1916-04-04-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139 N. 1, ”Armenien”
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 04/04/1916
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 82
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/27/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 29

Konstantinopel, 4. April 1916

Herr Außenminister,

In meinem Bericht Nr. XLIV [44] vom 3. März dieses Jahres hatte ich die Ehre, 4 Exemplare der Broschüre mit dem Titel „Vérité sur le mouvement révolutionnaire arménien et les mesures gouvernementales” zu senden, die die hiesige Regierung veröffentlicht hat, um die Vorgehensweise gegen die Armenier, die Anlass für so viele Proteste gegeben hat, zu erklären.

Die Erklärungen in dieser Broschüre haben gewiss keinen Christen von der Berechtigung der getroffenen Maßnahmen überzeugt, aber sie scheinen mir doch so interessant zu sein, dass mir viel daran lag, so schnell wie möglich zu erfahren, was man von interessierter armenischer Seite den türkischen Behauptungen entgegenzusetzen hat, umso mehr, als die Verfolgungen, trotz der Proteste der christlichen Welt, fortgesetzt werden und damit zu rechnen ist, dass der noch in der Türkei lebende Teil des armenischen Volkes ebenfalls Opfer von Massakern wird, wenn sich die Situation nicht zur Zufriedenheit der jungtürkischen Regierung entwickelt.

Auf Grund der wichtigen und interessanten Erklärungen, die ich in den hiesigen armenischen Kreisen bekommen konnte, will ich deshalb versuchen, vom armenischen Standpunkt aus eine kurze Darstellung der armenischen Frage zu geben, die als eine Art armenischer Antwort auf die türkische Broschüre dienen kann.

Kommentar zur türkischen Broschüre

Vor dem neunzehnten Jahrhundert lebten Armenier in der Türkei ohne massakriert zu werden. Der Türke war der Herr und der Armenier sein „Raya“ oder Leibeigener, der arbeitete, um die Einnahmen seines Herrn zu erhöhen. Solange der armenische Bauer all seinen Gewinn an seinen kurdischen oder türkischen Agha abgab, und solange er nicht protestierte, wenn es dem Agha beliebte, ihm seine Frau oder seine Tochter zu rauben, solange tötete der Agha seine „Milchkuh“ natürlich nicht.

Aber Anfang des neunzehnten Jahrhunderts beeinflussten die neuen Ideen von Menschenrechten sogar die Türkei, und langsam – es dauerte ungefähr ein halbes Jahrhundert, bis die armenische Bevölkerung verstand, dass auch sie ein Recht auf ein freies und unabhängiges Leben hatte – begannen die Armenier sich bei den türkischen Behörden zu beschweren, wenn der Agha ihr Vieh oder ihre Töchter raubte. Diese Beschwerden und Unzufriedenheit überzeugten die türkische Regierung schließlich davon, dass es vielleicht einfacher wäre, diesem ungläubigen Volk ein Ende zu bereiten, das inmitten von Muslimen an seiner Kirche und seinen nationalen Eigenheiten festhielt.

Schon vor dem russisch-türkischen Krieg 1877- 78 hatten die türkischen Armenier gesehen, welch gute Verhältnisse die Armenier im Kaukasus unter russischer Herrschaft erreicht hatten, und als das russische Gebiet nach dem Krieg erheblich erweitert worden war, so dass insgesamt 1½ Millionen Armenier unter russische Herrschaft kamen und dadurch lernten, was es heißt, ein Recht auf Leben zu haben, empfanden die türkischen Armenier umso mehr ihre Unterdrückung, und begannen, sich regelmäßig bei der Regierung in Konstantinopel zu beschweren. Gleichzeitig gründeten armenische Studenten aus dem russischen Kaukasus Vereine zur Einführung von Reformen in Türkisch-Armenien.

Das Regime Abdul-Hamid, das erbost darüber war, dass ein christliches Volk unter türkischer Herrschaft es wagte, sein Recht auf Leben einzufordern und deshalb keine Existenzberechtigung hatte, beschloss die Vernichtung des armenischen Volkes.

Das System Abdul-Hamids bestand aus einer Reihe von zum Teil isolierten, zum Teil umfassenden Massakern. Aber dieses System hatte den Fehler, die Aufmerksamkeit der europäischen Mächte auf die armenische Frage zu lenken, und aufgrund des Einflusses der europäischen öffentlichen Meinung gelang es Abdul-Hamid nicht, die zweieinhalb Millionen Armenier zu vernichten.

