1917-02-16-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R14095
Zentraljournal: 1917-A-05919
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/22/2012


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht




Pera, den 16. Februar 1917

Abschrift.

Zur vertraulichen Information.

Das Kabinett Talaat Pascha hat sich gestern offiziell der Kammer vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit hat der neue Großwesir programmatische Erklärungen abgegeben, die mir von größter prinzipieller Wichtigkeit scheinen und in der inneren Geschichte der Türkei einen neuen Wendepunkt bilden.

Wie ich bereits vor einiger Zeit Euerer Exzellenz zu berichten die Ehre hatte, gewann innerhalb der einflußreichen Kreise eine gemäßigte Richtung an Boden, die im Gegensatz zu dem rücksichtslosen, selbst vor blutiger Gewaltsamkeit nicht zurückschreckenden Nationalismus gewisser Komiteemitglieder eine verständige und tolerante innere Politik für die Türkei verlangte. Die Türkei ist durch die vielen fremden Elemente in ihrer Mitte ein von jedem anderen europäischen Staate wesentlich unterschiedenes Gebilde. Die Versuche, durch versöhnliches Entgegenkommen die fremden Bestandteile im ottomanischen Staatskörper zu einem wirklich ottomanischen Patriotismus und damit zur freiwilligen, überzeugten Mitarbeit am türkischen Staatsleben zu erziehen, haben immer wieder abgewechselt mit Perioden, in denen durch Druck und Ausrottungsbestrebungen die dem Staate so nötige Einheit der Zusammensetzung erzwungen werden sollte.

Sultan Abdul Hamid war in der letzten Zeit seiner Regierung durch die berüchtigten Armeniermassakers in der Richtung einer schonungslosen Ausrottungspolitik soweit gegangen, daß selbst in dem an Blutvergießen gewöhnten Orient ein Schauder durch alle Gemüter ging. Das Komitee, in allen Stücken trachtend, eine der Sultanpolitik entgegengesetzte Haltung einzunehmen, schrieb im Anfang seiner Wirksamkeit Zusammenfassung aller in der Türkei lebenden Völkerschaften zu freier und freiwilliger Mitarbeit im Staate auf seine Fahnen und konnte im Anfange seiner Tätigkeit fast all die dissentierenden Elemente - Araber, Armenier und Griechen- , wenn auch nur für kurz, unter einen Hut bringen. Das Fortbestehen der revolutionär-separatistischen Treibereien unter den Armeniern und die während des Balkankrieges, als die Türkei dem Zusammenbruche nahe schien, aufs neue klar hervortretende vaterlandsverräterische Gesinnung weiter griechischer und armenischer Kreise aber führte zu einem Umschwunge und zu einem vollständigen Siege der türkisch-nationalistischen Richtung im Komitee.

Die im großen Umfange durchgeführte Armeniervernichtung und die in einzelnen kleineren Unternehmungen zutage tretenden Neigungen, auch dem griechischen Elemente gegenüber schonungslos vorzugehen, sind das Resultat dieser politischen Richtung gewesen.

Ich glaube, daß als Gesamtergebnis die Ausrottungspolitik dem türkischen Reiche geschadet hat. Die Greuel des Armenierfeldzuges werden noch lange auf dem türkischen Namen lasten und noch lange denjenigen vergiftete Waffen liefern, die der Türkei die Eigenschaft als Kulturstaat absprechen und die Austreibung der Türken aus Europa verlangen. Auch innerlich ist das Land durch den Untergang und die Verbannung einer körperlich kräftigen, arbeitsamen und sparsamen Bevölkerung ansehnlich geschwächt worden, besonders da Armut an Menschen eines der größten Hindernisse bei der rascheren Entwicklung der türkischen Bodenschätze bildet.

Im vertrauten Gespräche habe ich Talaat Pascha gegenüber seit Beginn meiner hiesigen amtlichen Tätigkeit mit meiner Meinung über diese Frage nicht zurückgehalten. Daß er jetzt, zur Macht gelangt, in seiner ersten programmatischen Erklärung die Gleichberechtigung der ottomanischen Nationalitäten zum wichtigen Punkte des Regierungsprogrammes macht, ist mit Genugtuung zu begrüßen. Wie ich vertraulich höre, ist mit Einstellung der Armeniervertreibungen und mit Aufhören der an einzelnen Stellen hervorgetretenen Verfolgung gegen die Griechen bestimmt zu rechnen. Den Armeniern soll (damit will man aber erst in einiger Zeit hervortreten) die Rückkehr in ihre alten Wohnplätze, soweit diese nicht als Kriegsgebiet zu betrachten sind, gestattet werden.

Die wilde nationalistische Richtung ist natürlich noch nicht tot. Die fähigen und rücksichtslosen Köpfe, die sie vertreten haben, werden sich bei ihrer zeitweiligen Niederlage nicht beruhigen. Auch darauf, daß nun, wie mit einem Zauberschlage, die Klagen aus verschiedenen Provinzen über Bedrückungen und Verfolgungen einzelner Verwaltungsbeamten völlig verstummen, ist nicht zu rechnen. Aber die Erfahrung lehrt doch, daß die in Konstantinopel ausgegebene Parole im großen ganzen in der Provinz befolgt wird; um so mehr wenn die Parole nicht das Ergebnis fremden Drucks auf die Zentralregierung ist, sondern der freien Entschließung der türkischen Machthaber entspricht. Dies ist zum Glück dieses Mal vollkommen der Fall.

Zweifellos wird die Stellungnahme Talaat Paschas in seiner gestrigen Rede für geraume Zeit hinaus richtunggebend bleiben. Dies ist, meiner Ansicht nach, für uns und die Sache des deutsch-türkischen Bündnisses ein großer Gewinn. Denn auf Seiten all unserer Feinde bestand das Bestreben, uns für die blutigen Ausschreitungen des türkischen Nationalismus verantwortlich zu machen. Andererseits bildeten die häufigen Einmischungsversuche, zu denen uns humanitäre Erwägungen gegenüber diesen Maßnahmen veranlaßten, eine Quelle ständiger Reibung mit der türkischen Regierung. Auch unserer Öffentlichkeit gegenüber ist das Bündnis mit einer gemäßigten, auch im Innern nach modernen Grundsätzen arbeitenden Türkei viel leichter zu verteidigen und aufrecht zu erhalten, als mit einem ausgesprochen ottomanisch-nationalistischen Gebilde.


[von Kühlmann]


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