1915-01-10-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 20176
Zentraljournal: 1915-A.S.-197
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 01/17/1915 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 23
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 23.

Pera, den 10. Januar 1915

Streng vertraulich.

Mein amerikanischer Kollege hatte dem Präsidenten Wilson nach den Wahlen für den amerikanischen Kongreß geschrieben, die demokratische Partei würde bei den nächsten Präsidentenwahlen sicher unterliegen, wenn es Herrn Wilson bis dahin nicht gelungen sei, sich durch eine große Tat ein bedeutendes Prestige zu schaffen. Für eine solche Tat käme nur die Stiftung des Friedens zwischen den europäischen Großmächten in Frage.

Vor zwei Tagen erhielt Herr Morgenthau die Antwort Präsident Wilsons. Darin dankt Letzterer seinem Freunde für die von ihm entwickelten Ideen, die er als durchaus richtig anerkenne. Er betrachte die Herbeiführung des Friedens als das Wichtigste der ihm gesteckten Ziele. „General suggestions“ seien schon wiederholt an ihn herangetreten. Niemand habe ihm aber noch gesagt, wie und wann er eingreifen solle. Herr Morgenthau möge ihm darüber mit voller Offenheit seine Ansichten aussprechen.

Der Botschafter hat etwa folgendes erwidert: „Durch Veranstaltungen kirchlicher Fürbitten und Versammlungen von Friedensaposteln können die Vereinigten Staaten den Frieden ebenso wenig herstellen wie der Papst. Auch das Sondieren der kriegführenden Mächte würde zu keinem Ziele führen. Werden alle Mächte gefragt, so werden sie sämtlich durch Ablehnung der Anregung ihre ungeschwächte Widerstandskraft beweisen wollen. Werden nur einzelne Mächte oder einzelne Gruppen sondiert, so werden diese glauben, daß die Anfrage des Präsidenten auf Veranlassung eines geschwächten Gegners erfolgt sei und daraus nur erneute Kriegskraft schöpfen. Der einzige Weg, auf dem ein Erfolg erzielt werden kann, ist der, welchen der Präsident bereits betreten hat, nämlich die Geltendmachung der durch den Krieg geschädigten Interessen der Vereinigten Staaten selbst. Letzteren fügt der Krieg einen doppelten Schaden zu. Erstens ist ihnen der Verkehr mit einem Teile ihrer europäischen Lieferanten und Kunden gesperrt, zweitens aber muß eine längere Dauer des Krieges die Finanzen sämtlicher kriegführenden Länder so erschüttern, daß darunter das amerikanische Geschäft jahrelang in schwerster Weise leiden muß. Bis jetzt haben die Vereinigten Staaten durch ihre Haltung unbewußt nicht auf den Frieden, sondern auf eine Verlängerung des Krieges hingearbeitet, indem sie der einen kriegführenden Partei Waffen und Munition und Lebensmittel lieferten. Damit sind sie gleichzeitig aus der Neutralität herausgetreten deren gewissenhafte Aufrechterhaltung eine Ehrenpflicht der Amerikaner sein sollte. England will Deutschland aushungern. Letzteres rüstet sich, dieser Art der englischen Kriegführung Widerstand zu leisten. So könne sich der Krieg vielleicht um viele Jahre verlängern. Für Amerika ist dadurch die Richtlinie vorgezeichnet, England bei seinem ökonomischen Kampfe gegen Deutschland nicht Handlangerdienste zu leisten, was dahin führen müßte, daß Amerika schließlich die Kosten des englischen Sieges mitzubezahlen hätte.

Das Verlangen, das Präsident Wilson wegen der Interessen der neutralen Schiffahrt an England gestellt hat, ist in Europa nicht ganz ernst genommen worden. Europa glaubt, daß Amerika nur eine formelle Pflicht habe erfüllen wollen, aber keineswegs entschlossen sei, die Konsequenzen zu ziehen, wenn England auf die amerikanische Anfrage ausweichend antworten sollte. Es ist durchaus erforderlich, den amerikanischen Standpunkt besser zu fundieren und der Haltung Amerikas ein größeres Relief zu verleihen. Ersteres kann dadurch geschehen, daß in allen größeren amerikanischen Städten die Produzenten und Kaufleute zusammentreten und an den Präsidenten die Aufforderung zur nachdrücklichen Vertretung ihrer Interessen richten. Das größere Relief wäre dadurch zu erreichen, daß die Vereinigten Staaten mit den an der freien Schiffahrt interessierten neutralen Staaten ein festeres Verhältnis ad hoc eingehen mit dem ausgesprochenen Ziele, den zunächst diplomatischen Kampf mit England entschlossen aufzunehmen. Der Kern zu einem solchen Block ist bereits in Malmö gebildet. Holland dürfte seinen Zutritt nicht versagen; vielleicht läßt sich auch Spanien gewinnen. Für die Stellung der Vereinigten Staaten auf den beiden amerikanischen Kontinenten wäre es von Wichtigkeit, daß auch die Zentral- und südamerikanischen Staaten sich in dieser Frage der Führung der Vereinigten Staaten anvertrauten. Es wäre verfehlt, Italien und Rumänien schon jetzt gewinnen zu wollen, da diese beiden Länder zurzeit aus dem Kriege politischen Nutzen für sich ziehen wollen. Erst nachdem der Block gebildet ist, sollte an Italien und Rumänien herangetreten werden. Wenn Amerika einmal die Führung der Liga der Neutralen fest in die Hand genommen hat und für die Beteiligten Freigabe des neutralen Handels von England verlangt, so wird Letzteres, vor eine neue Kriegsgefahr gestellt, nicht zögern, einzulenken und dann selbst als die erste Macht seinen Gegnern die Hand zum Friedensschlusse bieten.

In der Kriegführung ist zurzeit eine Art von Ruhepause eingetreten. Es ist möglich, daß die Kriegsstimmung von jetzt ab ein wenig abflauen wird. Es ist aber ebenso möglich, daß nach Ablauf des Winters die Leidenschaften sich von neuem erhitzen, und daß noch weitere Länder in den Krieg hineingezogen werden. Tritt dieser Fall ein, so ist keineswegs sicher, ob die Vereinigten Staaten neutral bleiben könnten. Es ist daher nötig, daß die Vereinigten Staaten so schnell wie möglich handeln.“


Wangenheim
[Wangenheim am 17.1.1915 an AA (Nr. 158/A.S.199)]

Im Anschluß an Bericht Nr. 23.

Herr Morgenthau sagte mir vertraulich, er habe seinem Brief an Präsident Wilson noch hinzugefügt, es sei [bei] der Dringlichkeit der Angelegenheit wohl besser, die amerikanische Aktion schon eintreten zu lassen bevor die übrigen neutralen Staaten ihre Zustimmung erklärt hätten.



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