1915-08-27-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 20007
Zentraljournal: 1915-A-25854
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 09/03/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 535
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg) an den Reichkanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Pera, den 27. August 1915.

Euerer Exzellenz beehre ich mich in der Anlage eine mir von Generalfeldmarschall Frhn. von der Goltz übergebene Aufzeichnung über die gegenwärtige Kriegslage, insbesondere mit Rücksicht auf die Möglichkeit, einer Landung russischer Streitkräfte am Bosporus, zur geneigten Kenntnis zu überreichen.

Hohenlohe
Anlage

Nr. 304.

Constantinopel, den 25. August 1915/ 12. August 1331.

Geheim!

Bemerkungen zur gegenwärtigen Kriegslage.

Seit dem Zusammenbruch der russischen Streitkräfte in Polen und der Einnahme von Warschau, Ivangorod, Nowo Gieorgewsk, Kowno sowie der befestigten Narewlinie ist der russische Versuch, den Krieg gegen Deutschland offensiv zu führen, endgültig gescheitert und kann in absehbarer Zeit nicht wiederholt werden.

Russland wird sich nach Westen hin fortan auf die Defensive beschränken müssen.

Damit aber scheidet es nicht aus der Reihe unserer Gegner aus und es wäre sehr gewagt, anzunehmen, dass es künftig untätig bleiben wird. Es wird nur die Ziele seiner Operationen wechseln und sie so einrichten, wie es nach den ausserordentlichen Verlusten an Menschen und Kriegsmaterial geboten ist, die es in Polen erlitten hat.

Die deutschen Heere werden die Verfolgung der geschlagenen russischen Truppen noch eine Zeitlang fortsetzen, um den Auflösungsprozess, in dem diese sich gegenwärtig befinden, noch weiter zu fördern. Sie können ihnen aber nicht auf ungemessene Weiten ins Innere folgen, weil Deutschlands Gegner im Westen nicht aus dem Auge verloren werden dürfen. Ich nehme an, dass sie die Linie Riga - Wilna - Pinsk - Lutzk nicht überschreiten werden.

In einiger Entfernung hinter dieser Linie werden die Trümmer der russischen Streitkräfte zur Ruhe kommen und mit der mühevollen Arbeit ihrer Wiederherstellung beginnen, die jedenfalls Monate in Anspruch nehmen wird.

Diese Pause auf dem Hauptkriegsschauplatze wird Russland aus Rücksicht auf seine Bundesgenossen, deren finanzieller und industrieller Hülfe es für die Wiederherstellungsarbeit dringend bedarf, durch Unternehmungen auf den Nebenkriegsschauplätzen ausfüllen müssen, auf denen nicht so grosse Heeresmassen erforderlich sind, wie gegen seine westlichen Gegner.

Als solche kommen der Kaukasus und der Bosporus in Betracht. Auf beiden winken ansehnliche Erfolge. Vom Kaukasus kann ein Vordringen nicht nur in westlicher, sondern auch in südlicher Richtung in Frage kommen. Die letzten Fortschritte der Engländer im Yrakgebiet lassen es nicht unmöglich erscheinen, dass die bis zum Van-See vorgedrungenen Russen den Plan fassen, gemeinsam mit ihnen die Türkei gänzlich vom persischen Golf abzudrängen, sie auf Anatolien zu beschränken, in Persien die frühere russisch-englische Vorherrschaft wiederherzustellen und allen Plänen von einem Vordringen türkischer Streitkräfte nach Osten ein Ende zu machen.

Noch wirkungsvoller würde ein glücklicher Handstreich Russlands gegen den Bosporus und Constantinopel sein, deren Besitz sein ursprüngliches Kriegsziel war. Die Eroberung der türkischen Hauptstadt durch ein russisches Landungskorps würden den Eindruck der Niederlagen in Polen fast vollständig verwischen, und möglicherweise noch immer einen uns ungünstigen Umschwung auf der Balkanhalbinsel herbeiführen, der der gesamten Kriegslage ein wesentlich anderes Aussehen gibt.

Das ist ein verlockendes Ziel und der Aufwand, mit dem es erreicht werden kann, kein allzu grosser. Ein Expeditionskorps von 40000 Mann vermag Russland trotz aller Verluste immer noch in kurzer Zeit aufzubringen und auch einzuschiffen. Die türkische Flotte, die im Beginn des Krieges das Schwarze Meer fast völlig beherrschte, ist heute nicht mehr in der Lage, die Expedition zu verhindern, ehe nicht mehr deutsche U-Boote eingetroffen sind. Der Feind ist numerisch so überlegen, dass er ihr mit einem Geschwader den Austritt aus dem Bosporus verwehren, mit einem anderen die Ausschiffung decken kann. Ob die wenig zahlreichen, zum teil schlecht bewaffneten Depottruppen, die augenblicklich an der Küste stehen, das Landungskorps, dem ein zweites Echelon folgen kann, abzuwehren im Stande sind, kann nur der praktische Versuch erweisen. Ich halte es durchaus nicht für sicher.