Nach der Einführung der Verfassung gaben die Jungtürken in einem kurzfristigen Rausch der Begeisterung den Armeniern alle möglichen Versprechen ab, dass sie nun wie die anderen Völker des Reiches in den verfassungsgemäßen Genuss von Freiheit und Gleichheit kommen sollten. Aber es war offenbar schwer für ein Volk, das sich durch die Zeiten hindurch als Herren betrachtet hatte, sich nun plötzlich nach neuen Prinzipien zu richten und seine bisherigen Untergebenen als gleichgestellte Bürger in einem konstitutionellen Staat anzusehen. Die Armenier aber ließen sich von den goldenen Worten täuschen und betrachteten sich nun wirklich als den Türken gleichgestellt. Dieser Zustand führte zum ersten Massaker unter der [neuen] Verfassung, dem Massaker von Adana 1909, bei dem ungefähr 20.000 Armenier ums Leben kamen.

Doch es zeigte sich schnell, dass in einem parlamentarischen System das türkische Element in den Parlamentskammern zahlenmäßig unterlegen sein würde. Wenn man sich eine Union von armenischen, griechischen, arabischen und anderen nicht-türkischen Abgeordneten vorstellt, könnte diese bald das Kalifat gefährden. Aber man muss sich daran erinnern, dass von den 24 Millionen Einwohnern, die das türkische Reich vor Ausbruch des Balkankrieges hatte, nur 6 Millionen Türken waren, während es 8 Millionen Araber gab, 4 Millionen Griechen, 2 Millionen Armenier, 1 Million Kurden und Lasen und schließlich viele Juden, Bulgaren, Albaner, Serben etc. etc.

Weil es die türkische Bevölkerung aufgrund fehlender wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsfähigkeit nicht verstand, ihre starke politische Stellung zu nutzen, um ihre Überlegenheit zu sichern, versuchten die Jungtürken, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung auf Durchsetzung des Gleichheitsprinzips aufgegeben hatten, durch eine panislamische Bewegung die Araber und Kurden, sowie die muslimischen Lasen und Albaner an sich zu binden. Aber die jungtürkische Verwaltung setzte die Tradition von Übergriffen aus den Tagen des Despotismus fort und nahm Kurden und Araber, die bisher vom Militärdienst freigestellt waren, in die Armee auf, was eine so große Unzufriedenheit bei den Genannten hervorrief, dass sogar die Albaner und Kurden offenen revoltierten.

Erst jetzt ließen die Jungtürken die Maske fallen und forderten: Die Türkei den Türken. Weil sie diesen Kampf aber nicht auf legale Weise führen konnten, und aus Rücksicht auf Griechenland auch nicht auf dem Rücken der Griechen, und weil der Kalif nicht die Araber, die auch Muslime sind, ausrotten konnte, beschlossen sie, sich auf die Armenier zu stürzen, nicht nur, um dieses Volk auszuschalten, sondern auch um dadurch die anderen nicht-türkischen Nationen im Reich zu terrorisieren.

In der Broschüre der türkischen Regierung wird auf Seite 5 gesagt, dass sich die Armenier durch den Katholikos von Etchmiadsin an die russische Regierung gewandt hatten, und dass sie mit Noubar [Nubar] Pascha an der Spitze versuchten, eine ausländische Intervention in Bezug auf Angelegenheiten des Osmanischen Reiches herbeizuführen. Der Katholikos ist das Oberhaupt der armenischen Kirche, und, da in Russisch-Armenien lebend, russischer Untertan. Noubar Pascha ist als ägyptischer Armenier englischer Untertan. Wegen des gegen die Armenier gerichteten repressiven türkischen Regimes sahen die russischen Landsleute und die englisch-ägyptischen Armenier es als ihre Pflicht an, sich an die Großmächte zu wenden, um Reformen in Türkisch-Armenien durchzuführen. Noubar Pascha wurde der Sprecher des armenischen Komitees, das in die europäischen Hauptstädte reiste, und die russischen Armenier baten ihre Regierung, Druck auf die Pforte auszuüben, um Reformen einzuführen. Es waren also nicht osmanische Untertanen, die sich an fremde Mächte, sondern russische und englische Armenier, die sich an ihre Regierungen wandten.

