1916-11-11-DE-005
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Quelle: /PA-AA/R 20111
Zentraljournal: 1916-A-34688
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 12/20/1916 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Jr. Nr. 1210
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Konsul in Damaskus (Löytved Hardegg) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Damaskus, den 11. November 1916.

Streng vertraulich.

Auf Einladung des Kommandeurs des ersten Expeditionskorps im Sinai, Obersten Freiherrn von Kress, besuchte ich mit Genehmigung des Kaiserlichen Geschäftsträgers Herrn Geheimen Legationsrat von Radowitz von Mitte bis Ende Oktober das Operationsgebiet vor dem Suezkanal. Ich drang bis zu den Orten En Nachel, Bir Hasana und El Arisch vor, die gegenwärtig die von den Türken gehaltene äusserste Hauptlinie im Sinai bilden. Als ich dort war fand das Scharmützel beim Berg Marara statt, wo englische Kavallerie von deutschen Maschinengewehren zurückgeschlagen wurde. Die Engländer, die ihre Küstenbahn vom Kanal in der Richtung nach El Arisch bauen und sie inzwischen bis Bir Mesar vollendet haben dürften, versuchen die ihre rechte Flanke bedrohende türkische Stellung in Murar auszuheben um in Besitz dieses wichtigen durch Berge natürlich befestigten Stützpunktes zu gelangen. An zuständiger Stelle rechnet man damit, dass die Engländer nicht, wie anfangs geglaubt, Mitte nächsten Monats sondern erst Anfang Februar bis Al Arisch ihre breitspurige Eisenbahn (nicht schmalspurige wie ich am 9. Oktober unter Jr. No. 1032 berichtete) fertiggestellt haben werden. Die verschiedensten Vermutungen werden an diese Eisenbahn geknüpft. Die Einen meine, dass die Engländer sich mit der Wiederbesetzung des Sinai begnügen und nur bis zur alten Grenze vordringen werden, da sie nach ihren Erfahrungen an den Dardanellen und in Kut el Amara bei der Bindung ihrer Truppen auf anderen wichtigen Kriegsschauplätzen keine grössere Offensive hier zu unternehmen wagen würden. Andere glauben, dass sie versuchen werden, eine gemeinsame Aktion mit dem aufständischen Scherifen von Mekka vorzunehmen, der im Hedschas vorgehen würde, während sie Südpalästina angreifen, um das von England seit Jahren verfolgte Ziel zu erreichen, nämlich den Hedschas und die arabische Halbinsel bis zur nördlichne Linie Akaba-Bassorah vom türkischen Reich zu trennen. Bei einem solchen Unternehmen soll es sich nach Ansicht von Sachverständigen mehr um eine gleichzeitige Operation handeln, um die türkischen Truppen zu zersplittern, und weniger um einen Vereinigungsversuch der englischen Truppen mit denen des Scherifen in der Umgebung von Maan, da die Geländeschwierigkeiten im Ost- und Westjordanland sowie im Wadi al Araba so gross seien, dass ein englischer Durchstoss vom Sinai nach dem Osten wenig Aussicht auf Erfolg haben soll. Wiederum Andere sind der Ansicht, dass der englische Angriff im Sinai mit einer Operation von der Seeseite in Gemeinschaft mit Frankreich gegen das Küstengebiet von Palästina und Syrien verbunden sein würde um vor Friedensschluss möglicht viele feindliche Gebiete als Pfand für Kompensationen in die Hand zu bekommen und das durch die bis zum Frühjahr erwartete Niederringung Rumäniens gesunkene militärische Prestige der Entente vor den Augen eigenen Volkes und der Neutralen zu heben. Es erscheint mir für die Mächte der Entente nicht leicht zu sein, sich über ihre verschiedenartigen Interessen in Palästina und Syrien vorher so zu einigen, wie es für die gedachte militärische Operation erforderlich wäre. Schliesslich vertreten Andere den Standpunkt, dass alle diese Unternehmungen nicht im Verhältnis zum Erfolg stehen und daher kaum zur Ausführung kommen werden. Wenn überhaupt der Feind hier vorgehen wolle, würde er voraussichtlich eine grosse Landung in der Bucht von Adana versuchen um mit einem gewaltigen Schlag ganz Syrien und Mesopotamien von Anatolien zu trennen.

Alle diese Möglichkeiten werden unter den intelligenten Eingeborenen auch besprochen. Die politische Stimmung des Volkes äussert sich zum Teil in der Bewertung des Papiergeldes, das in Syrien niedriger steht als in Kleinasien (höchstens Pst.G. 50.-) und in den vom Feind am meisten bedrohten Städten, wie an der Küste, noch mehr gesunken ist , als in den Städten der Hochebene und am wenigsten im Sinai und Hedschas gilt, wo, wie ich höre, ein Papierpfund nur den Wert von Pst.G. 20,- hat.

