1921-04-25-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA//NL/Rößler/Bd.1
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/30/2012


Der ehemalige Konsul in Aleppo Walter Rößler an Johannes Lepsius

Privatschreiben



Eger, den 25. April 1921

Sehr geehrter Herr Dr. Lepsius!

Das mir gütigst übersandte Buch von Aram Andonian über die armenischen Massakres habe ich erhalten und mich durch seine Lektüre sehr lebhaft nach Aleppo zurückversetzt gefühlt. In der nachfolgenden Besprechung werde ich zunächst einige Vorbehalte machen und dann auf den Wert des Berichtes von Naim Bey und der Dokumente eingehen.

Der Verfasser ist meiner Ansicht nach nicht fähig, objektiv zu sein, sondern lässt sich von der Leidenschaft hinreissen und schreibt ausserdem mit gewisser Tendenz, die wie wir ja leider gewohnt sind, gegen Deutschland geht. An den verschiedensten Stellen des Buches schreibt er in der gehässigsten Weise über Deutschland, dagegen unterdrückt er im allgemeinen die Nachrichten über deutsches Einschreiten zu Gunsten der Armenier. Wenn er einmal nicht anders kann, als das deutsche Dazwischentreten anzuerkennen, so sucht er die Wirkung durch Zusätze abzuschwächen. Wenn das Telegramm von Enver Pascha S. 158 echt ist, so ist die deutsche Einwirkung von der er spricht, von der grössten Wichtigkeit und dem durchschlagensten Erfolge gewesen. Der Verfasser führt sie auf Liebknecht und Ledebur zurück! Erkennt er die Intervention der Anatolischen und Bagdadbahn an, so sind es nur Schweizer gewesen, die er anführt. Nur Seite 51 spricht er allgemein von „den Ingenieuren“, schränkt aber den Eindruck gleich wieder durch die Anmerkung ein, in der er einem Schweizer Lob zollt. Vom Werk der Schwester Beatrice, von Schwester Paula Schäfer, von Urfa und Marasch kein Wort! Die Tatsache dass grosse Mengen von Armeniern nach Der-es-Sor getrieben worden sind, sucht er auf deutsche Veranlassung zurückzuführen (Seite 56) und behauptet, dass die Zusammenstellung der Armee Yildirim die Ursache dazu gewesen sei. Er vergißt hierbei, dass die Vertreibung nach Der-es-Sor in die Jahre 1915 und 1916 fällt, dass die Armee Yildirim aber erst im Sommer 1917 zusammengestellt worden ist. Hier könnte dem Verfasser vielleicht eine Verwechslung mit militärischen Wünschen untergelaufen sein, die von deutscher Seite in den Jahren 1915 und 1916 ausgesprochen sein mögen und die darauf abzielten, eine Verseuchung der Eisenbahn durch die erkrankten Vertriebenen zu verhindern, ein Bestreben, das bekanntlich nur zum Teil Erfolg hatte. Solche Wünsche wurden aber mit der grössten Rücksicht auf die Armenier geäussert und vielmehr direkt zu dem Versuche benutzt, den Armeniern zu helfen und sie in einiger Entfernung von der Eisenbahn 10 bis 20 km festzuhalten, wie in Bab, um ihre Verpflegung von der Eisenbahn aus zu ermöglichen.

In der Datierung der veröffentlichten Dokumente laufen gelegentlich Fehler unter, die das ganze Dokument unmöglich machen würden, doch handelt es sich offensichtlich um Irrtümer. Das Dokument Seite 132 des Buches hat einen Sinn, wenn es vom 15. Januar 1916 datiert ist und nicht vom 15. Januar 1915. Ebenso wie das Dokument Seite 133 Nr. 853 vom 23.1.1916 datiert sein muß und nicht vom 23.1.1915. Ähnlich ist Seite 148 Dokument Nr. 762 der Fehler offenbar. Dort ist ein Telegramm vom 17.12.1915 als Antwort auf ein Telgramm vom 2.12.1916 angeführt. Seite 72 steht im Text 20. Januar 1917, im Telegramm dagegen 20. Januar 1916.

Die Zusammenhänge sind von dem Verfasser nicht immer klar erfaßt. Die Darstellung springt besonders in Kapitel III (Die Massakres von Dre-es-Sor [Der-es-Sor]) andauern hin und her und scheint an vielen Stellen nur von dem Bestreben diktiert, alle Dokumente, die vorlagen, auch in die Darstellung zu verweben (z.B. Tel. Seite 70 passt nicht in den Zusammenhang).

