1915-03-10-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20180
Zentraljournal: 1915-A.S.-1107
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 03/16/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Telegraphischer Bericht



Nr. 146.

Pera, den 10. März 1915.

Abschrift

Geheim.

Je länger der Krieg dauert, um so klarer wird es, daß die Haupttriebfeder des Krieges Rußland ist, und daß dieses den Feldzug nicht wegen Serbiens gegen Österreich, sondern wegen Constantinopels gegen Deutschland führt. Die österreichische Balkanpolitik war nach russischer Ansicht mit dem Ausgange des Balkankrieges vollständig zusammengebrochen. Österreich, so meinten die Russen, hätte schon mit der Annexionserklärung Bosniens und der Herzegowina, indem es den Berliner Vertrag zerbrach, den Ast abgesägt, auf dem es saß. Dadurch, daß Österreich sich feierlich Gebiete aneignete, die es vorher schon besaß, und dieses Geschäft mit der Abtretung des Sandschak bezahlte, war Italien der Vorwand für den lybischen Krieg gegeben, während der wieder türkisch gewordene Sandschak die Kooperation Serbiens mit seinen Bundesgenossen ermöglichte, die zur Folge hatte, daß das sogenannte österreichische Interessengebiet am Balkan so gut wie verschwand. Die Russen dachten nach dem Balkankrieg sehr geringschätzig über Österreich und moquierten sich über die Tränen, die es den fortgeschwommenen Fellen nachweinte. Noch im vorigen Frühjahr bezeichnete mir Herr v. Giers einen österreichisch-russischen Krieg als vollkommen ausgeschlossen, niemals werde Rußland als Protektor der Balkanslaven das Schwert gegen Österreich ziehen, es sei sogar bereit, am Balkan sich ganz zu desinteressierten, falls Österreich dasselbe tue. Aus meinen Berichten vom vorigen Frühjahr werden Euere Exzellenz entnommen haben, daß schon zu jener Zeit das russische Interesse sich ausschließlich auf Constantinopel konzentrierte. In Petersburg hegte man den Glauben, daß Deutschland die Türkei nur deshalb militärisch stärken wolle, damit Rußland der Weg durch die Meerengen versperrt bleibe.

In der Aktion gegen unsere Militärmission kam diese Besorgnis deutlich zum Ausdruck. Aus dieser sind auch die Annäherungsversuche hervorgegangen, welche Herr v. Giers im März vorigen Jahres bei mir unternahm. Es ist wohl heute als feststehend zu erachten, daß Herr v. Giers schon damals die Kriegsgefahr voraussah. Er wollte den Krieg durch eine Aussprache mit uns und womöglich durch einen Rückversicherungsvertrag gegen Österreich sowie eine Verständigung über die Meerengenfrage verhüten. Die damals zwischen uns und England schwebenden Verhandlungen haben wohl verhindert, daß auf die Giers’schen Anregungen eingegangen wurde. In Rußland hatte man sich dagegen von der hier geschaffenen Anbahnung einen Erfolg versprochen, und auch Herr v. Giers, der sich damals als zukünftiger auswärtiger Minister fühlte, hatte seiner Umgebung die Hoffnung ausgesprochen, daß es ihm gelingen werde, eine dauernde Vereinbarung mit Deutschland zu erzielen. Die Antwort von Berlin blieb aus. Kurz darauf begannen die russischen Truppenbewegungen gegen unsere Grenze. Ich selbst habe damals den Eröffnungen des Herrn v. Giers nicht die Bedeutung beigemessen, welche ihnen zweifellos innegewohnt hat. Aus dem Schweigen Deutschlands dürfte man in Petersburg den Schluß gezogen haben, daß die russische Beurteilung der deutschen Politik in Constantinopel richtig sei. Um die Meerengen zu retten, suchte man fortan nach einem Kriegsvorwand und fand ihn in der serbischen Frage.

Im Laufe des Feldzuges hat das Kriegsziel wiederholt bei uns gewechselt. Wir glaubten zuerst, den slavischen Ansturm auf den Germanismus zu bekämpfen, dann wandte sich unser Haß gegen England, weil dieses angeblich unsere Weltstellung vernichten wollte. Erst jetzt wird offenbar, daß der Kampf in Wirklichkeit um Constantinopel entbrannt ist. England und Frankreich erscheinen nur als die Sekundanten Rußlands, wobei jedes der beiden Länder natürlich diejenigen Sonderziele verfolgt, die ohne Weltkrieg für sie unerreichbar gewesen wären.

