1914-08-28-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 22402
Zentraljournal: 1914-A.H.-714
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 09/03/1914 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Staatssekretär des Auswärtigen Amts (Jagow)

Privatbrief (Auszug)



Auszug aus einem Privatschreiben des Kaiserlichen Botschafters in Constantinopel vom 28. August 1914.

Hier in Constantinopel ist ziemlich alles gegen uns, besonders die Griechen und Levantiner, auch z.B. die Offiziere des amerikanischen Stationärs. Wirkliche Freunde haben wir nur unter den Türken. Die türkischen Sympathien, welche uns während des lybischen und Balkankrieges teilweise verloren gegangen waren, sind uns durch unser Eintreten für Adrianopel und bei der Armenierfrage wieder zugewandt worden. Dann haben die Engländer den ungeheuren Fehler gemacht, die türkischen Dreadnoughts zurückzuhalten. Das hat nicht nur hier, sondern in der ganzen muhammedanischen Welt einen ungeheuren Eindruck gemacht. Es war ein glückliches Zusammentreffen, daß kurz darauf Goeben und Breslau hier anlangten, damit haben wir den englischen Einfluß beim türkischen Volke vollkommen zerstört, eine wirkliche, tiefgehende Begeisterung für Deutschland ist an die Stelle der Anglophilie getreten. In allen Moscheen wird täglich für unseren Sieg gebetet. Die gesamte türkische Presse schreibt für uns; selbst die Agence Ottomane benimmt sich vernünftig, sie verbreitet die uns günstigen Nachrichten in den Provinzen. Die Politiker in der Regierung lassen sich natürlich durch die Volksstimmung nur teilweise fortreißen. Die Säule des Zusammengehens mit uns ist der früher so viel verleumdete und verkannte Enver Pascha. Nächst ihm kommen als Deutschfreunde Talaat und Halil. Djavid und Djemal gehen aus Interessen, nicht aber aus Herzensneigung mit Deutschland. Der Großwesir, dessen Familie immer englisch dachte, ist furchtsam, hat aber an Einfluß bedeutend verloren. Daß die Türkei noch von uns abfallen könnte, ist undenkbar, falls es den Flotten der Triple-Entente nicht gelingt, die Dardanellen zu forcieren. Kommen die Engländer und Russen hier herein, so wird die Regierung natürlich umfallen. Nur Enver ist entschlossen, auch in einem solchen Falle sich aufs äußerste mit den feindlichen Schiffen herumzuschlagen. Er betrachtet überhaupt das Eindringen der Entente ins Marmara-Meer nicht als lebensgefährlich für die Türkei. Letztere mobilisiert mit den äußersten Anstrengungen und schont bei den Requisitionen weder uns noch die Neutralen. Dieses Vorgehen deutet schon an und für sich darauf hin, daß die Türkei losschlagen will. Es sind sogar leichte Anzeichen dafür vorhanden, daß Enver und die Militärpartei, berauscht durch die deutschen Siege, die Oberhand gewinnen. Eine Militärdiktatur ist nicht ganz ausgeschlossen. Ich habe Besorgnis vor einer solchen, weil dann die Türkei unter Umständen zu früh losschlagen könnte, d.h. bevor die Dardanellen vollständig gesichert sind. Souchon und die klugen Leute der Militärmission betrachten die Sicherung der Dardanellen als die einzige Möglichkeit des Vorgehens gegen Osten. Ich stimme diesen vollkommen bei. Wir brauchen sicher noch einige Wochen, um die Dardanellen zu verbessern, die türkischen Schiffe einzufahren und das türkische Landheer für Landungen einzuexerzieren. Hoffentlich unterstützt mich Usedom in diesen Anschauungen. Wollte ich die Türken jetzt losschießen, so könnte eine verhängnisvolle Katastrophe eintreten, falls die Engländer durchbrechen sollten. Nach neuesten Nachrichten versammeln sich die englischen und französischen Schiffe bei Malta. Es ist doch wohl nicht ganz ausgeschlossen, daß unsere Gegner ihre schweren Niederlagen in Frankreich durch einen Handstreich auf Constantinopel wieder gut zu machen versuchen könnten. Die Triple-Entente-Botschafter erklären zwar, daß sie die Türkei nicht angreifen würden, wenn sie neutral bliebe; von solchen Zusagen ist aber natürlich nicht viel zu halten. Dafür, daß die Türkei schließlich losschlagen wird, spricht auch der Umstand, daß wenn sie passiv bleibt, sie bei der Schlußabrechnung nichts erhalten würde, da wir ja dann aller unserer Zusagen ledig wären. Entscheidend für die türkischen Entschlüsse wird es aber sein, daß die mobilisierte Armee hier nicht allzu lange zusammengehalten werden kann. Vor die Wahl gestellt, abzurüsten oder loszuschlagen, wird sich Enver für die letztere Alternative entscheiden.

Die Botschafter Russlands, Englands und Frankreichs begeben sich jeden Morgen zum Großwesir und suchen unsere Siegesnachrichten abzuschwächen. Sie sprechen von „Episodes de guerre“. Ich sagte dem Großwesir heute, es schiene mir, als ob die Botschafter die „Epizootie“ hätten.

Mit größtem Nachdruck verfolge ich die Organisation von Unternehmungen in Egypten, Kaukasus, Persien und Indien. Verschiedene Abgesandte sind bereits nach den betreffenden Stellen abgegangen. Die für Indien bestimmten Vertrauensleute haben bereits das Rote Meer passiert. Erschwerend wirkt, daß die ganze Bewegung noch nicht genügend zentralisiert ist. Ich hoffe nächster Tage ein Komitee Khedive-Enver-Botschaft zusammenzubringen. Von Entsendung einzelner Persönlichkeiten zur Aufwiegelung halte ich ebenso wenig wie der Khedive. Es müssen gleich entscheidende Schläge geführt werden. Der beste Boden für Unternehmungen dürfte immer noch Egypten sein, wegen seiner Nähe und wegen des Suez-Kanals. Natürlich lassen sich alle diese Dinge nicht binnen wenigen Tagen arrangieren. Verzagen Sie aber nicht, wenn die Bomben nicht gleich platzen. Es wird schon zu irgend etwas kommen.

An die Lügennachrichten der französischen Presse glaubt hier kein Türke mehr. Trotzdem sind uns die regelmäßigen Nachrichten aus Berlin über die Ereignisse von allergrößter Wichtigkeit.

Enver liegt leider noch zu Bett, wird aber Montag all right sein.

Unsere Stimmung ist hier die allerbeste und sehr siegesfreudig. Wir hoffen alle auch von hier aus noch einen Obulus zum Erfolge beitragen zu können, Wenn es zum Kriege kommt, stehen wir voraussichtlich vor einer Hungersnot. Dann wird Mehl wichtiger als Gold. Es ist möglich, daß wir schließlich der Türkei etwas vorschießen müssen, damit die Armee nicht Not leidet.



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