Von diesen Ausstellungen abgesehen muß ich sagen, dass der Inhalt des Buches in seinen einzelnen Zügen einen glaubwürdigen Eindruck macht und dass die veröffentlichten Dokumente verglichen mit dem Hergang der Dinge durchaus die innere Wahrscheinlichkeit für sich haben. Viele mir bekannte einzelne Züge sind unbedingt zutreffend geschildert, andere mir bis dahin nicht bekannte geben die Erklärung für Erscheinungen, die ich beobachtet habe und mir damals nicht erklären konnte. Das trifft z.B. auf die Tatsache zu, dass von Meskene aus eine zeitlang eine Menge Armenier nach Aleppo zurückkehrten. Die Erklärung wird jetzt von dem Verfasser durchaus glaubwürdig auf Seite 13 des Buches dahin gegeben, dass Naim Bey ebenso wie der Mudir von Meskene Hussein Bey die ihnen erteilten grausamen Befehle nicht ausführten. Ich glaube mich selbst des Hussein Bey zu erinnern, jedenfalls gab es einen Moment, in dem ich durch ein Empfehlungsschreiben nach Meskene erreichte, dass sechs aus einem amerikanischen Seminar vertriebene Armenierinnen die Erlaubnis erhielten, nach Aleppo zurückzukehren.

Der Verfasser nennt in seinem Vorwort das Verschickungskommissariat (Sousdirection générale des déportés sise à Alep) die hauptsächlichste Organisation für die Verschickung. Darin wird er Recht haben. Als der Verschickungskommissar aus Konstantinopel ankam, und ich im ersten Augenblick glaubte, es handelte sich um das Bestreben, die Versorgung der Verschickten mit Lebensmittel zu organisieren, überhaupt für sie ein wenig zu sorgen, und mich mit der Bitte an den Verschickungskommissar wandte, einige Armenier, die in deutschen Diensten gestanden hatten, freizugeben, schlug er dieses in der schroffesten Weise ab und sagte mir in einem unsagbar hochmütigen Tone, den ich nie vergessen werde: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons. Nous voulons une Arménie sans Arméniens“. Damit hatte er, wie jetzt aus dem Buche von Andonian hervorgeht, seine Aufgabe umschrieben. Den Namen des Kommissars habe ich allerdings vergessen, aber es muß Abdul Ahad Nuri Bey gewesen sein, wenn es nicht sein Vorgesetzter Schukri Bey war [Vahakn N. Dadrian hält (in „The Naim-Andonian Documents on the World War I Destruction of Ottoman Armenians: The Anatomy of a Genocide“, siehe dort Fußnote 55) Schükri für den Autor, weil Abdulahad Nuri nicht gut genug Französisch sprach, während Schükri diese Sprache beherrschte. Für den Index wird deshalb sowohl Abdulahad Nuri als auch Schükri als Autor dieses Ausspruches notiert.], der vor ihm sich eine zeitlang in Aleppo aufhielt. Ebensowenig entsinne ich mich des Namens Naim Bey, was nicht weiter zu verwundern ist, da ich mich gegenüber den Verschickungsbeamten sehr zurückhalten mußte und nur durch Mittelspersonen intervenieren konnte. Dagegen entsinne ich mich sehr wohl des Eyub Bey, der die Verschickung vor dem Eintreffen des Konstantinopoler Kommissars in der Hand hatte und diesem später zugeteilt blieb. Seine Charakteristik in dem Buche halte ich für durchaus zutreffend.

Die Telegramme aus Konstantinopel enthaltend die Verfügungen des Ministeriums des Innern sind in ihrer Echtheit natürlich sehr schwer nachzuprüfen, denn sie geben ja nur die Handschrift des Telegraphenbeamten oder des Schreibers, der die Entzifferung besorgte. Dagegen glaube ich mich der Unterschrift des Wali Mustafa Abdul Chalik Bey zu entsinnen. Jedenfalls wird ja diese Unterschrift in Aleppo nachzuprüfen sein, und dadurch würde zugleich ein indirekter Beweis für die Echtheit der Telegramme des Ministeriums des Innern erbracht werden. Der Verfasser teilt die Dokumente (Seite 16) in solche, die Naim Bey aufbewahrt hat, und in solche die er aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe, (transcrite au fur et à mesure de ses souvenirs). Die Möglichkeit dass Naim Bey amtliche Dokumente in seinem Privatbesitz zurückbehalten habe, anstatt sie zu den Akten zu geben, ist durchaus zuzugeben. Die Türken haben ihre Akten m.W. nie geheftet. Zwar bestand bei manchen Behörden ein ganz gut geordnetes Registraturwesen, doch ist sehr zweifelhaft, ob sie bei einer so vorübergehenden Behörde, wie dem Verschickungskommissariat, noch dazu bei der Natur von dessen Tätigkeit, irgendwelchen Wert auf Aktenwesen gelegt haben. Die als Originaldokumente bezeichneten könnten also durchaus echt sein. Was die aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen betrifft, so müßte man die Persönlichkeit Naim Bey’s kennen, um ein Urteil über den Grad der Zuverlässigkeit abgeben zu können. Ein innerlich unwahrscheinliches ist mir auch unter diesen nicht begegnet. Vielmehr finden die Tatsachen, die ich kenne, durch die Dokumente eine gute Erklärung. Auch ihre Fassung spricht eher für ihre Echtheit als für das Gegenteil.

