1915-08-07-DE-009
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Quelle: DE/PA-AA/R 20001
Zentraljournal: 1915-A-23477
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 08/08/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 299
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Gesandte in den Haag (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Haag, am 7. August 1915

Die Zentralmächte stehen nun seit einem Jahre im Kriege, und dieser Anlass ist von vielen Seiten benutzt worden, um zusammenfassende Rückblicke zu veröffentlichen. Dieser Zeitpunkt scheint aber auch geeignet, um - wenn auch nur umrissweise und in grossen Linien - einen Blick wenigstens in die Entwickelung der nächsten Zukunft zu tun: nicht wie sie werden wird, aber wie sie nach den Grundlagen der politischen Situation werden könnte.

Der grosse Krieg ist historisch betrachtet ohne Zweifel aus dem russisch-österreichischem Gegensatz entstanden, dem sich als untergeordnete Parallelerscheinung der von Russland genährte und unterhaltene serbisch-österreichische Gegensatz zugesellte. Ohne auf die historischen Entwicklungen einzugehen, zu dessen Beurteilung in neuerer Zeit insbesondere von österreichischen Historikern ein ziemlich reiches Material beigebracht worden ist, kann der Satz mit Sicherheit aufgestellt werden, dass seit der Annexion von Bosnien und der Herzegowina die österreichisch-serbischen Beziehungen ausserordentlich gespannt waren, und dass seit dem Abschluss des Balkankrieges mit der Möglichkeit eines österreichisch-serbischen Zusammenstosses bestimmt gerechnet werden musste. Die österreichische These für den Krieg lautete: Gelingt es der Donaumonarchie nicht, Serbien schwer zu demütigen und dadurch zur Besinnung zu bringen, so ist der Prestigeverlust Österreich-Ungarns so gross, dass sein Gewicht in der Wagschale Europas gefährdet erscheint. Welche praktische Lösung den österreichisch-ungarischen Staatsmännern hierbei vorgeschwebt haben mag, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Durch Demütigung konnte die ohnehin überreizte und schlecht balanzierte serbische Nation nur bitterer und gefährlicher werden. Hätten demütigende Vorgänge und die Unterzeichnung demütigender Formeln Serbien irgendwie zu bessern vermocht, so hätten die Annexionskrise und das kaudinische Joch, unter das Freiherr von Aehrenthal die Serben damals zwang, diesen Erfolg herbeiführen müssen. Wirklich geholfen konnte Österreich nur werden durch eine tatsächliche, sehr tief gehende Schwächung der Serben, die einer zeitweiligen Vernichtung nahe kommen musste, um wirklich auf absehbare Zeit Ruhe zu schaffen.

Betrachtet man nun, wie es mit der Sicherung der österreichischen Südostgrenze seit Anfang des Krieges steht, so ergibt sich das Resultat, dass Österreich den Serben unendlich viel weniger günstig gegenübersteht als zu Anfang des Krieges. Die Serben sind vielleicht durch Verluste und Krankheiten militärisch schwächer, durch das Bewusstsein zweier entscheidender Siege über die k.u.k.Truppen, durch die Unterstützung aller Teilnehmer der grossen Koalition entschieden unendlich gefährlicher und aggressiver als sie es zur Zeit der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers waren. Ein Verlauf des Feldzuges, der die serbische Frage in ihrem jetzigen Stadium liesse, müsste vom österreichischen und deshalb auch von dem Standpunkt, den sich die deutsche Politik zu eigen gemacht hat, aus betrachtet, in höchstem Grade unbefriedigend sein, da das gesamte serbische Problem für Österreich lebendiger und gefährlicher wäre als vor dem Kriege. Diese vergiftende Krebsgeschwulst würde an dem nach dem Kriege ausgebluteten Körper der Donaumonarchie immer zehren.

Dass Österreich aus eigener Kraft Serbien bis zur Vernichtung schlägt, ist nach den bisherigen Erfahrungen so gut wie ausgeschlossen. Deutschland wird also auch hier, da es einmal A gesagt hat, auch B sagen müssen und auch hier im weitesten Umfange die der österreichisch-ungarischen Politik gestellten Aufgaben mitlösen müssen.

Vom historischen Gesichtspunkt aus angesehen, ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, dieses ungeheure Völkerringen nicht durch einen Frieden zu beenden, bevor die serbische Frage so weit zugunsten Österreichs gelöst ist, als sie einer Lösung überhaupt fähig ist. Das einzig mögliche ist eine so weit, als das Kriegsrecht irgend zulässt, getriebene Vernichtung der serbischen Armee, des serbischen Landes, seiner Hilfsquellen und endlich Verkleinerung des gegenwärtigen Königreiches auf ein möglichst geringes Mass.

