1915-11-03-DE-011
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Quelle: DE/PA-AA/R 20025
Zentraljournal: 1915-A-
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Generalstab des Feldheeres über die militärische Lage auf dem Balkan

Memorandum


Gr. H.Qu. z. Zt. Osten, den 3. November 1915

Nur für den Dienstgebrauch.

Italien und der Balkan-Feldzug

Wunsch der Verbündeten, daß Italien sich am Balkanfeldzug beteiligt:

Die Verbündeten üben einen außerordentlich starken Druck auf Italien aus, um es zur Teilnahme am Balkanfeldzuge zu veranlassen. In ihrem Bestreben, italienische Truppen auch auf einem anderen Kriegsschauplatze als dem österreichisch-ungarischen für die gemeinsame Sache bluten zu lassen, werden die Regierungen Frankreichs, Englands und Rußlands nicht nur durch die Presse ihrer eigenen Länder, sondern auch durch die ihnen tributpflichtigen Zeitungen Italiens eifrigst unterstützt. Wagte doch die Popolo d’Italia bereits der Regierung mit der Revolution zu drohen, falls sie sich nicht für eine Teilnahme am Balkan-Feldzuge erkläre.

In erster Linie wird vom Kabinett Salandra gefordert, daß es eine starke italienische Streitkraft mit den englisch-französischen Truppen vereint, die von Saloniki aus zur Hilfeleistung für Serbien bestimmt sind. Wahrscheinlich würde man aber auch zufrieden sein, wenn Italien an anderer Stelle zur Entlastung Serbiens eingreift, oder wenn es französische oder englische Truppen auf Gallipoli oder in Ägypten ablöst, sodaß diese zur Verwendung gegen Bulgarien und die Mittelmächte frei werden.

Teilnahme Italiens ist nicht wahrscheinlich:

Es ist nicht anzunehmen, daß diese Bemühungen des Dreiverbandes Erfolg haben werden. Zwar befindet sich Italien in wirtschaftlicher Abhängigkeit von England, dessen Hilfe es zur Finanzierung des Krieges gebraucht, und das ihm die zur Aufrechterhaltung des italienischen Wirtschaftslebens notwendigen Kohlen liefern muß. Es hat daher auf Drängen Englands-Frankreichs hin auch an die Türkei und Bulgarien den Krieg erklären müssen.

Doch ist das erwartete militärische Eingreifen gegen die Türkei zu Lande ausgeblieben, und es wird wohl auch gegen Bulgarien kaum erfolgen. Denn es hat sich inzwischen gezeigt, daß die Gründe wirtschaftspolitischer Art, die die Regierung eine Zeit lang zu einem solchen Eingreifen zu zwingen schien, zurücktreten mußten vor den Lebensinteressen Italiens, die es verboten. Über die weitere Lösung der Kohlenfrage herrscht noch keine volle Klarheit, zunächst liefert England jedenfalls noch das Notwendigste. Geld soll anscheinend durch eine Anleihe in Amerika und durch weitere Inanspruchnahme der Notenpresse beschafft werden. Jedenfalls scheint festzustehen, daß unter dem Zwang allgemeiner Gründe inner- und außenpolitischer und militärischer Art Italien in der Frage der Beteiligung am Balkanfeldzuge dem Druck der Verbündeten bislang nicht nachgegeben hat.

Aus innerpolitischen Gründen:

Das italienische Ministerium kennt die Gefühle und Stimmungen seines Landes. Es war schon schwer, die Volksstimmung für einen Eintritt in den Weltkrieg zu gewinnen. Nur das Schlagwort von der „Befreiung der unerlösten Brüder“ hat die breite Masse für die Aufgabe der Neutralität geneigt gemacht. Der Krieg war eine “guerra nostra“ und „guerra santa“. Jetzt nach 6 Monaten eines Feldzuges, in dem die erhofften schnellen Erfolge gänzlich ausblieben, der dafür nur große Verluste und die schwersten wirtschaftlichen Schäden brachte, würde ein Opfern italienischen Blutes für fremde Ziele an den Dardanellen oder gar für Serbien tiefgehenden Unwillen erregen, vielleicht zur Krisis führen. Alle Beobachtungen der letzten Zeit stimmen darin überein, daß im Volke die anfängliche Begeisterung für den Kampf gegen die Donaumonarchie fast völlig verrauscht ist. Die dem Kabinett Salandra feindliche Partei erhebt immer kühner ihr Haupt.

Aus außenpolitischen Gründen.

