1914-12-26-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 19936
Zentraljournal: 1914-A-35964
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 12/26/1914
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Reichskanzler (Bethmann Hollweg) an die Vorsteher sämtlicher diplomatischen Missionen

Erlaß


Berlin, den 26. Dezember 1914

[Vergleiche die Veröffentlichung in der Nordd. Allg. Ztg. v. 25.12.14 Nr. 322 u. im Reichs- und Staatsanzeiger vom 25.12.14 Nr. 303.]

In der Rede, die Ministerpräsident Viviani [am 22. Dezember 1914] in der französischen Kammer gehalten hat, befindet sich der Passus, daß Frankreich und Rußland am 31. Juli dem englischen Vorschlag beigestimmt hätten, die militärischen Vorbereitungen einzustellen und in Verhandlungen in London einzutreten. Hätte Deutschland zugestimmt, so hätte der Friede noch in dieser letzten Stunde erhalten werden können.

Da ich diese im französischen Parlament ausgesprochene falsche Behauptung gegenwärtig von der Tribüne des Deutschen Reichstags nicht widerlegen kann, so sehe ich mich veranlaßt, Ihnen die nachfolgenden Darlegungen zuzustellen mit dem Ersuchen, davon den weitestgehenden Gebrauch zu machen.

Der britische Konferenzvorschlag, der im englischen Blaubuch unter Nr. 36 abgedruckt ist, stammt vom 26. Juli. Sein Inhalt war, daß Vertreter von Deutschland, Frankreich, Italien mit Sir E. Grey in London zusammentreten sollten, um dort einen Ausweg aus den Schwierigkeiten, die in der serbischen Frage entstanden waren, zu suchen. Von Anfang an hat Deutschland den Standpunkt vertreten, daß der serbisch-österreichisch-ungarische Konflikt eine Angelegenheit sei, die nur die nächstbeteiligten beiden Staaten berühre. Diesen Standpunkt hat auch Sir Edward Grey später selbst anerkannt.

Deutschland mußte den englischen Konferenzvorschlag ablehnen, weil es nicht zulassen konnte, daß Österreich-Ungarn in einer Frage seiner nationalen Lebensinteressen, die nur Österreich-Ungarn anging, einem Tribunal der Großmächte unterstellt würde. Aus dem deutschen Weißbuch geht hervor, daß auch Österreich-Ungarn den Konferenzvorschlag als unannehmbar bezeichnete. Durch seine Kriegserklärung an Serbien dokumentierte es seinen festen Willen, die serbische Frage ohne Dazwischentreten der Mächte allein zu regeln. Zugleich erklärte es aber, um alle gerechten Ansprüche Rußlands zu befriedigen, sein vollkommenes territoriales Desinteressement Serbien gegenüber. Da Rußland sich nicht mit dieser Versicherung begnügte, war aus der serbischen Frage eine europäische geworden, die zunächst in einer Spannung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ihren Ausdruck fand. Um zu verhindern, daß aus dieser Spannung eine europäische Konflagration sich entwickelte, mußte ein neuer Boden gesucht werden, auf dem eine Vermittelungsaktion der Mächte sich anbahnen konnte. Es war Deutschland, dem das Verdienst gebührt, diesen Boden zuerst betreten zu haben.

Staatssekretär von Jagow wies in seinem Gespräch mit dem britischen Botschafter am 27. Juli darauf hin, daß er in dem Wunsche Rußlands, mit Österreich-Ungarn direkt zu verhandeln, eine Entspannung der Lage und die beste Aussicht auf eine friedliche Lösung erblickte. Diesen Wunsch, durch den die englische Konferenzidee auch nach russischer Meinung vorläufig ausgeschaltet war, hat Deutschland von dem Tage, wo er geäußert wurde, mit aller Energie, die ihm zu Gebote stand, in Wien unterstützt. Kein Staat kann ehrlicher und energischer danach gestrebt haben, den Frieden der Welt zu erhalten, als Deutschland.

England selbst verzichtete nunmehr darauf, seine Konferenzidee weiter zu verfolgen und unterstützte auch seinerseits den Gedanken der direkten Verhandlungen zwischen Wien und Petersburg (Blaubuch 67).

Diese begegnetet jedoch Schwierigkeiten und zwar Schwierigkeiten, die nicht von Deutschland oder Österreich-Ungarn, sondern von den Entente-Mächten herbeigeführt wurden. Sollte Deutschlands Bemühen gelingen, so bedurfte es des guten Willens der nicht unmittelbar engagierten Mächte, es bedurfte aber auch des Stillhaltens der Hauptbeteiligten, denn wenn eine der beiden Mächte, zwischen denen vermittelt werden sollte, die im Gange befindliche Aktion durch militärische Maßnahmen störte, so war von vornherein klar, daß diese Aktion nie zum Ziele gelangen konnte.

Wie stand es nun mit dem guten Willen der Mächte?

Wie Frankreich sich verhielt, ergibt sich mit Deutlichkeit aus dem französischen Gelbbuche. Es traute den deutschen Versicherungen nicht. Alle Schritte des deutschen Botschafters, Freiherr von Schoen, wurden mit Mißtrauen aufgenommen, sein Wunsch auf mäßigende Einwirkung Frankreichs in Petersburg wurde nicht beachtet, denn man glaubte annehmen zu sollen, daß die Schritte Herrn von Schoens nur dazu bestimmt waren, „à compromettre la France au regard de la Russie.“ Aus dem französischen Gelbbuch ergibt sich, daß Frankreich keinen einzigen positiven Schritt im Interesse des Friedens getan hat.

