1918-10-22-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1, ”Tyrkiet - Indre Forhold”. Pakke 2, fra Jan. 1917 – 1. Jan. 1919
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 10/22/1918
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 91
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/27/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 91

Konstantinopel, den 22. Oktober 1918.

Herr Außenminister,

Seit meiner letzten Depesche haben sich die Verhältnisse in Konstantinopel so schnell entwickelt, dass für mich nicht mehr die Rede davon sein, sie vorherzusagen, sondern nur sie aufzuzeichnen.

Die Zensur unterdrückte alle politischen Presseberichte, die nicht in Berlin, Konstantinopel oder Wien redigiert worden waren, und es kommt hier keine Post aus dem Ausland an.

Talaat Pascha befand sich auf dem Heimweg von Berlin, und die Zeitungen verweilten wie befohlen bei dem, was er im Kaukasus erreicht hatte, als die Engländer sich über seine Doppelzüngigkeit ärgerten und die Verhandlungen, die sie lange im Geheimen mit den Türken geführt hatten, plötzlich abbrachen, indem sie seinem offiziellen Unterhändler, dem Mutessarif von Smyrna, Rahmi Bey, eine Art Ultimatum stellten.

Gleichzeitig erreichten die ersten, sehr verzerrten Berichte vom bulgarischen Zusammenbruch Konstantinopel.

Talaat Pascha, der nach den Zeitungsberichten Berlin offiziell mit der Absicht verlassen hatte, den Krieg an der Seite Deutschlands fortzusetzen, hatte auf dem Bahnhof in Sofia ein eineinhalb Stunden langes Gespräch mit [Bulgariens Ministerpräsident] Malinoff, und verlangte danach vergeblich, den König [Ferdinand I] zu sprechen.

König Ferdinand ließ antworten, er habe dem, was sein Ministerpräsident gesagt hatte, nichts hinzuzufügen. Er verfüge nicht mehr über ein brauchbares Heer, und seine Entscheidung stehe fest.

So befand sich seine Regierung in einer schwierigen Lage, als der Großwesir am 27. September in Konstantinopel ankam.

Der Ausfall Bulgariens, die Niederlage in Syrien und die Folgen, die diese Ereignisse in Deutschland hatten, kompromittierten die Politik des Komitees, und die Unzufriedenheit in Stambul mit der unionistischen Regierung breitete sich derart aus, dass es sogleich eine Ministerkrise gab.

Der Sultan [Mehmet VI] wünschte Frieden und wollte die Bildung einer neuen Regierung dem alten Tewfik [Ahmed] Pascha übertragen, während die Paschas Talaat und Enver Zeit zu gewinnen suchten, bis sich der erste Schock gelegt hatte, und es gelang ihnen zu behaupten, dass die Gefahr für die Türkei nicht so bedrohlich sei, wie zuerst angenommen.

Das Komitee wurde erst am 30. September zusammengerufen um die Lage zu besprechen, und es beschloss mit knapper Mehrheit den Krieg fortzusetzen.

Es zeigte sich bei dieser Gelegenheit deutlich, dass das Komitee in zwei Gruppen auf geteilt war, von der die eine - die Talaats und Envers - noch die größere war, während sich die andere - die Kriegsgegner und die am wenigsten kompromitierten unter seinen Mitgliedern - sich um Fethy Bey [Ali Fethi Bey (Okyar)] scharten, bis vor Kurzem türkischer Gesandter in Sofia, den der deutsche Botschafter vergeblich versucht hatte, für sich zu gewinnen, und der vorausgesagt hatte, was geschehen würde.

Fehty Bey organisierte schnell seine Gruppe und verlangte, das Komitee zu einer neuen Sitzung am 7. Oktober einzuberufen, zumal durch die Ernennung Prinz Max von Baden zum Kanzler und Deutschlands Eingabe an Präsident Wilson seine Stellung so weit gefestigt war, dass er eine Kraftprobe mit Talaat und Enver nicht mehr scheute.

Der Druck, den Fethy Bey und seine Anhängern in dieser Sitzung auf den rechten Flügel des Komitees ausübten, war so stark, dass Talaat und seine Freunde einwilligten, sich zum Schein zurückzuziehen und die Neubildung einer Regierung zu erlauben. Aber damit war Fethy nicht zufrieden, und ein Konflikt zwischen den beiden Komitee-Gruppen wurde unvermeidbar.

Fethy Bey wollte Talaats Einfluss neutralisieren und der Entente eine neue Regierung präsentieren, die völlig unabhängig von der alten war, mit der die Entente nicht verhandeln wollte, während Talaat sich nur unter der Bedingung zurückziehen wollte, dass er seine Macht behielt, um heimlich das Handeln seines Nachfolgers zu kontrollieren.

Mit anderen Worten, Talaat wollte wiederum zwei Regierungen haben, eine zum Vorzeigen, und eine verborgene, die die wahre Macht inne hat.

Talaat Pascha verfügte über die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, deren Miglieder einfach vom Komitee „ernannt“ worden waren, und als er sein Entlassungsschreiben übergeben hatte, war er dadurch in der Lage, Tewfik Pacha, den der Sultan mit der Bildung einer neuen Regierung betraute, ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten.

Tewfik Pacha war jedoch nicht bereit, in seine Regierung Mitglieder des Komitees aufzunehmen, die dieses ihm aufzwingen wollte, sodass der Sultan vorläufig seine unzweideutige Friedenspolitik aufgeben und sich an seinen Generaladjutanten wenden musste, General Izzet Pascha, der eine Zusammenarbeit mit den Unionisten nicht scheute, und der die jetzige Regierung als eine Art Koalition einsetzte, in der Fethy Bey Innenminister wurde und Talaats Finanzminister, Djavid Bey, sein Amt beibehielt.

