1916-02-25-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 20053
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Korrespondent in Konstantinopel (Harry Stuermer) an die Kölnische Zeitung

Artikel


Konstantinopel, den 25. II. 1916

Abschrift.

Vertraulich!

Der Fall von Erserum und die damit zusammenhängende Niederlage der türkischen Kaukasusarmee hat hier in türkischen Kreisen einen niederschmetternden Eindruck gemacht. Es geht zwar gerade heute abend, wie ich in einem türkische Kreise höre, die Version, daß in Armenien um 300000 Russen kämpfen und das Glück sich seit zwei Tagen wieder auf die Seite der Türken neigt: aber soviel ich aus den Gesichtern sehe, will man selber nicht recht daran glauben. Eine Unterhaltung, die ich gestern mit einem nicht der Opposition angehörenden Senator (früheren Gesandten) hatte, macht auf mich den Eindruck, daß tiefer Pessimismus herrscht. Auf meinen beruhigenden Einwand, daß die Türkei dort wohl Truppen genug habe, um wenigstens in der Defensive den Russen gewachsen zu sein, erwiderte er: „Gewiß brauchen wir in der Defensive weniger Truppen als die vordringenden Russen, aber erst müssen wir die Truppen haben.“ Er fügte hinzu: Vielleicht wenn wir die IV. Armee hinauf nach Armenien schicken und auf die Offensive gegen Kut-el-Amara verzichten, daß wir uns allein gegen die Russen halten können. (Über die Aussichten, diese „syrische Armee“ auf den armenischen Schauplatz zu senden, will ich gleich noch berichten). An genügender Artillerie fehlt es uns völlig, was wir haben ist in den Dardanellen, aber kann wegen der miserablen Wege nicht schnell genug nach Armenien gesandt werden. Und dann: ich war (so fügte der Senator hinzu) heute im Senat und sprach nachher mit J. Pascha und mit einem Minister und bemerkte, daß namentlich im Senat die Befürchtung herrscht, daß unsere in Armenien kämpfenden Truppen, falls sie bei Erserum durch ihren raschen Rückzug ihre Vorräte im Stich lassen mußten, verhungern werden, ja daß einzelne Detachements durch Hunger gezwungen werden, sich zu ergeben. Nein, so schloß er, allein befürchte ich, werden wir uns in Armenien auf die Dauer in einem Erschöpfungskrieg nicht halten können. Unsere einzige Rettung ist, entweder Deutschland schickt uns direkt Truppen, oder macht eine energische Offensive gegen die bessarabische Front, um die Russen dorthin von uns abzulenken.“ Und er meinte noch: „Wenn es den Russen und Engländern gelingen sollte, sich in Mesopotamien zu vereinigen, so wäre es geschehen um unsere asiatische Türkei.“ Ich habe bei dieser Unterredung kein Wort übertrieben oder hervorgehoben. Ganz interessant ist es auch, daß derselbe Senator mir sagte, er sei bei seinen Verpflichtungen zu repräsentieren heute nicht mehr imstande, bei den Hungersnotpreisen und der allgemeinen Teuerung mit seinem Gehalt auszukommen; für seine 3 Dienstboten könne er, als Senator, täglich nur zweimal 1/2 Brot erhalten, und so ginge es mit allem. Nochmals hebe ich hervor, daß der Mann, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten Konstantinopels, durchaus nicht zu den Unzufriedenen gehört; ein naher Verwandter von ihm ist sogar Minister!

Aus anderer Quelle höre ich, daß Flecktyphus unter der „Kaukasusarmee“ sowohl wie unter den Iraktruppen sehr verbreitet ist, d.h. neuerdings wieder, nachdem die Seuche sehr nachgelassen hatte. Nach Konstantinopel sind etwa 50 Fälle verschleppt worden. Die IV. Armee (Syrien) scheint flecktyphusfrei zu sein. In der Hauptstadt wütet unter den von den Dardanellen zurückgekommenen Truppen, soweit diese nicht schon nach Asien abgesandt sind, die Dysenterie, die Hospitäler sind nach wie vor überfüllt! Unterleibstyphus kommt hier ebenfalls vielfach vor, allein in deutschen, der Botschaft nahestehenden Kreisen weiß ich aus letzter Zeit 5 Fälle, davon 3 ziemlich schwer. Gesundheitlich ist das Bild also auch nicht gerade ein glänzendes.

