1913-06-02-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/Botschaft London 893
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 354
Zustand: A
Letzte Änderung: 12/08/2017


Der Botschafter in London (Fürst Lichnowsky) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 354.

London¸ den 2. Juni 1913.

Bei meinem heutigen Besuch bei Sir Edward Grey brachte ich die Sprache nochmals auf die Frage der anatolischen Reformen und hob dabei hervor, wie grossen Wert wir darauf legten in völliger Übereinstimmung mit der britischen Regierung vorzugehen, damit auch jeder Anschein vermieden werde, als wolle eine der Mächte der anderen gegenüber eine Vorzugsstellung einnehmen. Wir hätten es daher dankbar begrüsst, dass der Minister es abgelehnt habe der Türkei ein zahlreiches Reformerpersonal zur Verfügung zu stellen, welches auch die Zivilverwaltung erhalten sollte. Eine derartige Ausdehnung des britischen Einflusses würde bei uns missverstanden werden und könnte der öffentlichen Meinung Anlass zu Beunruhigungen geben. Wir stünden nach wie vor auf dem Standpunkt, dass die europäische Türkei erhalten werden müsse und ich hätte Euerer Exzellenz versichert, dass die britische Regierung dieselben Absichten verfolge und ihr jeder Plan einer Aufteilung Kleinasiens vollkommen fern läge. Solange auch Grossbritannien diesen Gedanken verträte würden wir die bisherige Zurückhaltung bewahren und uns auf unsere wirtschaftlichen Interessen beschränken, sollte aber jemals, was wir nicht wünschten, eine Teilung der Türkei eintreten, so würden auch wir unseren Anteil beanspruchen und könnten nicht leer ausgehen.

Was die Frage der Reformen beträfe, so seien auch wir von der Notwendigkeit derselben überzeugt namentlich müsse etwas und zwar möglichst schleunigst in Armenien geschehen, da dort unhaltbare Zustände herrschten. Wir seien bereit, uns hierüber, wie in der Frage der Allgemeinreform mit Grossbritannien zu verständigen. Auch hätten wir aus seiner Rede mit Genugtuung ersehen, dass er diese Frage als eine Angelegenheit aller Mächte betrachte, mithin keine Vorzugsstellung einer einzelnen anstrebe.

Sir Edward erwiderte, dass die Türkei ihn mit der Bitte um Gewährung eines zahlreichen Stabes von Beamten und Offizieren angegangen habe. Mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit und die Rechte anderer Mächte namentlich auch auf uns habe er es abgelehnt, den türkischen Wünschen zu willfahren. Er habe sich darauf beschränkt, einige wenige Offiziere für die Gendarmerie in Aussicht zu stellen, die aber nur provisorisch hingeschickt werden sollten und vielleicht in dem Rahmen eines späteren grösseren Reformwerks hineingespasst werden könnten. Auch sollte diese nicht für die ganze Türkei, sondern für einige Provinzen Verwendung finden. Er habe diese Bitte schon deshalb nicht ablehnen können, weil er sonst dieVerantwortung für etwaige massacres auf sich genommen hätte. Reformen müssten von den Mächten gemeinsam ausgehen und könnten vielleicht in Armenien ihren Anfang nehmen. Vielleicht liesse sich das armenische Statut nach den Vorschlägen der Botschafter des Jahres 1895 als Grundlage verwenden auch für die anderen Provinzen. Er frug mich ob wir hinsichtlich der Reformen irgendwelche Vorschläge zu machen hätten. Ich verneinte dies und forderte ihn auf, seinerseits mit Anregungen hervorzutreten. Er wiederholte, dass er die Türkei erhalten wolle und keine Teilungspläne hege.

Sir Edward scheint sich noch nicht ganz im klaren zu sein nach welchen Grundsätzen die Mächte zu Reformen ihre Hand bieten sollen, ob nach Verwaltungszweigen oder Interessensphären. Ich warnte vor letzterer Lösung und hob hervor, dass die Abgrenzung von Interessensphären auf erhebliche Schwierigkeiten stossen und leicht zu unerwünschten Folgen führen könne. Jedenfalls beschäftigt ihn der Gedanke der Interessensphären und ist es auch bezeichnend für seinen guten Willen, dass er mit uns davon spricht unter Umständen also bereit ist, unsere Interessensphären anzuerkennen.



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