Izzet Pachas Kabinett muss sich auf ein Komitee stützen, das die Mehrheit in der Kammer hat, obwohl es eher als anti-unionistisch angesehen werden muss.

Halil Bey, Talaats Außen- und Justizminister, ist weiterhin Präsident der Abgeordnetenkammer, und Talaat selbst ist Vorsitzender der außenpolitischen Kommission der Kammer.

Um der Gefahr entgegenzuwirken, die für das neuen Regime mit diesem Mangel an Folgerichtigkeit verbunden ist, hat Fethy Bey eine Partei gegründet, die sich die Progressionisten [Teceddut Firkasi; „Partei der Erneuerung“] nennt, und mehrere andere angeblich politische Parteien sind ebenfalls im Entstehen.

Aber es ist offensichtlich, dass sich eine wirklich unabhängige Regierung nicht an der Macht halten kann, bevor nicht die Kammer aufgelöst ist und Neuwahlen stattfinden

Die letzten innenpolitischen Ereignisse scheinen jedenfalls, verglichen mit Talaats Despotismus unter Mehmed V, zu vorsichtigen Anstrengungen zu einem Parlamentarismus nach europäischem Muster geführt zu haben, aber politische Parteien, die aus Männern bestehen, die gemeinsame Überzeugungen und Ziele sowie gegenseitige Achtung eint, diese Parteien gibt es noch nicht in der Türkei.

Anstelle von politischen Parteien, die mit verfassungsmäßigen Mitteln ein Programm zu verwirklichen suchen, zu dem sie sich offen und ehrlich bekennen, gibt es hier nur prinzipienlose Rivalen und deren Anhänger, die eher um Ehre und Macht oder Reichtum wetteifern als um das eigentliche Wohl des Landes.

Die am 15. Oktober an die Macht gekommene neue Regierung scheint sich dennoch einige verdienstvolle Aufgaben gestellt zu haben. Dafür scheint jedenfalls die Person des neuen Großwesirs zu bürgen.

General Izzet Pacha ist zweifellos ein wohlmeinender und uneigennütziger Patriot, aber seine Regierung ist verglichen mit Talaats tatkräftigem Regime noch äußerst schwach, und da er selbst eine Ausnahme darstellt, wird er auf lange Sicht gesehen kaum auf viele Anhänger zählen können.

Soweit ich sehe, gehen seine Bestrebungen dahin, die Türkei in den Augen des Auslands noch vor Friedensschluß zu rehabilitieren. Er versucht nach besten Kräften, die Folgen der vielen Übergriffe des Komitees in den letzten 4 Jahren abzuschwächen.

So wurde für das, was unter Talaats und Envers Regierung politische Vergehen waren, eine Amnestie erlassen, und es wurde den deportierten Arabern, Armeniern und Griechen erlaubt, an ihre Heimatorte zurückzukehren und für die erlittenen materiellen Schäden Ansprüche geltend zu machen.

Die Beamten, die die Schuld an den Armenier-Massakern tragen, werden abgesetzt und angeklagt.

Den Herrn Außenminister habe ich bereits telegraphisch informiert über die halboffiziellen Friedensverhandlungen, oder eher die vorläufigen Verhandlungen über einen separaten Waffenstillstand für die Türkei, die mit den Ententemächten in Smyrna und andernorts wieder aufgenommen worden sind, und sobald es die Verhältnisse erlauben, werden sie sicher auch offiziell wieder aufgenommen werden, zumal von einer Fortsetzung des Krieges für die Türkei nicht mehr die Rede sein kann.

Der Zusammenbruch der Türkei, der schon lange in meinen Berichten vorausgesagt worden war, ist eine Tatsache, die erst viel später, als ich erwartet hatte, offensichtlich wurde, weil die Engländer seit der Niederlage bei Kut-el-Amara an den türkischen Fronten viel langsamer und vorsichtiger als notwendig agierten.

Die Engländer glaubten offenbar, dass die Türkei noch einen Rest an militärischer Widerstandskraft hatte, und sie hatten nicht den entscheidenden Schlag ausführen wollen, bevor ihnen der Sieg sicher war.

Sie hätten auf jeden Fall den Sieg weit früher haben können, weil sie auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen wären.

Dass es sich so verhält, geben die hiesigen deutschen und österreichischen militärischen Vertreter nun auch vorbehaltlos zu, seit die Partie für sie verloren ist und sie sich darauf vorbereiten, die Türkei zu verlassen.

Es bestehen jedoch noch Zweifel daran, ob Izzet Paschas gemischte Regierung die endgültige Friedensregierung der Türkei sein wird, da sie noch nicht frei entscheiden sondern nur verhandeln kann, während die Ententemächte vielleicht verlangen werden, dass die Türkei wie Bulgarien kapitulieren soll.

Wenn die Entente nicht offiziell mit Izzet Pascha verhandeln will, wird Tewfik Pacha vielleicht doch an die Macht kommen, aber er wird kaum eine Regierung bilden wollen, solange die Kammern nicht aufgelöst sind, und in diesem Fall wird die Entwicklung wohl wieder einmal eine reaktionäre Wendung nehmen.

Die Frage nach dem vielen Geld, das das Komitee im Krieg veruntreut hat, und das es vermutlich der Nation schuldet, wird darum auch bald aktuell werden.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


[Wandel]



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