Das Wesentliche ist aber, wenn man die noch vorhandene Widerstandskraft der türkischen Armee gegen eine entschlossene russische Offensive beurteilen will, zu wissen, daß das Land und die Armee nicht mehr genügend ernährt sind. Der Soldat bekommt in Armenien nicht mehr so zu essen, wie letzten Sommer an den Dardanellen. Die Besorgnis, vor Hunger Teile der Feldarmee zu verliefen, spricht Bände. Sehr schlimm ist auch der fast völlige Mangel an Fourage; die Tiere sind teilweise in einem miserablen Futterzustand, was rechtzeitiges Heranbringen der militärischen Transporte sehr erschwert, während gerade in dieser Beziehung die Russen über eine große Überlegenheit verfügen. Was an den hier umlaufenden Gerüchten wahres ist, daß die Russen schon durch Besetzung von Trapezunt und Kersaund [Kerasund] den rechten Flügel ihrer Armee vom Meere aus verpflegen können, läßt sich noch nicht feststellen; es scheint nur sicher zu sein, daß Trapezunt von der Russenflotte in Trümmer geschossen ist. Wenn die Russen sich vom Meere aus verpflegen können, ist ihr Vorteil über die auf die kurze Eisenbahn nach Angora angewiesene türkische Armee ein ungeheurer. Die Herrschaft der Russen im Schwarzen Meer ist leider jetzt unbestritten.

Nun zur syrischen Armee. Enver Pascha hat sich, wie ich authentisch höre, nach Damaskus begeben. Ob dies ursprünglich sein Plan war, oder ob er sich von Bosanti (Taurus) vielmehr nach Norden (Siwas - Armenien) hatte begeben wollen, weiß ich nicht. Tatsache ist, daß er in Syrien weilt, während es in Armenien so schlimm steht. Von arabischer Seite höre ich nun (direkt) merkwürdige Sachen aus Syrien. Man spricht von zwei Attentatsversuchen gegen Dschemal Pascha, von etwa 100 Hinrichtungen durch den Strang, von einer noch größeren Anzahl von Verurteilungen in contumaciam. Es handelt sich um eine Fortsetzung der von mir seiner Zeit mitgeteilten separatistischen arabischen Bewegung. Dieselben Araber, die meine Gewährsleute sind, versichern mir nun, daß an dieser angeblichen aufgedeckten Verschwörung nichts Wahres ist. Ich will das gerne insofern glauben, als das arabische Element, weil seit langem entwaffnet, ohnmächtig ist. Innerlich zuverlässig ist es nicht ganz. So wenig man aber an die Möglichkeit einer Erhebung der ja etwas separatistisch gestimmten syrischen Araber glauben kann, so liegt doch jedenfalls etwas vor, was namentlich in Anbetracht der Möglichkeit englisch-französischer Landungen an der syrischen Küste, es den Türken nicht ratsam erscheinen lassen wird, die IV. Armee ganz oder teilweise nach Armenien zu entsenden. Im Zusammenhang mit dem von oben genannten Senator Gesagtem gewinnt diese Tatsache eine gewisse Bedeutung. Es ist nun natürlich sehr schwer, die Wahrheit über die augenblickliche Aufstandsbewegung in Syrien sofort zu erfahren. Die Türken sprechen nicht gern von solchen Dingen. Etwas los ist sicherlich! Man nimmt auch hier an, daß Enver Pascha, der mit Dschemal Pascha sehr schlecht steht, die Gelegenheit benutzt hat, selber einzugreifen und Dschemal wegen seiner Haltung, vielleicht wegen seiner allzu drakonischen Strenge, Vorwürfe zu machen. Wir dürfen aus dem Gegensatz der beiden nun, da sie in Damaskus zusammen sind, noch auf Komplikationen und Neuigkeiten rechnen.

Allgemein gesprochen, fürchtet man türkischerseits nichts mehr als die Russen. Man hat daher auch, weil man weiß, wie die Bevölkerung denkt, den Fall von Erzerum (25.II.) bisher noch nicht amtlich zugestanden! Nachdem man zunächst 8 Tage lang gesagt hatte: „Von den verschiedenen Fronten keine Meldung über eine wichtige Änderung“ sagte man dann: „Die ununterbrochenen fortdauernden Kämpfe haben noch nicht zu einem klaren Ergebnis geführt“ (dies 7 Tage nach dem Fall von E.!!!) und ist jetzt wieder zu ersterer Phrase zurückgekehrt. Es macht das sehr schlechten Eindruck!! Engländer und Franzosen zusammen machen lange nicht den Eindruck auf die Türken als ihr mächtiger, an Zahl überwältigend starker Erbfeind. Mit ängstlicher Miene frägt man sich, ob es wohl der strategische Plan der Russen sein werde, mit großen Kräften in Armenien noch weiter vorzugehen. In diesem Falle, dem man bei aller Energie Nikolai Nikolajewitsch’s und in Anbetracht der Notwendigkeit für Rußland, endlich etwas gegen die Türkei zu tun, ja der Wahrscheinlichkeit, daß es nun nach gründlicher Vorbereitung und nach dem Scheitern des Dardanellenunternehmens, selber an die Lösung der für es so wichtigen Frage von Konstantinopel gehen will, leider befürchten zu müssen glaubt, neigt man ziemlich allgemein zu Pessimismus. Man traut der eigenen Kraft dort nicht mehr genug zu, um nach 15 Monaten Erschöpfungskrieg seiner Sache noch sicher zu sein und erwartet im Falle weiteren russischen Vordringens Hilfe durch eine die Russen ablenkende deutsche Offensive

[Dr. Stuermer]



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