Eins ist nach dem bisherigen Verlauf des Krieges wohl als sicher anzunehmen, nämlich daß der Krieg nicht bis zur völligen Erschöpfung einer Partei durchgekämpft werden wird, sondern durch einen Sonderfrieden seinen Abschluß erreichen wird. England wird keinen Frieden schließen, falls wir nicht auf die Nordküste Belgiens verzichten, und Frankreich dürfte das Schwert nicht eher niederlegen, als bis England Frieden schließt. Dagegen dürfte Rußland zu einem Sonderfrieden geneigt sein, wenn es eine seinen Interessen konvenierende Lösung der Meerengenfrage erreicht. Diese Lösung kann nur darin bestehen, daß es Garantien erhält, daß ihm der Weg ins Ägäische Meer nicht durch die von Deutschlands gestärkte Türkei verlegt wird. Augenblicklich sind Frankreich und England bemüht, sich in den Besitz der Meerengen zu setzen, angeblich um Rußland den Weg nach Constantinopel zu öffnen, in Wirklichkeit aber, um an die schließliche Übergabe der Meerengen Bedingungen zu knüpfen, welche Rußland die freie Durchfahrt erschweren würden. Es ist undenkbar, daß England Rußland gestatten würde, das Schwarze Meer als Arsenal einer mächtigen Flotte einzurichten, mit welcher in absehbarer Zeit der englische Besitzstand im Mittelmeer und die Weltstellung Englands bedroht sein würde. Von seinen Verbündeten kann Rußland nie die Erfüllung seiner idealen Wünsche erhoffen. Diese Überzeugung, von der auch Herr Giers durchdrungen war, dürfte auch heute noch bei den russischen Staatsleitern bestehen. Dagegen scheint es mir heute noch nicht ausgeschlossen, daß Rußland an das Ziel seiner Wünsche durch Deutschland gelangen könnte. Herr v. Giers schlug mir im vorigen Jahre vor, es solle zwischen Rußland, Deutschland und der Türkei ein Dreivertrag geschlossen werden, wonach Rußland die freie Benutzung der Meerengen eingeräumt werden sollte unter der Garantie Deutschlands, welches der Türkei gegenüber die Verantwortung dafür zu tragen hatte, daß Rußland mit der Benutzungserlaubnis keinen Mißbrauch treibe und sich an der territorialen Integrität der Türkei nicht vergreife. Deutschland solle sich dann in der Türkei militärisch und wirtschaftlich nach Gutdünken betätigen dürfen. Herr v. Giers und seine näheren Freunde dürften auch heute noch an einer derartigen Lösung festhalten. In unverbindlichen, vertraulichen Gesprächen mit dem Großwesir ist diese Lösung wiederholt von mir erörtert worden. Der Großwesir zeigte sich einer Verständigung mit Rußland unter Garantie Deutschlands keineswegs abgeneigt. Ich bin daher der unmaßgeblichen Meinung, falls die an uns herangetretenen Sondierungen Rußlands wegen eines Separatfriedens präzisere Form annehmen sollten, wir ohne Besorgnis vor türkischen Verstimmungen auf die Giers’schen Gedanken zurückgreifen könnten. Es kann mit der Zeit nicht ausbleiben, daß man in Rußland darüber nachzudenken beginnt, wo eigentlich die Kräfte liegen, die Rußland den Zutritt zum freien Meere blockieren. Sobald man in Rußland einsieht, daß die Meerengenfrage nur einen Teil der großen Frage der Freiheit der Meere bildet, wird man auch allmählich die Identität der Lebensinteressen Deutschlands und Rußlands erkennen. Was Deutschland jetzt durch die Blockierung der Nordsee erleidet, muß bei einem russisch-englischen Kriege auch Rußland treffen. Die nordische Meerengenfrage ist für Rußland wichtiger als die Dardanellenfrage. Nur ist jene augenblicklich für Rußland nicht akut. In Wirklichkeit müssen die vitalen Interessen Rußland und Deutschland mit der Zeit zusammenführen zu einer gemeinsamen Bekämpfung jener Macht, welche uns die freie Benutzung der Meere bestreitet, nämlich England.


[Wangenheim]



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