1921-04-20-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/NL\Rößler\Bd. 1
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/30/2012


Der ehemalige Konsul in Aleppo Walter Rößler an Johannes Lepsius

Briefentwurf



[Handschriftliches] Konzept. [Datum des Dokuments ist geschätzt. Das Konzept müßte nach dem Empfang des Briefes von Lepsius (Absendedatum: 13.4.1921) und vor dem Datum der offiziellen Antwort von Rößler an Lepsius (25.4.1921) liegen.]
Um die Frage beantworten zu können, ob ich für möglich halte, daß die türk. Regierung die Vernichtung absichtlich herbeizuführen gesucht habe, sei es gestattet, sich die politische Lage zu gegenwärtigen, wie sie bei Ausbruch des Weltkrieges war. Man muß sich dabei in erster Linie vor Augen halten, daß die arm. Frage für die Türkei ungeheuer gefährlich war. Sie konnte u. sollte von Rußland benutzt werden, um die Türkei zu zerstückeln. Unmittelbar nach Beendigung des Balkankrieges, zu welchem Rußland vom Balkan aus den Hebel zur Zerstörung der Türkei angesetzt hatte u. noch ehe der Balkanfrieden abgeschlossen war, rollte Rußland die arm. Reformfrage auf. Sie endete mit einer russischen–türkischen Vereinbarung vom 8. Febr. 1914, nach deren Abschluß der russische Geschäftsträger in Cospoli folgendermaßen berichtete .............. .

Die türk. Reg. war sich daher nicht im Unklaren, daß die Aufrollung der armen. Reformfrage durch Rußl. die Vorbereitung der Okkupation sein sollte. Ich halte in der Tat für möglich, daß ein türk. Minister um dieser schweren, drohenden Gefahr zu begegnen, zu dem verzweifelten Mittel orientalischer Politik gegriffen hat, die Armenier auszurotten. Die Ausrottung ist tatsächlich erfolgt, wenigstens ist anzunehmen, daß von den viell. 1 ½ Mill. Armeniern, die es vor dem Kriege in der Türkei gegeben haben mag, mehr als 1 Mill. infolge der Politik der Reg. umgekommen sind. Dieses Ergebnis wäre nicht möglich gewesen, wenn die Ausrottung nicht die durch 4 Jahre hindurch während des Weltkrieges bewußt verfolgte Politik der Regierung gewesen wäre. Aus diesem Grunde haben meiner Überzeugung nach die in dem Buch von Aram Andonian veröffentlichten Befehle Talaat Paschas die innere Wahrscheinlichkeit ihrer Echtheit für sich.

Ich habe im Juniheft 1919 der Preuß. Jahrblätter einen Artikel „Armenier u. Türken“ unter dem Pseudonym „Ferdinand Winfrid“ veröffentlicht, in dem ich versucht habe, das politische Verhältnis zwischen den beiden Völkern bei Ausbruch des Weltkrieges objektiv darzustellen. Aus diesem Aufsatz geht ein doppeltes hervor: 1. wie ungeheuer gefährlich die arm. Frage für die Türkei geworden war, da Rußland am Werke war, sie als Mittel zur Zerstücklung der Türkei zu benutzen. 2. Die hoffnungslose Lage der Armenier, die etwa 1 ½ Millionen, als die, die von Rußl. als Sturmbock geg. die Türkei benutzt werden sollten und sich dem nicht entziehen konnten, auch wenn sie gewollt hätten. Denn neben den 1 ½ Mill. Arm. in der Türkei gab es [unleserlich] arm. Untertanen in Rußland, d.h. im Kaukasus. Versagten sich die türk. Armenier den russ. Wünschen, so mußten ihre Stammesbrüder im Kaukasus, die als Geiseln in russ. Hand waren, darunter büßen. Die Arm. waren also, mochten sie wollen oder nicht, eine schwere Gefahr für die Türkei.

[Ab hier maschinenschriftlich] Die Armenier haben sich tatsächlich den russischen Wünschen nicht versagt. [Gestrichen: Daher die ungeheure Erbitterung der Türken gegen sie. Die Beschuldigung des Aufstandes während des Krieges halte ich für falsch.] d.h. sie haben sich an die fremden Mächte gewendet. [Nächster Satz unkenntlich gemacht.] Diese Tatsache hat die türkische Regierung selbst durch den Mund ihres Grosswesirs Said Halim Pascha am 11. April 1915 dem armenischen Patriarchen als Grund für die Verschickungen angegeben. Andonian S. 91 auch S. 98.

Wenn der Verschickungskommissar bei Ankunft in Aleppo mir erklärt hat, Nous voulons une Armenie sans Armeniens, so konnte er es nur, wenn er Instruktionen aus Kospoli mitbrachte, die dem entsprachen.

Für die innere Wahrscheinlichkeit sprechen:

Als Voraussetzung war zunächst gegeben

1) die politische Lage

2) das Vorbild Abdul Hamids

3) die tatsächlich erfolgte Vernichtung

4) die Äusserung des Verschickungskommissars

5) die Absetzung der menschlichen Beamten. (Ali Suad, Djelal Bey, u.a.). die vom Minister des Inneren erfolgt

6) Instruktion des Kaimmakam von Alexandrette (Hoffmann)

7) Wahrscheinlich ist die Unterschrift von Mustafa Abdulkhalik Bey echt.

Von meinen Berichten im Lepsiusbuch ist mir bisher nichts bekannt geworden was ich zurückzunehmen hätte.

Die Zahlen von Aram Andonian sind vielfach zu hoch.

Mustafa Abdulkhalik wurde Unterstaatssekretär im Ministerium des Innern.

Die Verschickung schien zeitweilig zur Ruhe gekommen, doch erfolgte immer wieder ein neuer Anstoss. Warum sind die Armenier nicht in der Provinz Aleppo belassen worden? z.B. in Bab, in Membidj, in Maarra? warum nicht an der Bagdadbahn in Amanus, wo sie gut gebraucht wurden? oder in Tell Abiad, in Ras ul Ain? Warum vor allen Dingen nicht in den Lagern längs des Euphrat? vor allem nicht in Der es Sor? Die ganze Verschickung wird nur verständlich, wenn ein Plan dahinter stand.

Für den immer wieder kommenden Anstoss geben die von Andonian veröffentlichten Befehle eine einleuchtende Erklärung.

Wer erlebt hat, wie die Ereignisse drei Jahre lang unausgesetzt sich langsam abgespielt haben, hat nicht anders als den Eindruck der planmässigen Vernichtung haben können. Die Ausrottung war m.E. die drei Jahre hindurch bewusst verfolgte Politik der Regierung.


[Notiz Auswärtiges Amt]


S. 71. erst vorsichtig, allmählich kühner.

Nachprüfen im Lepsius’schen Buch.

S. 168. Sabah Jan. 1919 sagt, es sei bewiesen, daß die Vernichtung auf einen Entschluß u. Befehl des jungtürk. Komitees erfolgt sei.

S. 145. Talaat P. sagt: Vernichtg. sei erfolgt auf Befehl des Komitees. 15. Sept. 1915

Lepsius S. LII Die Seele der armenischen Politik war das jungtürkische Komité, Minister des Innern u. Enver Pascha waren für die Ausführung formell verantwortlich.

Graf Metternich: Niemand hat die Macht die Hydra des Komités zu bändigen.

Lepsius S. XVIII zweifelhaft war die entscheidende Wendg. herbeigeführt.



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