In dieser Lage darf die Regierung es nicht wagen, das Land in ein Abenteuer zu stürzen, dessen Aussichten sehr unsicher und dessen Folgen unübersehbar sind, und das noch eine andere Gefahr birgt, die Volk und Regierung bisher nach Möglichkeit zu hindern suchten: Die des Krieges mit Deutschland. Wo auch bisher Truppen des Dreiverbandes sich in offenem Kampfe mit deutschen maßen, sind italienische Kräfte ferngeblieben.

Außer diesem Umstande ist auch der Gegensatz Italiens zu Serbien und Griechenland einem Feldzuge gegen Bulgarien hinderlich. Alle die eifrigen Bemühungen Rußlands, Italien für einen Ausgleich mit Serbien über Dalmatien und die Adria-Ansprüche zu gewinnen, sind bisher erfolglos geblieben. Daher mag eine Schwächung des serbischen Nebenbuhlers manchem italienischen Staatsmanne nicht einmal ungelegen kommen. Der italienisch-griechische Gegensatz besteht hauptsächlich in den von beiden Staaten geltend gemachten Ansprüchen auf Albanien und die Zwölfinselgruppe. Italien ist deshalb ein größeres Bulgarien, das ihm den lästigen Mitbewerber in Schacht hält, sicher angenehmer als ein größeres Griechenland. Warum sollte es deshalb das Blut seiner Landeskinder im Kampfe gegen Bulgarien opfern? Selbst eine Erhöhung der Mittelmeerkraft Frankreichs und Englands wäre den Italienern sehr unwillkommen.

Es ist nicht zu verwundern, daß bei diesen so verschlungenen politischen Zusammenhängen und bei den oft auseinandergehenden Anschauungen auch im Kabinett Salandra die Meinungen in der Frage der Teilnahme Italiens am Balkanfeldzuge geteilt waren. Sonnino, Martini und Barzilai sollen für sie eingetreten sein. Für eine zeitweise Unentschlossenheit und ein Schwanken im Entschlusse spricht die verschiedenartige Handhabung der Zensur, die zunächst laute Forderungen der Zeitungen nach Beteiligung erlaubte, sie dann aber unterdrückte, um sie später wieder zu gestatten. Es ist aber jetzt mit Sicherheit anzunehmen, daß eine Einigung derart erfolgt ist, daß Italien ebenso wie in der Frage des Londoner Vertrages über den Abschluß eines Sonder-Friedens auch in der Frage der Teilnahme am Balkanfeldzuge seine Sonderstellung im Vierverbande gewahrt hat. Denn im Streite auseinandergehender Ansichten wird das Gewicht der von Cadorna mit Zustimmung des Königs vorgebrachten militärischen Gründe den Ausschlag gegeben haben.

Aus militärischen Gründen:

Soweit sich aus den vorliegenden Nachrichten erkennen läßt, wird die militärische Lage von der italienischen Obersten Heeresleitung etwa folgendermaßen beurteilt:

Die Entscheidung des Feldzuges fällt für Italien nur an seiner Nordgrenze, nicht auf einem fernen Kriegsschauplatze. Hier hat es aber bisher trotz des Einsatzes seines ganzen Feldheeres, trotz großer Anstrengungen und schwerer Opfer einen entscheidenden Erfolg noch nicht erreicht. Diesen zu erringen, ist bei der sich stets noch steigernden Widerstandfähigkeit der feindlichen Stellungen nur möglich, wenn auch jeder Mann und jedes Geschoß auf dem entscheidenden Punkte eingesetzt und nicht auf Nebenkriegsschauplätzen verzettelt wird. Zwar wird der Winter dazu zwingen, größere Operationen auf einem erheblichen Teile der Front einzustellen. Dadurch werden aber keine wesentlichen Kräfte frei. Denn wenn der Feind seine Stellungen während des Winters besetzt hält, ist Italien gezwungen, es auch zu tun. Es bedarf dann aber starker Reserven, um die an die Unbilden der Witterung nicht gewöhnten Truppen genügend ablösen und ihnen die nötige Erholung sichern zu können. Selbst wenn aber bei Beginn des Winters italienische Truppen herausgezogen werden könnten, so darf man sie nicht auf einen fremden Kriegsschauplatz senden. Denn einmal eingesetzt, können sie nicht zu einem der italienischen Heeresleitung genehmen Zeitpunkte wieder zurückgenommen werden. Die Lage Italiens ist dann bei einer deutsch-österreichisch-ungarischen Offensive als sehr bedenklich anzusehen. Nach der Niederwerfung Serbiens ist aber ein Angriff der Mittelmächte durchaus möglich. Zur Abwehr ist der Einsatz des ganzen italienischen Heeres nötig.

