen können. Höher als die Armenier, so sehr wir vom rein menschlichen Standpunkt aus ihr Los beklagen, stehen uns unsere Söhne und Brüder, die ihr teueres Blut in den schwersten Kämpfen vergiessen müssen und die mit auf die Unterstützung der Türken angewiesen sind. Denn die Türken leisten uns zur Deckung der Südostflanke wesentliche und gute Dienste. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir so weit nicht gehen können, den Türken, die wir tatsächlich durch unsere andauernden Vorstellungen in der armenischen Frage stark verstimmt haben, noch das Bündnis zu kündigen.
II.
Nach dem übereinstimmenden Urteil unserer Vertreter hat sich die türkische Regierung während der ersten Monate des Krieges dem armenischen Element gegenüber durchaus korrekt benommen. Das erste Sturmzeichen bildete der Zwischenfall von Zeitun. In diesem fast ausschließlich von Armeniern bewohnten, festungsartig angelegten Städtchens Südarmeniens hatte sich im März 1915 ein Trupp armenischer Deserteure verschanzt und dem ihn verfolgenden türkischen Militär verzweifelten Widerstand geleistet. Es kam zu einer regelrechten Belagerung und Erstürmung der Stadt, wobei große Vorräte moderner Waffen gefunden wurden. Da ein Teil der Bevölkerung mit den Aufrührern gemeinschaftliche Sache gemacht hatte, wurde nach Kriegsrecht ein strenges Strafgericht über die Stadt verhängt. Der Vorfall in Zeitun blieb nicht vereinzelt. Es kam im Anschluß daran in mehreren Städten dieser Provinz zu ähnlichen Ausschreitungen und Kämpfen, die dazu führten, daß hier mit der Evakuierung der schwer kompromittierten, armenischen Bevölkerung begonnen wurde. Die Maßnahmen beschränkten sich zunächst auf ein verhältnismäßig kleines Gebiet und hatten nur lokalen Charakter. Immerhin war das Mißtrauen der Regierung gegen die Armenier geweckt. Einen verhängnisvollen Lauf nahmen die Dinge im nächsten Monat, im April 1915, als in Hocharmenien besonders in der Gegend von Wan, im Rücken der gegen Aserbeidschan marschierenden türkischen Truppen ein allgemeiner armenischer Aufstand losbrach, dem in wenigen Tagen Tausende von Muhammedaner zum Opfer fielen. Aus naheliegenden Gründen ist in der türken- und deutschfeindlichen Presse wenig oder nichts über dieses Blutbad veröffentlicht worden, das für die Armenier so traurige Folgen haben sollte. Unter Aufbietung starker Kräfte und mit erheblichen Verlusten gelang es den Türken, den Aufstand hinter ihrer Front niederzuschlagen. Man kann es verstehen, wenn sie nun den Entschluß fassten, solche Vorkommnisse für die Zukunft unmöglich zu machen. Hinzu kam, daß in der Hauptstadt ein gegen das Leben der türkischen Machthaber gerichtetes armenisches Komplott entdeckt wurde, und daß auch sonst Anzeichen dafür vorhanden waren, daß ein Teil der Armenier mit den Feinden der Türkei in geheimer Verbindung stand. Angesichts ihrer damaligen kritischen Lage der Türkei - die Dardanellenkämpfe standen auf dem Höhepunkt - mußte die türkische Regierung mit allen Mitteln die bedrohte Sicherheit im Innern des Landes wiederherstellen. Die harte, aber militärisch verständliche Maßregel der Aussiedelung der armenischen Bevölkerung aus den als Operations- oder Etappengebiet vom Krieg berührten Gegenden wurde beschlossen. Im nördlichen Teil von Mesopotamien, fern von den militärisch bedrohten Grenzen sollten den Armeniern neue Wohnsitze angewiesen werden. Daß die Durchführung der Umsiedelungsregeln zur Vernichtung eines großen Teils der armenischen Bevölkerung führen sollte, haben die türkischen Machthaber ursprünglich sicher weder gewollt, noch vorausgesehen. Die beklagenswerte Entwickelung, welche nun die Dinge nahmen, erscheint bis zu einem gewissen Grade begreiflich, wenn man einerseits die nicht unberechtigte Empörung der muhamedanischen Bevölkerung, andererseits die Primitivität der inneren türkischen Verhältnisse und den geringen Einfluß in Rechnung zieht, den die Zentralverwaltung in Konstantinopel in den ferner liegenden Provinzen auszuüben vermag. Für eine derartige Bevölkerungsverschiebung großen Stils, die selbst im Frieden jahrelange Vorbereitungen erfordert hätte, war natürlich nichts vorgesehen. Es mangelte an allem, an einer geeigneten einheitlichen Organisation, an Straßen, an Transportmitteln, an Geld und vor allem an Nahrungsmitteln. Die durch den Krieg aufgepeitschten niederen Instinkte, die alten Rassen- und Religionsgegensätze taten ein übriges. Daß der nicht mehr zu hemmende Lauf der Dinge manchem der jungtürkischen Machthaber nachträglich als eine radikale Lösung der armenischen Frage nicht unerwünscht schien, ist leider nicht unwahrscheinlich. Es wäre nicht dazu gekommen, wenn nicht die Armenier selbst dazu eine Handhabe gegeben hätten. Die moralische Schuld an den Vorkommnissen trifft neben den Armeniern selbst deren Anstifter in London, Petersburg und Paris. Bezeichnend ist ein Artikel des "Daily Chronicle" vom 23. September 1915, der "Our seventh Ally" überschrieben ist und lobend anerkennt, daß das armenische Volk von Anfang des Krieges an die Sache der Entente zu der seinen gemacht, von Anfang an ohne Markten und Feilschen an der Seite der Entente gefochten und dadurch sich das Anrecht erworben habe, als siebenter Bundesgenosse betrachtet zu werden.
Das Auswärtige Amt und die Kaiserlichen Vertretungen in der Türkei haben von Beginn der armenischen Krise an alles mit diplomatischen Mitteln Mögliche getan, um das Los der Armenier zu mildern. Die Kaiserliche Regierung ist, was der Öffentlichkeit nicht bekannt ist und vorläufig auch nicht bekannt werden darf, bei ihrem Druck auf die türkische Regierung bis zur äußersten Grenze gegangen. Zur Kündigung des Bündnisverhältnisses wegen der armenischen Frage hielt und hält sich die Kaiserliche Regierung nicht für berechtigt. Denn so bedauerlich es vom christlichen und allgemein menschlichen Standpunkt ist, daß unter dem türkischen Vorgehen mit den Schuldigen auch hunderttausende Unschuldiger zu Grunde gehen, näher als die Armenier stehen der deutschen Regierung die Söhne Deutschlands, deren opferreicher blutiger Kampf im Westen, Osten und Süden durch die Waffenhilfe des türkischen Bundesgenossen wesentlich erleichtert wird. Die Verantwortung dafür, durch den Bruch mit der Türkei über der Armenierfrage die Südostflanke unserer Weltkampfstellung zu entblößen, könnte keine deutsche Regierung tragen und zwar umsoweniger, als die Armenier selbst durch einen solchen Schritt nicht etwa vor weiteren Verfolgungen bewahrt, sondern erst recht der türkischen Rache ausgeliefert worden wären.