Der Oberkommandierende der vierten Armee Dschemal Pascha und die verantwortlichen Militär- und Regierungsbehörden, mit denen ich über den Ernst der Lage gesprochen habe, bemühen sich die erforderlichen Vorbereitungen für etwaige Angriffe im Frühjahr zu treffen. Eine der wichtigsten Fragen bildet die Verpflegung von Militär und Zivil. Ist Syrien in der Lage, ohne eine allgemeine Hungersnot herbeizuführen, eine grössere Armee im Frühjahr dieses Jahres drei bis vier Monate vor der nächsten Ernte zu ernähren? Gegenwärtig stehen in Syrien und dem Hedschas sieben Divisionen mit rund 60000 Soldaten, und die Bevölkerung von Syrien und Palästina wird auf 3 1/2 Millionen Einwohner geschätzt. Nach meiner Ansicht sind genug Lebensmittel, vor allem Getreide, im Lande vorhanden, nur wird ein grosser Teil von den Bauern versteckt, weil sie kein Papiergeld annehmen wollen. Für eine Beschlagnahme aller Lebensmittel seitens der Regierung fehlen die erforderlichen Organe, so dass das beste Mittel die Einführung von Hartgeld ist, mit dem das versteckte Getreide herausgelockt werden könnte.

Bei meinem Besuch im Sinai staunte ich über die grosse Arbeitsleistung, die in einem Jahr dort verrichtet worden ist. Gute Automobilstrassen mit Pumpstationen, Bassins und Tränken, Magazinen, Kasernen und Hospitälern an jeder Etappe, ferner die neue 250 Kilometer lange Eisenbahn mit schmucken Stationsgebäuden bis Kuseme und eine etwa 50 Kilometer lange Decauvillebahn von Hafir et Audsche in der Richtung nach El Arisch! Der Feind müsste auf Grund seiner Fliegeraufnahmen glauben, dass diese Bauten für eine Armee von wenigstens 100000 Soldaten bestimmt seien. Dementsprechend haben die Engländer bis zu 25 Kilometer östlich des Kanals grosse Befestigungsanlagen angebracht und dort eine Armee von wenigstens 60000 Mann ausser der grossen Okkupationsarmee westlich vom Kanal unterhalten. Tatsächlich aber machte das Expeditionskorps von Kress nur mit 15000 Mann am 4.August dieses Jahres seinen letzten Angriff auf Bir Romane.

Als ich jetzt im Sinai war, hatte sich der grösste Teil des Expeditionskorps ins Winterquartier nach Bir es Seba, Jerusalem und Umgebung zurückgezogen. An der äussersten Hauptlinie in En Nachel-Bir Hasana und El Arisch stand je ein Bataillon. Oberst von Kress hat sein Hauptquartier in Jerusalem aufgeschlagen, wo sich auch die meisten deutschen und österreichischen Formationen befinden.