Zwar hat Italien genügend Mannschaften, um Neuaufstellungen vornehmen zu können, aber es fehlen die Offiziere und das nötige Kriegsgerät. Schon bei dem Feldheere herrscht an vielem Mangel. Um eine Truppe zur Verwendung auf einem entlegenen Kriegsschauplatze mit schwierigen Nachschubverhältnissen aufzustellen und auszurüsten, sind mindestens zwei bis drei Monate erforderlich.

Ein auf dem Hauptkriegsschauplatze starkes Italien ist endlich auch für die Verbündeten mehr wert als ein durch Kräftezersplitterung geschwächtes. Setzen die Italiener mit aller Kraft den Angriff an ihrer Nordfront fort, so hindern sie nicht nur ihre Feinde daran, Teile der gegen sie eingesetzten Truppen gegen Serbien oder Rußland zu führen, sie zwingen sie vielmehr zur Heranführung neuer Verstärkungen. Erst wenn Italien so einen durchschlagenden Erfolg errungen hat, mag die Stunde für eine Entsendung von Truppen nach fernen Gebieten gekommen sein. Augenblicklich aber nimmt die Offensive die ganzen italienischen Kräfte in Anspruch.

Frage einer späteren Teilnahme Italiens.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Cadorna durch solche Gründe der Regierung eine Zurückweisung der Wünsche des Dreiverbandes aufgezwungen hat. Sicherlich hat das Kabinett die Schroffheit der Ablehnung nach Möglichkeit zu mildern gewußt. Es wird sich, gestützt auf die Möglichkeit, daß vielleicht später Truppen frei werden könnten in einem Meinungsaustausch mit England-Frankreich über den Einsatz befinden. Derartige Unterhandlungen halten die Regierungen hin, beruhigen die aufgeregte öffentliche Meinung im Dreiverband, wirken vielleicht auf die Neutralen und verpflichten schließlich zu Nichts.

Mögliche Kriegsschauplätze.

Ob es aber zu einer späteren Beteiligung von stärkeren italienischen Truppen in fremden Gebieten wirklich kommen wird, kann jetzt noch nicht endgültig entschieden werden. Wohl aber ist es möglich, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu sagen, auf welchem Kriegsschauplatze mit einem Eingreifen Italiens gerechnet werden muß, auf welchem es als ausgeschlossen anzusehen ist.

Dalmatien oder Nordalbanien.

Gegen eine Landung in Dalmatien oder Nord-Albanien, um im Vverein mit den Montenegrinern zur Entlastung Serbiens in Richtung Sarajewo vorzustoßen, oder um nach Serbien hineinzumarschieren, spricht zunächst das gespannte Verhältnis zu Montenegro wegen der Skutari-Frage. Eine Landung an der dalmatischen Küste bis Cattaro wird ferner durch die österreich-ungarische Flotte verhindert, deren Unterseeboote sie auch weiter südlich bei S. Giovanni di Medua oder Durazzzo stark gefährden. Ein Vormarsch endlich durch das wegelose, verpflegungsarme und schwierige Gebirgsland mit stärkeren Truppenmengen ist fast unausführbar.

Südalbanien.

Ein Vorgehen durch Süd-Albanien etwa von Valona aus, nach Mazedonien hinein, stößt auf dieselben Geländeschwierigkeiten und wird von Italien im Ernste wohl nie geplant. Solange die Verbündeten auch nur noch einen Schimmer von Hoffnung hegen, Griechenland zum Anschluß zu gewinnen, wird von ihnen diese Landung, die den italienisch-griechischen Gegensatz sofort zum Ausbruch bringen würde, auch nicht gewünscht werden. Jedoch ist vorauszusehen, daß Italien, zumal wenn Griechenland für die Sache des Vierverbands nicht gewonnen werden kann, die Gelegenheit benutzen wird, um sein Einflußgebiet in Süd-Albanien von Valona aus weiter auszudehnen. Zur Verstärkung der jetzt nur etwa 5000 Mann betragenden Besatzung werden jederzeit Truppen verfügbar sein. Vielleicht greift dann Italien auch auf Durazzo über.

Mazedonien.