Was für eine Haltung hat England angenommen? In den diplomatischen Gesprächen gab es sich den Anschein, bis zur letzten Stunde zu vermitteln, aber seine äußeren Handlungen hatten es auf eine Demütigung der beiden Dreibundmächte abgesehen. England war die erste Großmacht, die militärische Maßnahmen in großem Stile anordnete, und dadurch eine Stimmung insbesondere bei Rußland und Frankreich schuf, die allen Vermittelungsaktionen im höchsten Grade abträglich war. Es ergibt sich aus dem Berichte des französischen Geschäftsträgers in London vom 27. Juli (Gelbbuch Nr. 66), daß schon am 24. Juli der Befehlshaber der englischen Flotte diskret seine Maßnahmen für die Zusammenziehung der Flotte bei Portland getroffen hatte. Großbritannien hat also früher mobilisiert als selbst Serbien. Großbritannien hat sich ferner ebenso wie Frankreich geweigert in Petersburg mäßigend und zügelnd einzuwirken. Auf die Meldungen des englischen Botschafters in Petersburg, aus denen ganz klar hervorging, daß nur eine Mahnung an Rußland, mit der Mobilisation einzuhalten, die Situation retten konnte, hat Sir Edward Grey nichts getan, sondern die Dinge gehen lassen, wie sie gingen. Zu gleicher Zeit hat er aber geglaubt, daß es nützlich sein würde, Deutschland und Österreich, wenn auch in nicht ganz klarer Weise, doch deutlich genug darauf hinzuweisen, daß sich auch England an einem europäischen Krieg beteiligen könnte. Zu derselben Zeit also, wo England sich nach dem Fallenlassen seiner Konferenzidee den Anschein gab zu wünschen, daß sich Österreich-Ungarn auf Deutschlands Vermittelung hin nachgiebig zeigen sollte, weist Sir Edward Grey den österreichisch-ungarischen Botschafter in London auf die englische Flottenmobilisation hin (Blaubuch 48), gibt dem deutschen Botschafter zu verstehen, daß sich auch England an einem Kriege beteiligen könnte, und unterrichtet die Botschafter des Zweibundes sofort von dieser an die deutsche Adresse gerichteten Warnung., womit der Sieg der Kriegspartei in Petersburg besiegelt war.

Es war das gerade diejenige Haltung, die nach der sachverständigen Ansicht des englischen Botschafters Buchanan am ungeeignetsten war, eine gute Stimmung zwischen den Mächten hervorzurufen.

Unter diesen Schwierigkeiten wird man es als einen besonderen Erfolg betrachten dürfen, daß es Deutschland gelang, Österreich-Ungarn dem Wunsche Rußlands, in Sonderverhandlungen einzutreten, geneigt zu machen. Hätte Rußland, ohne seinerseits militärische Maßnahmen zu treffen, die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn, das nur gegen Serbien mobilisiert hatte, im Gang gehalten, so hätte die volle Aussicht auf Erhaltung des Weltfriedens bestanden.

Statt dessen mobilisierte Rußland gegen Österreich, wobei Sazanoff sich völlig klar darüber war (vergl. Blaubuch 78), daß damit alle direkten Verständigungen mit Österreich hinfielen. Das mühsame Resultat der deutschen Vermittelungsverhandlungen war damit mit einem Schlage erledigt.

Was geschah nun seitens der Ententemächte, um den Frieden in dieser letzten Stunde zu erhalten?

Sir E. Grey nahm seinen Konferenzvorschlag wieder auf. Auch nach Ansicht des Herrn Sazonow war jetzt der geeignete Moment gekommen, um unter dem Druck der russischen Mobilisation gegen Österreich-Ungarn den alten englischen Gedanken der Konversation zu vieren wieder zu empfehlen (Deutsches Weißbuch S. 7). Graf Pourtalès ließ den Minister nicht im Zweifel darüber, daß nach seiner Auffassung die Ententemächte hiermit dasselbe von Österreich-Ungarn verlangten, was sie Serbien nicht hatten zumuten wollen, nämlich unter militärischen Druck nachzugeben. Unter solchen Umständen konnte Deutschland und Österreich-Ungarn der Konferenzgedanke unmöglich sympathisch sein. Trotzdem erklärte Deutschland in London, daß es im Prinzip den Vorschlag einer Intervention der vier Mächte annehme, ihm widerstrebe lediglich die Form einer Konferenz.

Gleichzeitig drang der deutsche Botschafter in Petersburg in Sazonow, auch seinerseits Konzessionen zu machen, um ein Kompromiß zu ermöglichen. Daß diese Bemühungen fruchtlos blieben ist bekannt.

Rußland selbst schien an der weiteren Vermittelungstätigkeit Deutschlands in Wien, die bis zur letzten Stunde weitergeführt wurde, nichts mehr zu liegen. Es ordnete in der Nacht vom 30. zum 31. Juli die Mobilisation seiner gesamten Streitkräfte an, was die Mobilisation Deutschlands und dessen spätere Kriegserklärung zur Folge haben mußte.

Angesichts dieses Ganges der Ereinisse ist es nicht verständlich, wie ein verantwortlicher Staatsmann den Mut finden kann zu behaupten, daß Deutschland, das sich der russischen Mobilisation, den militärischen Vorbereitungen Frankreichs und der Mobilisierung der englischen Flotte gegenüber fand, noch am 31. Juli durch die Annahme einer unter den erhobenen Waffen der Entente-Mächte abzuhaltenden Konferenz den Frieden hätte retten können. Es war nicht das bis zur letzten Stunde in Wien vermittelnde Deutschland, das die Idee der Vermittelung der 4 Mächte unmöglich gemacht hat, es waren die militärischen Maßnahmen der Entente-Mächte, die Friedensworte im Mund führten, während sie zum Kriege entschlossen waren.


Bethmann Hollweg.



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