Jedoch willigte die Pforte in die Reformen ein, und als die beiden europäischen Inspektoren für die Reform, der Norweger Hoff und der Holländer Westeneck [Westenenk] 1914 ernannt wurden, waren alle Armenier zufrieden. Die armenische Presse feierte das Ereignis und erklärte sogar, dass man bald umgekehrte Verhältnisse haben werde, so dass die russischen Armenier die türkischen Armenier beneiden würden.

Dann begann der Weltkrieg und die Regierung nutzte sofort dieses Ereignis, um die beiden Inspektoren zu entlassen und beendete die Diskussion um die Reformen. Natürlich waren alle Armenier darüber tief enttäuscht, obgleich sie noch hofften, dass die Pforte freiwillig die Ära der Reformen einleiten würde.

Was weiterhin von ägyptischen und russischen Armenier unternommen wurde, kann nicht festgestellt werden. Aber es ist nur natürlich, dass die russischen Armenier für Russland Partei ergriffen haben etc., und ein solches Verhalten kann wohl kaum als revolutionäre Bewegung seitens der türkischen Armenier bewertet werden.

Wenn Sassonow [Sazonov] in der Duma erklärt, dass die Armenier Seite an Seite mit den russischen Truppen kämpfen, dann stellt er damit nur fest, dass dieser Teil der russischen Bevölkerung treu zu seinem Vaterland steht, und wenn Lord Cromer davon gesprochen hat, dass eines der Ziele des jetzigen Krieges die Befreiung Armeniens ist, dann hat er das getan, weil er glaubte, dies sei in Übereinstimmung mit der englischen Politik.

Wenn die aus Russisch-Armeniern bestehenden armenischen Komitees oder russisch-armenische Zeitungen für die russischen Ziele eintraten (Seite 8, 9, 10 in der Broschüre), dann ist das nur natürlich und kann nicht dazu führen, den Türkisch-Armeniern vorzuwerfen, sie hätten Propaganda für eine Autonomie betrieben.

Werden die russischen Muslime oder die Muslime in den englischen und französischen Kolonien als Aufständische angesehen, weil der türkische Kalif den heiligen Krieg ausgerufen hat und weil deutsche und islamische Agenten Aufstände unter der Bevölkerung anzuzetteln versuchen?

Und was die Proklamationen anbelangt, die, wie es in der Broschüre steht, gegen die Armenier gerichtet wurden, als die Türkei noch neutral war, genügt es zu fragen, ob die Italiener die tripolitanischen Moslems als Aufrührer betrachteten, als Italien noch neutral war, und ob sie es heutzutage immer noch tun.

Was den Aufstand in Van anbelangt, sind die Tatsachen anders, als offiziell behauptet wird (die Gesandtschaft hat früher darüber berichtet), und in Bezug auf die anderen Vorfälle gibt es bislang noch keine gesicherten Informationen. Man kann allerdings schon jetzt feststellen, dass die Armenier nie zu den Waffen gegriffen haben, außer in gesetzlicher Notwehr anlässlich der Massaker und Raubzüge der Kurden und Türken.

Es ist doch merkwürdig, dass die Armenier in Ismid und Adabazar spioniert haben sollten, als die russische Flotte Heraclée bombardierte (Seite 13). Ismid und Adabazar liegen in der Nähe von Konstantinopel, und damit genauso weit weg von Heraclée wie jeder andere Kriegsschauplatz.

In Wirklichkeit sind die Armenierverfolgungen nur die Verwirklichung des jungtürkischen Vernichtungsplans gegen die Armenier, ohne jeglichen militärischen oder anderen Grund.

Was die Broschüre “Opfer von bedauerlichem Missbrauch und Gewalttaten” (Seite 14) nennt, umfasst 2 Millionen Armenier! Und das auf derselben Seite genannte Gesetz zur Erfassung der Güter der Deportierten ist eben jenes Gesetz, das jegliches Eigentum der Armenier konfisziert.

Unter diesen Umständen ist es zweifelhaft, ob die auf Seite 14 erwähnten überführten Personen dafür verurteilt wurden oder werden, weil sie Armenier misshandelt haben, oder weil sie sie zu wenig misshandelten.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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