1915-11-12-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20026
Zentraljournal: 1915-A-32952
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 11/14/1915 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 485
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Gesandte in den Haag (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Haag, den 12. November 1915

Eines der wichtigsten Ereignisse in England seit dem Beginn des Krieges ist die „zeitweilige“ Mission Lord Kitcheners nach dem Osten.

Dass es sich nicht um eine Studien- oder Inspektionsreise handelt, wie von manchen Seiten anzudeuten gesucht wird, ist ohne weiteres klar. Die bestunterrichteten englischen Kreise glauben nicht, daß Kitchener wieder nach London zurückkehren wird, um seinen Sitz im Kabinett aufs neue einzunehmen. Alles, was über die Gründe für das Ausscheiden Kitcheners angeführt worden ist, beruht wohl mehr oder minder auf Klatsch und Vermutungen. Erfahrungsgemäß wird das Kabinettsgeheimnis in England recht gut bewahrt, und über die intimen Vorgänge zwischen einzelnen Kabinettsministern dringt selten etwas zuverlässiges an die weitere Öffentlichkeit.

Mit Kitchener verliert das Kabinett nicht seinen besten Kopf, aber seinen stärksten und entschlossensten Charakter. Lord Milner hatte vollkommen recht, wenn er sagte, das Kabinett stosse seine stärksten Elemente ab. Als Charaktere haben Carson und Kitchener sicherlich dazu gehört. Ob der letztere mit einer klar umrissenen Mission hinausgeschickt worden ist, darf als zweifelhaft gelten. Handelt es sich, wie die bestunterrichteten Leute in England glauben, um seine dauerhafte Entfernung aus dem Zentrum der Reichsgeschäfte, so läge der Gedanke nahe, für ihn den Posten eines „High Commander in the Mediterranean“ neu aufleben zu lassen, den zuletzt der Herzog von Connaught inne hatte, der aber wegen seiner praktischen Bedeutungslosigkeit in Friedenszeiten zum Eingehen verurteilt wurde.

Man kann die Auffassung in England nicht besprechen, ohne der Lage im nahen Osten eine kurze Betrachtung zu widmen; denn von der Auffassung dieser Lage ist augenblicklich die gesamte englische Politik bestimmt.

Es ist sicher nicht der geringste Erfolg der deutschen Offensive nach Serbien, dass es gelungen ist, den Westmächten die an sich unhaltbare Vorstellung zu suggerieren, dass der Schwerpunkt des gegenwärtigen Krieges im östlichen Mittelmeer zu suchen sei. Wie vollständig diese Suggestion ist, dafür spricht gerade Lord Kitcheners Entsendung nach dem östlichen Mittelmeerbecken; denn das kann man nach dem bisher bekannten ohne weiteres annehmen, dass dort das Zentrum seiner Tätigkeit liegen wird. Die Phantasie spielt jetzt den sonst so nüchternen Engländern einen Streich und lässt sie die Gefahren, die ihre Stellung in Indien, Persien, Mesopotamien und Egypten durch die Zentralmächte und die Türkei bedrohen, grösser erscheinen, als eine nüchterne Berechnung der militärischen Möglichkeiten rechtfertigen dürfte. Das Ziel der englischen Bestrebungen im östlichen Mittelmeer wird immer sein müssen, an einer für die Seemacht möglichst leicht zu erreichenden Stelle die Lebensader des Bahnverkehres nach den bedrohten, oben genannten Gegenden zu unterbinden.

Die Zahl der möglichen Unternehmungen, die für diesen Zweck in Betracht kommen, ist verhältnismäßig gering. Bei weitem der vielversprechenste Angriffspunkt waren die Dardanellen. Dort war in fast idealem Masse die Möglichkeit vom Zusammenwirken von Flotte und Landtruppen gegeben. Die zu überwindende Strecke war kurz, der zu erreichende Gewinn ungeheuer, das türkische Reich wurde zu Tode getroffen, die Zentralmächte vom nahen Osten vollständig abgeschnürt, der Seeweg für Ausfuhr aus Russland und Zufuhr dahin vollkommen frei. Das militärisch-maritime Unternehmen an den Dardanellen gilt als gescheitert. Die Frage ist nur noch, ob und wann man die aussichtlose Expedition aufgeben und die Zelte abbrechen soll. Die Lage ist, glaubwürdigen Berichten zufolge, so, dass die Militärs für sofortiges Aufgeben der unhaltbaren, immer noch schwere Verluste (insbesondere durch Krankheiten) kostenden Position eintreten, während die Politiker aus Angst vor dem Rückschlag auf Englands Prestige - insbesondere in Indien - sich weiter an dem aussichtslosen Unternehmen festklammern. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit zu den Aufgaben, die Kitchener zugedacht sind, die Abgabe eines Gutachtens gehört, hinter dem seine ganze Autorität und Beliebtheit beim Volke stehen würde, auf Grund dessen dann das Kabinett , so gut oder schlecht es eben geht, das Dardanellenabenteuer liquidieren könnte.