Diese Verhältnisse sind dem Feinde, der von hier aus ohne Zweifel mit guten Nachrichten bedient wird, im allgemeinen jedenfalls bekannt. Auch dieser Umstand muss ihn zu einem Unternehmen gegen Constantinopel ermutigen. Nur vollständige physische Erschöpfung der russischen Armee und moralischer Bankerott ihrer Führung würden als Erklärung dienen können, wenn darauf verzichtet wird.

Ich glaube daher annehmen zu sollen, dass Russland, wenn es nach der letzten furchtbaren Niederlage einigermassen wieder Atem geschöpft hat, daran gehen muss:

1. seine Kaukasus-Armee erheblich zu verstärken,

2. das schon einmal beabsichtigte Unternehmen gegen Constantinopel nunmehr auszuführen.

Leider lässt sich im Augenblick, wo die Masse der türkischen Armee - die Saros-Gruppe eingerechnet 20 Divisionen - durch den rein defensiven Zweck in den Dardanellen gefesselt ist, nichts zur Abhilfe tun. Selbst die beiden Divisionen des 4. Armeekorps bei Smyrna können nicht herangezogen werden, so lange sich nicht erkennen läßt, was Italien unternehmen wird. Es lassen sich weder stärkere Kräfte bei der Hauptstadt aufstellen, noch der 3. Armee an der kaukasischen Grenze namhafte Verstärkungen zuführen. Es muss mit der augenblicklichen Lage, als einer gegebenen, gerechnet und das Risiko, das in der Entblössung der Hauptstadt liegt, in voller Erkenntnis der Gefahr getragen werden.

Aber ich halte es für meine Pflicht, die Aufmerksamkeit der osmanischen obersten Heeresleitung darauf hinzulenken, dass dieser Zustand nicht allzulange andauern darf. Sobald es irgend möglich ist, müssen wieder grössere Truppenkörper für andere Zwecke verfügbar gemacht werden, als bloss für die Abwehr des einen Gegners auf der Halbinsel Gallipoli.

Lassen die Anstrengungen des Feindes dort nach, so muss nicht nur die 1. Armee von der Sicherung des Sarosgolfes entbunden, sondern es müssen auch noch einige Divisionen von der Halbinsel zurückgezogen werden, um sich wieder in vollkommen operationsfähigen Zustand zu versetzen.

Wird die Heranziehung von Kriegsmaterial aus Europa möglich, so muss an die Aufstellung einer, wenn auch nur kleinen Zahl grösserer taktischer Einheiten gegangen werden. Mit dem Ausbau der am Schwarzen Meer stehenden Depotbataillone zu zwei, mit Hilfswaffen ausgestatteten Divisionen ist ein guter Anfang gemacht worden.

Der günstigste Fall, dass der Feind von den Dardanellen ablässt oder dass er von dort vertrieben wird, scheint, nach den Eindrücken, die ich gewonnen habe, noch nicht nahe bevorzustehen. Er allein aber könnte auch ohne Neubildung die notwendigen schon fertigen Kräfte frei machen.

Immerhin ist ihre Vermehrung auch dann ratsam. Der zähe Widerstand, den die Russen an der Slota-Lipa- und der Dnjester-Linie, wo sie noch stehen, geleistet haben, scheint darauf hinzudeuten, dass sie sich die Freiheit, den Schwerpunkt ihrer Operationen in den Südwesten zu verlegen, unter allen Umständen wahren wollen. Es ist möglich, dass die schwerste militärische Krisis für das türkische Reich noch nicht überwunden ist, sondern erst kommt. Um sie glücklich zu überstehen, sind verfügbare Feldstreitkräfte in hinreichender Zahl notwendig.

Unter keinen Umständen darf sich - im Hinblick auf seine Zukunft - das osmanische Reich durch die vereinigten Anstrengungen Englands und Russlands vom persischen Golf und dem islamitischen Osten abdrängen lassen. Ebensowenig aber darf es dulden, dass seine Hauptstadt, der Sitz des Kalifen, wenn auch nur vorübergehend, in Feindes Hand gerät.


Frh. v.d. Goltz



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