Eine Beteiligung an dem mazedonischen Feldzuge durch Landung in Saloniki, Kavalla oder Dedeagatsch bleibt auch später, wenn es gelungen sein sollte, Truppen freizumachen und für den schwierigen Feldzug auszurüsten, recht unwahrscheinlich. Die weitere Entwickelung auf dem Balkan (Haltung Rumäniens, Griechenlands, Beteiligung Rußlands) wird zwar Einfluß auf das verhalten Italiens haben, doch wird es sicherlich nur dort auftreten, wo eine Begegnung mit deutschen Truppen ausgeschlossen ist. Es gilt außerdem, wie schon erwähnt, zunächst noch die Empfindlichkeit Griechenlands zu schonen, und es ist auch hier kaum anzunehmen, daß Italien als Schützer desselben Serbiens auftreten wird, das seine Interessen in Albanien störte.

Gallipoli.

Als ausgeschlossen hat es zu gelten, daß Italien sich zu einer Ablösung von englischen oder französischen Truppen in den Schützengräben der Halbinsel Gallipoli verstehen sollte. Keine Regierung, säße sie auch fester im Sattel als das Kabinett Salandra, dürfte dies, angesichts der großen Opfer und des ständigen Mißerfolges der Verbündeten, dem Lande gegenüber wagen.

Westküste Kleinasiens.

Ob eine Landung an der Westküste Kleinasiens in Frage kommt, dürfte in erster Linie davon abhängen, ob der Dreiverband die Dardanellenunternehmung ernsthaft fortsetzen will. Die Stimmung des italienischen Volkes dürfte nicht leicht für diese Art des Vorgehens zu gewinnen sein. Da eine dauerhafte Festsetzung Italiens, etwa bei Smyrna, doch wohl kaum in Frage kommt, und die Entlastung der Verbündeten an den Dardanellen sich erst sehr spät, nach langwierigen Kämpfen, bemerkbar machen könnte, ist sie nicht als sehr wahrscheinlich anzusehen.

Cilicien.

Anders ist die Möglichkeit einer Landung an der Küste Ciliciens, etwa in Mersina, zu beurteilen. Auf das Gebiet von Adana richten sich bereits seit Jahren die begehrlichen Blicke der Verfechter eines größeren Italiens. Es gilt in weiten Kreisen als ausgemacht, daß es bei der von den feindlichen Mächten erhofften Aufteilung der Türkei Italien zufällt. Von ganz besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß durch dieses Land von den Tauruspässen her die Bagdadbahn führt, die die einzige Nachschublinie für die in Syrien und auf der Halbinsel Sinai stehenden türkischen Truppen bildet. Zumal wenn die Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei hergestellt ist, gewinnt diese Linie für die um den Suezkanal besorgten Engländer ausschlaggebende Wichtigkeit. Setzt Italien sich also im Gebiete von Adana fest, so beginnt es einmal ein Unternehmen, das auf die Billigung weiter Volkskreise rechnen darf, da es den eigenen Interessen dient. Es erwirbt aber auch Verdienste um die gemeinsame Sache und besondere Ansprüche auf die Dankbarkeit Englands, dessen Feinden es mit dem Schienenstrang die Nährader unterbindet.

Syrien.

Eine Landung in Syrien ist nicht zu erwarten. Sie würde Frankreichs Eifersucht erregen, das Ansprüche auf diese türkische Provinz geltend macht.

Ägypten.

Eine spätere Ablösung der in Ägypten stehenden englischen Territorial- oder indischen Truppen durch italienische ist unwahrscheinlich. England wird die Verteidigung des Suez-Kanals, des Schlüssels seiner Weltmachtstellung nie fremden Händen überlassen. Italien kann bei einem solchen Einsatz seiner Landeskinder für sich selbst nichts gewinnen. Er würde nur fremden Interessen dienen und daher der Volksstimmung nicht entsprechen. Denn der von der Presse angegebene Grund, daß Italien in Ägypten auch Lybien schütze, kann von denkenden Leuten wohl nicht ernst genommen werden.

Schlußbetrachtung.

Das Ergebnis der vorstehenden Betrachtungen ist dahin zusammenzufassen, daß

1.) eine Beteiligung Italiens mit Landtruppen an einem Unternehmen über See zunächst nicht zu erwarten ist.

2.) Sollte sie später eintreten, so ist in erster Linie eine Landung in Cilicien als wahrscheinlich anzusehen.

Mit einer Erweiterung des südalbanischen Einfluß-Gebietes von Valona aus ist unter allen Umständen zu rechnen.

Bestimmend für Italiens Verhalten wird immer sein, daß es sich nur durch seine eigenen Interessen leiten läßt. Den Verbündeten muß es daher zunächst genügen, wenn sie italienische Handelsschiffe zu ihren Truppenüberführungen benutzen dürfen, und wenn bei der Blockade der bulgarischen und türkischen Küste auch die Flagge des Landes des sacro egoismo vertreten ist.



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