Von der ganzen ungeheuren Front der Zentralmächte, die sich von Jpern und Lille bis in das Mündungsgebiet des Euphrat und Tigris erstreckt, ist nur ein Punkt, an dem den Verbündeten ein grosser historischer Erfolg winkt; nur ein Punkt, wo eine schmale Reihe von Schützengräben mit einer unvollständig ausgerüsteten, von Munition und anderen Zufuhren vollkommen abgeschnittenen Armee übermächtigen feindlichen Kräften, unterstützt von übermächtiger schwerer Artillerie gegenübersteht: Konstantinopel und Dardanellengebiet sind der bei weitem am schwersten bedrohte Punkt im System der Zentralmächte.

Seit dem Eintritt der Türkei in das grosse Ringen ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass ohne Herstellung einer gesicherten Verbindung zwischen den Zentralmächten und der Türkei das Schicksal Konstantinopels und die Zukunft des ganzen nahen Ostens im höchsten Grade gefährdet erscheinen. Die dringenden Bitten um Öffnung eines Weges sind immer dringender geworden und der Ernst der Lage drängt sich jedem Beschauer auf. Der Weg durch Rumänien ist versperrt geblieben und nichts deutet augenblicklich darauf hin, dass es der Kunst der Diplomatie oder der rollenden Doppelkrone gelingen wird, da Besserung zu schaffen. Auch hier ist die einzige Möglichkeit Bekriegung Serbiens, Besetzung des sogenannten Negotiner Gebietes, durch das eine direkte Verbindung zwischen Ungarn und Bulgarien hergestellt würde.

Die besten Kenner Bulgariens bestätigen und die ganze bulgarische Entwickelung weist mit absoluter Notwendigkeit darauf hin, dass im Augenblick, wo Serbien von übermächtigen Kräften der Zentralmächte angefallen wird und zu Boden geschlagen wird, Bulgarien seinerseits über den geschwächten Nachbarn herfallen und alle jene Gebiete an sich reissen wird, die zur Erfüllung der nationalen bulgarischen Aspirationen unentbehrlich sind. Was die deutsch-österreichischen Truppen zu tun übrig lassen würden, um Serbien für lange Zeit in die Kniee zu werfen, das würden die Bulgaren aufs ausgiebigste besorgen. Ein starkes Grossbulgarien ist für Österreich-Ungarn eine Lebensnotwendigkeit. Es kann nur geschaffen werden auf Kosten Serbiens und wohl auch im zweiten Anlauf auf Kosten Griechenlands. Dies ist eine für Deutschland besonders schmerzliche und tragische Notwendigkeit; aber keine diplomatische Kunst wird vermögen, dieses Opfer abzuwenden, wenn die Zentralmächte für die notwendige Politik der Schaffung eines starken Grossbulgariens rücksichtslos bis zum Ende gehen. Mit dem Losbrechen Bulgariens würde auch die gesamte Balkansituation, die bisher immer noch schwankend war, feste Formen annehmen. Rumänien gegenüber müsste eine starke Beobachtungsmacht stehen bleiben, und die Machthaber in Bukarest müssten sich vollständig klar darüber sein, dass ein Eintreten zugunsten Serbiens Existenzkampf für Rumänien bedeutet.

Hat sich nun aus der Geschichte der österreich-ungarischen-serbischen Beziehungen die absolute Notwendigkeit ergeben, diesen grossen Krieg nicht zu Ende gehen zu lassen ohne vollständige Niedertretung Serbiens, so ergibt jetzt die Betrachtung der Lage in der Türkei und die Notwendigkeit der künftigen Gestaltung des Balkans, sodass dort ein relativ dauernder Friede herrscht, genau dasselbe. Die nächste grosse Aufgabe nach der Zurückdrängung Russlands bis auf jene Linie, die unsere Militärs für notwendig halten, ist ein mit überlegenen Kräften durchgeführter Angriff auf Serbien, der so gut wie sicher Bulgarien mitreissen wird. Bei diesem Angriffe wäre so zu verfahren, dass der Gewinnung der direkten Landverbindung Ungarn-Bulgarien militärischerseits besondere Beachtung geschenkt würde.

Ob das geforderte militärisch möglich ist und wann es militärisch möglich ist, fällt nicht in den Kreis der politischen Betrachtungen. Wenn aber die deutsche Politik sich von dieser Notwendigkeit vollständig durchdrungen hat, werden die Führer des deutschen Heeres, die in diesem Krieg so wunderbares geleistet haben, auch die Wege finden, das als notwendig erkannte in die Wirklichkeit zu übersetzten.


v. Kühlmann



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