Die auf Salonik basierte englisch-französische Expedition vereinigt in ihren politischen und geographischen Grundbedingungen ungefähr alle ungünstigen Punkte, die sich nur denken lassen. Die an sich wenig günstige Basis ist im Besitze eines fremden Volkes, dessen freundliche Neutralität keineswegs über allen Zweifeln erhaben ist. Zum mindesten sind die Verhältnisse in Salonik und Umgebung derart, dass über die Bewegungen des englisch-französischen Expeditionskorps, Nachschübe usw. der Gegner stündlich die allergenauesten Auskünfte haben muss. Ferner fehlt es dieser Expedition an einem Ziel, das auch nur mit Wahrscheinlichkeit erreicht werden könnte. Um die Bahnstrecke Belgrad-Sofia zu unterbrechen, wäre ein langer Feldzug in unwegsamem Gebirge und klimatisch sehr ungünstigen Umständen zu führen. Ausser der sentimentalen Phrase, man wolle den Serben zu Hilfe kommen, lässt sich für das Salonikunternehmen schlechterdings garnichts anführen. Wenn die Ereignisse so weit fortgeschritten sein werden, dass es klar ist, dass den Serben nicht mehr zu helfen ist, müsste die Logik der Tatsachen zu einer Wiedereinschiffung des Saloniker Korps führen. Eine Verbohrung der Entente in diese Unternehmung würde für die Zentralmächte einen erheblichen Gewinn bedeuten.

Die Lage, die Kitchener vorfindet, ist somit die, dass zwei aussichtslos verfehlte militärische Unternehmungen zu liquidieren sind.

In England ist sehr häufig der Gedanke ausgesprochen worden, die Verteidigung Egyptens müsse offensiv erfolgen, d.h. man dürfe es nicht auf die passive Verteidigung der Suez Kanallinie ankommen lassen, sondern müsse den Gegner durch einen Offensivstoss an einem vitalen Punkte an der Entwickelung des entscheidenden Angriffes auf Egypten hindern. Jetzt, da England durch sein ausgebreitetes Spionensystem im Osten auch wohl wissen wird, dass dem mesopotamischen Expeditionskorps mit grösserem Nachdruck entgegengetreten werden wird, würde der ideale Offensivstoss der sein, der sowohl ein egyptisches wie ein mesopotamisches Unternehmen gleichzeitig treffen würde. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass der nördliche Winkel des östlichen Mittelmeerbeckens - etwa in der Strecke zwischen Adana und Alexandrette - die Verbindungslinie einer gegen Egypten oder Mesopotamien operierenden Armee nahe der Küste in der fühlbarsten Weise treffen könnte. Eine etwa auf Zypern angesammelte stärkere Landungsarmee könnte, unterstützt von der Flotte, hier die Bahnverbindung dauern unterbrechen. Im ganzen würde durch eine solche Expedition in erster Linie rein englische Interessen geschützt; doch liesse sich das traditionell für Palestina und Syrien in Frankreich vorhandene Interesse wohl mit Erfolg für eine solche Orientierung einspannen.

Aus dem gesagten erhellt, dass die Aufgabe Lord Kitcheners im Mittelmeer durchaus keine leichte und angenehme ist, wenn er sich entschließt, der Verzettelung gewaltiger Kräfte und Hilfsmittel an aussichtslosen Punkten ein Ende zu machen, um an einem wirklich vitalen Punkte anzugreifen. Jedenfalls bedeutet die Entsendung ins Mittelmeer für ihn eine starke Verminderung an persönlichem Einflusse. Kein Bericht aus der Ferne kann annähernd das Gewicht der Gegenwart im Kabinettsrat ersetzen. Für seinen Ruhm ist es vielleicht besser, dass er das lecke Schiff des Asquith’schen Kabinettes noch beizeiten verlassen kann. Es sieht nicht danach aus, als ginge das englische Ministerium frohen oder erfolgreichen Tagen entgegen.


vKühlmann.



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