Bedauernswert soll der Gesundheitszustand unserer deutschen Paschaformation sein. Etwa 40% der seit dem April dieses Jahres hier eingetroffenen deutschen Truppen mussten nach der Kanalexpedition nach Deutschland beurlaubt werden. Die meisten litten an der sozusagen unheilbaren Amoebenruhr und Malaria. Es scheint, dass die Meisten durch die vorhergegangenen Anstrengungen eines zweijährigen Feldzuges in ihrer Widerstandkraft geschwächt waren. Vielleicht sind sie auch nicht mit der nötigen Auswahl inbezug auf Tropenfähigkeit ausgesucht worden. Ferner sollen auch manche der deutschen Militärärzte in der Behandlung der hiesigen Ruhrerscheinungen nicht erfahren genug gewesen sein. Ausserdem seien die meisten deutschen Soldaten infolge der bestehenden Transportverhältnisse zu lange gezwungen gewesen, in dem Malariaseuchenherd von Mamure zu bleiben, von wo sie den Malariakeim mitgenommen haben. Es sollen kaum 5% der hiesigen deutschen Soldaten (1200 im Ganzen) frei von den beiden Krankheiten sein. Die Eingeborenen wundern sich über die geringe Widerstandkraft unserer Soldaten und über ihr infolge der Krankheit wenig gesundes Aussehen. Im Gegensatz zu ihnen soll der Gesundheitszustand der 800 österreichisch-ungarischem Soldaten ein besserer sein. Bei diesen soll die Verpflegung (die Menage) eine besonders gute und abwechslungsreiche sein. Ferner sollen sie gleich mit dreifacher Besetzung gekommen sein, sodass eine häufige Abwechslung vor Ermüdung schützte und sofort jeden Ausfall ersetzte. Ferner sollen die Österreicher besser besoldet und vor allem mehr mit Hartgeld versehen sein, als unsere Soldaten und Offiziere, von denen der Einzelne oft mit dem auf die Hälfte entwerteten Papiergeld keine Nahrungsmittel kaufen kann. Die Gesamtstimmung soll auch bei den Österreichern eine bessere sein. Der Grund hierfür liegt abgesehen von ihrer besseren Verpflegung und reicheren Ausstattung selbst mit Musikkapellen, vor allem darin, dass sie stets in geschlossener Formation auftreten, während unsere Soldaten in kleineren Abteilungen in die türkischen Formationen gestellt werden. [Handschriftliche Anmerkung AA: Die deutschen Paschaformationen waren geschlossene deutsche Formationen. Sie wurden nicht in kleineren Abt. in die türk. Formationen gestellt, sondern erhielten ihrerseits zur Verstärkung türkisches Personal.] Diese Verteilung hat nicht nur zu Missstimmungen unserer Soldaten und Offiziere, sondern vor allem zu bedauernswerten Reibereien zwischen deutschem und türkischem Militär geführt. Unsere politische Propaganda ist hierdurch wesentlich beeinträchtigt. Diese gegenseitige Missstimmung trägt nicht dazu bei, unser Waffenbündnis populär zu machen. Der Oberkommandierende der vierten Armee Dschemal Pascha, der den deutschen Offizieren und Soldaten nach Möglichkeit entgegenkommt, hat sich kürzlich mir gegenüber sehr ernst über die gegenseitige Missstimmung geäusssert. In unserem deutschen Interesse liegt es, dass trotz des kriegerischen Zweckes unserer hiesigen Truppen bei ihrer Auswahl, Formation und bei ihrem Auftreten mehr als es bisher geschieht auf ihre politische Werbekraft Rücksicht genommen wird. Es ist nicht ausser Acht zu lassen, dass hier ein Volk weniger nach seinen durch Wort und Schrift verbreiteten Leistungen und Eigenschaften als nach dem Auftreten seiner im Land befindlichen Vertreter beurteilt wird. Die Propaganda durch Heeres-Presseberichte, Nachrichtensäle und Schriftenverbreitung hat hier nicht die Bedeutung wie in mehr zivilisieren Ländern. Hier sind die Blicke aller auf die Persönlichkeit jedes Fremden gerichtet, der gleichsam auf dem Präsentierteller steht. Aus diesem Grund sollten unsere Soldaten, die nicht das nötige Verständnis für die Eigenart ihrer hiesigen Lage haben, nur in geschlossenen Formationen dienstlich und möglichst auch ausserdienstlich auftreten. Bei der Entsendung unserer Offiziere sollte eine besondere Auswahl getroffen werden. Man schickt ziemlich viele Herren hierher, die in Afrika in den Kolonien gedient haben, in der irrigen Annahme, dass diese sich in die hiesigen Verhältnisse schneller einleben würden. Tatsächlich ist dies bei den Meisten nicht der Fall, weil sie gewohnt waren, als Herren mit einem Sklavenvolk zu verkehren und diese Verkehrsgewohnheiten auch hier anwenden wollten. Wer die hiesigen Verhältnisse kennt, wird wissen, dass die besseren Eingeborenen ganz besonders empfindlich sind und sich nicht gern als minderwertige Rassenangehörige behandeln lassen. Die hierher zu entsendenden Herren sollten mehr oder weniger die Eigenschaften haben, die der gute Orientkenner Lord Cromer für englisch-egyptische Beamten für erforderlich hält (siehe Anlage). Die meisten Offiziere kommen mit falschen Voraussetzungen hierher. Sie sind in der Regel enttäuscht, dass sie keine grössere Kriegstätigkeit vorfinden. Jeder passive Widerstand der Türken und jede Nachlässigkeit verleitet sie oft zu unvorsichtigen allgemeinen Kritiken, die ihnen bei der Empfindlichkeit vieler türkischer Offiziere ihre Stellung erschweren. Es sind nur wenige deutsche Offiziere hier, die in richtiger Erkenntnis der bestehenden Verhältnisse und in Würdigung der allgemeinen Vorteile unseres Waffenbündnisses mit der Türkei sich über die alltäglichen kaum zu ändernden Missstände hinwegsetzen und im höheren deutschen Interesse in taktvoller, kluger und bestimmter Weise versuchen, mit den vorhandenen Mitteln möglichste Besserung herbeizuführen. Es wäre wünschenswert, wenn unsere Offiziere schon in Berlin bei ihrer Anmeldung für die Türkei zunächst von einem Offizier, der die gegenwärtigen hiesigen Verhältnisse genau kennt und Verständnis für die Aufgaben der Deutschen in diesem Land hat, eingehend informiert würden, damit sie mit richtigen Erwartungen hierherkommen. Ausserdem sollte in jeder Etappe ein taktvolle und kluger Garnisonsältester sein, der an Ort und Stelle die durchziehenden Offiziere in richtigen Sinne zu beeinflussen und mit den türkischen Behörden gute Beziehungen zu unterhalten versteht. Hierzu könnten vielleicht am geeignetstem Reserveoffiziere aus den Kreisen unserer Industriellen und Grosskaufleute gewählt werden, die die nötige Welterfahrung besitzen. Solche Herren sollten auch möglichst repräsentativ auftreten können. Vor allem sollte vermieden werden, dass Offiziere zu Sonderkommandos hierher geschickt werden, ohne dass sie voll beschäftigt werden. Es würde hierdurch manche Unzufriedenheit verhindert werden.

