1916-05-23-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20072
Zentraljournal: 1916-A-13771
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 139
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


"Norke Intelligenzsedler"

Ein Jahr Krieg


Uebersetzung.

„Norke Intelligenzsedler“ Nr. 139, den 23. Mai 1916

Ein Jahr Krieg.


Heute läuft das erste Jahr ab für die Teilnahme der sechsten Grossmacht Europas am Weltkrieg. Von allen Seiten wurde das Eingreifen Italiens als ein sehr wichtiges Ereignis aufgefasst. Die Westmächte hegten grosse Hoffnungen, die Mittelmächte grosse Befürchtungen. Trotz aller höhnischen und kühnen Worte kann man ja doch nicht von der Tatsache wegkommen, dass Österreich wesentlich für seine Ehre und Sicherheit gefährliche Einräumungen gemacht hatte, um den Frieden mit seinem südlichen Nachbarn zu bewahren.

In den leitenden Kreisen in Italien und in weiten Kreisen der Bevölkerung sah man die Lage in äusserst günstigem Licht. Das neue, frische Millionenheer sollte dadurch, dass Italien sein Schwert in die Wagschale legte, einen raschen Ausgang des Krieges herbeiführen; und dieser sollte an der italienischen Front von dem italienischen Heer herbeigeführt werden. Wie der Mann, der die Lage beherrscht, sollte Italien beim Friedenskongress reden und darauf hinweisen können, dass es dieses Ergebnis erreicht hätte. Keine Unterordnung, kaum ein mageres Zusammenarbeiten. Werden ja sehen, werden es schon selbst schaffen, das war Italiens Taktik.

Diese Taktik ist, wie alle wissen, keine glückliche gewesen. Italiens Eingreifen hat in auffallend geringem Grade irgendwelchen Einfluss auf den Gang der Ereignisse gehabt. Italien ist in entsprechendem Grade von seinen Verbündeten abhängig geworden und hat eine ernste Lehre darüber empfangen müssen, dass es für den ganzen Krieg nur eine Front gibt, und dass Niederlage und Sieg gemeinsam sind.

Worin liegt dieses Verhältnis begründet? Woher kommt es, dass alle, Freunde und Feinde, ja Italien selbst, so augenscheinlich die Wichtigkeit dessen, was am 24. Mai 1915 sich ereignete, überschätzt haben? Trotz aller Witze über Regenschirme und Regenwetter am Isanzo, hat man keinen Grund, zu glauben, dass das italienische Heer nicht seine Pflicht getan hätte. So überwältigend grosse Gedanken hegte überhaupt niemand von den Italienern. Die Italiener sind kein Kriegervolk wie die Franzosen, sie besitzen nicht das militärische und organisatorische Genie des Deutschen. Und es wäre ja ein starker Ausdruck, wenn man sagen wollte, dass der abysinische und der lybische Feldzug die Welt mit Bewunderung erfüllt hätten. Aber in seiner Begrenzung hat das Heer sicher gut gearbeitet. Jedoch das schwierige Gelände, die schwindelerregenden hohen Bergkuppen, von denen in den Kriegsberichten so viel die Rede ist, sind ja nicht für diese besondere Gelegenheit von den Österreichern angebracht worden, und dass dort starke Befestigungsanlagen waren, war ja wohl ebenfalls keine Geheimnis für den gewöhnlichen Zeitungsleser, geschweige denn für einen Generalstab.

Wo liegt aber dann die Ueberraschung? Ja, das sind die Österreicher. Diese alte Monarchie hat eine Offensiv- und Defensivkraft bewiesen, die alle verwundert hat, Österreich selbst sicher eingeschlossen. Diese Staatsmaschine, von der man geglaubt hatte, sie sei abgebraucht, hat eine entscheidende Lebenstüchtigkeit gezeigt. Das Konglomerat, das man bereits in der Auflösung begriffen glaubte, hat eine merkwürdige Festigkeit bewiesen. Wäre Italiens Angriff zu der Zeit gekommen, als die Russen in den Karpaten standen, als Österreich sich in seinem Dasein bedroht fühlte, hätte er andere Wirkungen haben können. Aber damals war er angeblich nicht möglich. Weder die Jahreszeit, noch die Politik stellten sich günstig dazu.

Die Frage liegt nahe: Hat Italiens Teilnahme am Weltkrieg überhaupt irgendwelchen Vorteil für die Ententemächte gehabt? Die Antwort ist zweifelhaft genug. Was sicher ist, ist, dass Italiens Neutralität im August 1914 und seine wohlwollende Haltung von der grössten Bedeutung waren. Eine Fortsetzung dieser Haltung mit ausgeprägtem Wohlwollen und Sicherheit für die Franzosen an der italienischen Grenze war für sie sehr günstig, und Italiens Produktion als nicht kriegführendes Land würde unter anderem Frankreich zugute gekommen sein. Allerdings hat die italienische Offensive österreichische Streitkräfte gebunden, die an anderer Stelle gefährlich hätten werden können; aber das war zum grossen Teil schon eine Folge der forderungsvollen Neutralitätspolitik Italiens. Ausserdem müssen nunmehr diesem Lande fortwährend Geldmittel geschafft werden, und selbst Englands Hilfsquellen haben eine Grenze. Aber dazu kommt, dass Italiens Interessen und Träume auf der Balkanhalbinsel das Verhältnis zu Serbien und Griechenland erschwert, teilweise geradezu verbittert haben, und die beiden Balken, die Italien bei Walona in Kreuzesform den Österreichern in den Weg gelegt hat, habe die Misstimmung nicht beseitigen können. Denn die beiden Balken sind nicht um Serbiens willen gelegt worden.

Das Kriegsjahr wird mit einer starken und vorläufig wohlgelungenen österreichischen Offensive abgeschlossen. Man tut wohl am richtigsten, wenn man vermutet, dass Österreich mehr darauf abzielt, den Druck am Isonzo zu erleichtern, ehe der Sommerfeldzug im Osten im vollem Ernst beginnt, als dass es besondere Ziele in Tirol und Trentino im Auge hat. Aber es gibt auch Leute, die glauben, die Offensive sei mehr politischer als militärischer Art, dass sie den Elementen in Italien erhöhte Kraft verleihen werde, von denen man annimmt, dass sie einen Sonderfrieden wünschen. Und das sind ganz sicher schon an sich keine schwachen Kräfte. Das wäre eine missliche Politik von Italiens Seite, aber das war unleugbar auch sein Verhältnis zum alten Verbündeten Österreich in den ersten neun Monaten nach Ausbruch des Krieges.

Wer lebt, wird sehen.



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