1915-06-05-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 19992
Zentraljournal: 1915-A-20486
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 07/02/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: K. Nr. 59/B. Nr. 1176
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Konsul in Aleppo (Rössler) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Aleppo, den 5. Juni 1915

Euer Exzellenz ueberreiche ich gehorsamst in der Anlage Auszug aus einem erst heute zugegangenen Privatbrief aus Urfa vom 27. April, der zwar nicht zur Weitergabe bestimmt war, der aber ein gutes Bild gibt, wie es im Innern aussieht, und der wegen seiner Frische und Urspruenglichkeit vielleicht verdient, gelesen zu werden. Gleichen Bericht lasse ich der Kaiserlichen Botschaft zugehen.

Rößler
Anlage
Urfa, den 27. April 1915.

Auszug eines Briefes aus Urfa.

[unleserlich] Die Aushebung von Soldaten wird auch hier permanent betrieben und ist eine gute Einnahmequelle fuer den Kommandanten und die Aerzte, welche es verstehen, Geld zu machen. Das Bestechungswesen, eines der Grunduebel, an dem die alte, nicht jung werdende Tuerkei leidet, floriert praechtig. Viele Christen werden zum Frohndienste beim Strassenbau Urfa-Tell Abiad verwendet. Trotzdem aber duerfte es auch dieser Strasse ergehen, wie allen anderen, welche der Staat zu bauen begann. Sie werden nie fertig werden.

[unleserlich, vermutlich „Politisches“]…isches: So oft die Regierung Siege feiert, beflaggen wir unser Spital. Jedesmal kommt dann auch die Musik und spielt im Spitalhofe einige Stuecke. Eine Zeitlang war die Lage der Christen hier recht Besorgnis erregend. Bei einem Gange in die Stadt wurde ich dreimal angehalten von befreundeten Moslems, welche auf vor mir hergehende Christen wiesen als auf „Dewlet-chaini“ Landesverräter. Dabei ueben ja auch die Moslems permanenten Landesverrat, indem sich jeder vom Militaerdienst zu druecken versucht und vor Bestechung gar nicht zurueck schreckt. Nach und nach sickerten dann allerlei Geruechte von Doertjol und Zeitun durch, von denen man nicht weiss, wieviel daran Wahres ist. Von Zeit zu Zeit werden ja auch wir hier an das Wort der Pharisaer erinnert: „Nur das Volk das nichts weiss ist verflucht“. So ging meine Frau kuerzlich ueber die Strasse und kam in einen Trupp tuerkischer Frauen hinein. Eine dieser Mosleminnen sagte meiner Frau: „Ach wenn doch die Stunde bald kaeme, dass wir auch Deutsche und Auslaender alle massakrieren koennten! Ihr habt uns in diesen Krieg hineingezogen!“ Lachreizend sind auch die Ansichten, dass in Deutschland viele mohamedanische Soldaten mitkaempfen, welche dem Mohamed Selah bringen, denn sonst waeren ja diese Siege undenkbar. Des ferneren soll Kaiser Wilhelm bereits die mohamedanischen Gebetsuebungen verrichten und nach dem Kriege werde Deutschland den Islam annehmen. Auf meiner Bagdadreise hat mein bereits sehr schwacher Glaube an die Restauration der Tuerkei den letzten Stoss erhalten. Der Major Hafis Bey und der Hauptmann Hamdi Bey haben dies besorgt. Nafis Bey ist eins der jungtuerkischen Haeupter, aber er und sein Kollege haben sich so bitter ausgedrueckt ueber die christlichen Untertanen, dass ich die Lage der Armenier eigentlich gut begreife.

Diese befuerchten, dass nach einem Siege der Tuerkei ihre Lage keine Besserung erfahre, daher ihre Zurueckhaltung. Und ich sage nun, wenn die Türkei gewinnt und sie selbst weiter regieren soll, dann erfaehrt die christliche Lage im Osmanenreiche keine Besserung, sondern eher eine Verschlechterung. Eins troestet mich nur, der Gedanke, dass jetzt viele deutsche Offiziere doch hinter die Kulissen sehen werden und die dann zur gleichen Ansicht kommen, dass die Tuerkei, sich selbst nie restaurieren wird. Sie wird ja wieder Geld benoetigen, wer wird es geben? Die Deutschen! Aber diese wissen nun, dass mit bloss Geld geben, der Tuerkei nicht geholfen ist, auch Leute muessen her und diese werden trotz tiefinnerlichem Widerstraeuben der Tuerkei sich eben doch im Lande ueberall festsetzen und so den groessten Beitrag zur endlichen Restaurierung der Tuerkei abgeben.

[unleserlich, vermutlich Wirtschaftliches:] Die einheimischen Erzeugnisse sind in Urfa meist derart im Preise gesunken, dass wir noch nie einen solchen Tiefstand erlebten: Gerste, Weizen, Butter, Wolle, sie alle sind zu Spotpreisen zu erhalten. Natuerlich sind dagegen die ueblichen und gebraeuchlichsten Artikel, welche das Ausland liefert, kaum mehr erhaeltlich, wie Kaffee, Zucker, Petroleum usw und haben Hoechstpreise erzielt, die den frueheren Preis um das 3 - 4 fache uebersteigen. Die neue Ernte wird sehr reichlich ausfallen, infolge saettigender Niederschlaege. Heuschreckenfurcht infolge reichlichem Gras sehr gering.

Herr Franz Eckart und ich haben schon manchen Vortrag in der armenischen Kathedrale ueber den Krieg gehalten und dadurch aufklaerend und vielleicht auch beruhigend gewirkt.

[Unleserlich:] Immer haben wir genug Arbeit, wenn auch nicht sehr viel Patienten im Spital. In den Januartagen pflegten wir auch 32 tuerkische Soldaten im Spital in zusammen 205 unentgeltlichen Tagen. Unser Arzt leistete fortwaehrend unentgeltliche Dienste als Aushebungsarzt dem Staate und als Mitglied der Gesundheitskommission. Von der Sammlung für den Roten Halbmond, welche seinerzeit meine Frau unter den Frauen Urfas durchgefuehrt hat und welche 7000 Piaster abwarf, glaube ich Ihnen frueher berichtet zu haben. Die amtliche Erlaubnis fuer unser Spital ist bis heute noch nicht angekommen.

[Unleserlich] ...e: Die Deutsch-tuerkische Schule hat durch die Aushebung von Melikian zum Soldatenstand einen schweren Stoss erhalten. Doch wird sie weiter gefuehrt mit zwei Lehrern, Herr Abdul Kerim sorgt dafuer, dass die deutsche Sprache nicht vergessen wird. Nach dem Kriege muss die Deutsche Orientmission das Schulwesen in Angriff nehmen und deutsche Lehrkraefte anstellen. Damit aber bis dahin die deutsche Sprache nicht wieder eingeht, habe ich mich an das Seminar Unterstrass in Zuerich gewandt, um Ueberlassung einer Lehrkraft. Die Verhandlungen sind im Gange. Werde Ihnen dann das Resultat gern mitteilen. Herr …., Ottomane, welcher vom Militaer desertierte, arbeitet seit Januar am Bahnbau und hat auch einen Passierschein erhalten. So etwa geschieht eben nur in der Tuerkei.


[J. K.] [Jakob Künzler]



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