Man muss allerdings damit rechnen, dass die türkischen Militärbehörden, damit der Deutsche nicht zu gut absticht, gegen derartige Vorschläge sind, und es vorziehen, wenn unsere Militärs getrennt und möglichst einfach auftreten. Ich glaube aber nicht, dass es in unseren politischen Interesse liegt, in dieser Beziehung den Türken entgegenzukommen.

Zum Schluss möchte ich nicht unterlassen zu bemerken, dass die Persönlichkeit des Obersten Freiherrn von Kress musterhaft hervorragt und unserem deutschen Ansehen und Namen viel Ehre macht. Sein vornehmer, einfacher, ritterlicher Charakter, sein stets taktvolles Auftreten, seine unermüdliche Arbeitskraft, seine spartanische Lebensweise und seine Todesverachtung in feindlichem Feuer gewinnen Deutschen und Eingeborenen Hochachtung ab.

Ein Bericht gleichen Inhalts ging an die Kaiserliche Botschaft.


Löytved Hardegg
Anlage

Aus Cromer: „Das heutige Ägypten“, II. Teil Seite 267.

Der englisch-ägyptische Beamte muß einige technische Kenntnisse besitzen, wie der Ingenieur, der Rechnungsführer oder der Rechtsgelehrte sie haben; sonst wird er die Angelegenheiten des Departments, dem er zugeteilt ist, nicht erledigen können. Beim Beginn seiner Laufbahn befindet er sich oft in großem Nachteil. Er muß oft seine Gedanken in einer fremden Sprache, französisch, ausdrücken von der er wahrscheinlich nur eine beschränkte Kenntnis hat. Wenn er nicht Gefahr laufen will, irgendeinem Untergebenen von oft zweifelhafter Zuverlässigkeit in die Hände zu fallen, so ist es, jedenfalls hinsichtlich vieler Beamtenposten, wesentlich, daß er einige Kenntnis einer sehr schweren orientalischen Sprache, der arabischen erwirbt. Dies sind jedoch alles Fähigkeiten, die man einer ziemlich genauen Prüfung unterwerfen kann. Der englisch-ägyptische Beamte muß noch andere Eigenschaften besitzen, die genau zu beurteilen, schwieriger ist, die aber in Wirklichkeit noch wichtiger als die oben angeführten sind. Er muß ein Mann von starkem Charakter sein, er muß genügend Elastizität des Geistes besitzen, um die Kenntnisse, die er sich anderswo erworben hat, unter ihm fremden Verhältnissen anzuwenden. Er muß auch ein gesundes Urteil besitzen, um zwischen Mißbräuchen, die sofort reformiert werden sollten, und anderen, die wenigstens eine Zeit lang zu dulden klug sein wird, unterscheiden zu können. Er muß gewandt und schnell bei der Hand sein, um irgendeine lokale Verwaltungseigentümlichkeit seinen eigenen reformatorischen Zwecken anzupassen. Er muß gute Formen besitzen und verbindlich sein, ohne jedoch seine Verbindlichkeit in Schwachheit ausarten zu lassen. Er muß fest sein und doch seine Festigkeit nicht in Befehlshaberei ausarten lassen. Er muß soviel als möglich zurücktreten. In der Tat muß er neben seinen besonderen technischen Kenntnissen alle die Eigenschaften besitzen, die wir bei einem geschulten Diplomaten, guten Verwaltungsbeamten und erfahrenen Weltmann suchen.



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