Über die Echtheit oder Unechtheit des ausserordentlich wichtigen, allen Verschickungen vorangehenden Briefes des jungtürkischen Komitees an seinen Vertreter in Adana Djemal Bey vom 18. Februar 1915 (Seite 96 des Buches), sowie über die übrigen Briefe des jungtürkischen Komitees vermag ich nichts zu sagen, wüßte auch keinen Weg, wie ihre Echtheit nachzuprüfen wäre.

Ich stelle ergebenst anheim, auch Schwester Beatrice Rohner um eine Äusserung zu bitten. Sie hat mit den Verschickungskommissaren wohl mehrfach direkt zu verhandeln gehabt. Eyub Bey kennt sie persönlich. Ob sie auch Naim Bey kennt, oder Abdul Ahad Nuri Bey, kann ich nicht sagen. Jedenfalls wird ihre Äusserung von Wert sein. Auch Konsul Hoffmann derzeit bei der Paßstelle des Auswärtigen Amtes, Behrenstrasse 21 wird möglicherweise ein begründetes Urteil abzugeben in der Lage sein.

Noch einige Einzelheiten zu den Angriffen des Verfassers auf Deutschland. Die Photographie hinter Seite 56 „Gott strafe England“ stellt die Mannschaft des Kreuzers „Emden“ auf einem ihr zu Ehren von den Deutschen Aleppos gegebenen Gartenfest dar, bedeckt mit arabischen Kopftüchern, wie sie sie nach Verlust ihrer eigenen Matrosenkleider zum Schutze gegen die Hitze in Arabien zu tragen gezwungen war. Auch hatte der Wali von Aleppo Offizieren wie der Mannschaft zum Empfang neue Kopftücher geschenkt und einigen auch Mäntel, die sie hier gerade anhaben. Dass Angehörige der deutschen Marine, die von den Engländern so viel gelitten hatten, sich eine Tafel mit den Worten „Gott strafe England“ erwählten, um sich darunter photopraphieren zu lassen, ist am Ende verständlich. Die Photographie wird vom Verfasser in einen ganz falschen Zusammenhang gestellt. Mücke kam schon im Mai 1915 durch Aleppo durch. Mit Propaganda unter den Arabern, um sie zum Kampfe gegen die Engländer zu treiben, hatte dieses nichts zu tun. Die Emdenmannschaft war sogar auf die Araber recht wenig gut zu sprechen. Hatten sie doch gegen die Araber fechten müssen und drei Mann verloren, wie man in Mückes Ayescha nachlesen kann. Über die Propaganda die der Verfasser Frau Koch nachsagt, bin ich nicht genau unterrichtet. Durch meine Hand ist eine zum heiligen Krieg auffordernde arabische Broschüre, aus der eine Seite auf Seite 60 des Buches von Andonian photographiert worden ist, nicht gegangen. Es könnte aber sein, dass hier einmal eine Ungeschicklichkeit von deutscher Seite begangen worden ist; und es könnte auch sein, dass eine Broschüre, die nur für Nordafrika bestimmt war, sich nach Aleppo verirrt hat.

Für Ihre Mitteilungen über den Stand der Aktenpublikation sage ich Ihnen aufrichtigen Dank. Der Grund wäre dann gelegt. Damit aber der uns so bitter nötige Erfolg eintritt, auch die Welt von der Unwahrheit der Grundlagen des Versailler Friedens zu überzeugen, müßte eine unermüdliche Kleinarbeit einsetzen, um der Wahrheit zum Sieg in der Meinung der Welt zu verhelfen.

In alter Hochschätzung


der Ihre



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