1918-02-22-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R13200
Zentraljournal: 1918-A-08402; 15252
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 02/23/1918
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/03/2012


Der Reichstagsabgeordnete Maximilian Pfeiffer an das Auswärtige Amt

Schreiben



Berlin, den 22. Februar 1918

Euer Hochwohlgeboren

beehre ich mich hier einen von Herrn E. Neuner abgefaßten und von mir überprüften Bericht über die Reise in die Türkei zu persönlicher Einsicht vorzulegen.

Sehr ergeben


Dr. Pfeiffer

[Der Bericht enthält vor allem kritische Ausführungen über die inneren Zustände, die politische und wirtschaftliche Lage in der Türkei sowie zu den Beziehungen zwischen ihr und Deutschland. Hier wird nur der die Armenier betreffende Teil wiedergegeben.]

Anlage

Bericht über eine Reise in die Türkei.


Am 6. Oktober reiste ich in Begleitung Dr. Peiffer und des Herrn Dr. Brandenburg nach Konstantinopel und hielt mich dort bis zum 1. Dezember auf. .......

Armeniergreuel.

In Eskischehir sah man überhaupt auf Schritt und Tritt die Spuren der systematischen Ausrottung der Armenier durch die Türken. Wie bekannt, gab es vor 20 Jahren eine Armenierfrage überhaupt noch nicht und wurde dieselbe erst durch die Machenschaften Englands aufgelegt. England suchte damals die Türkei fortwährend zu schwächen und zu diesem Zweck kamen ihm die Armenier sehr gelegen. Es erweckte in ihnen zum erstenmal den Gedanken der staatlichen Selbständigkeit und durch die englische Botschaft in Konstantinopel sandte es an die Armenier, die es für diese Zwecke gewonnen hatte, Bomben und alle möglichen anderen Mittel, um denselben einen Aufstand zu ermöglichen. Von dieser Zeit an datiert die Verfolgung der Armenier durch die Türkei. Zu Beginn des jetzigen Krieges soll ja wohl im Gebiete Erzerums an der kaukasischen Grenze Einiges passiert sein, was die Türkei berechtigt hat, gegen die dortigen Armenier vorzugehen, doch im Laufe des Krieges dehnte die türkische Regierung ihren Feldzug gegen die Armenier auf die ganze Türkei aus. Ein Hauptgrund dafür mag wohl der sein, dass die Armenier ziemlich der einzige Volksstamm in der Türkei waren, der Handel und Industrie betrieb und zwar mit Erfolg und dadurch reich geworden war. Heute existieren nur wenige Armenier mehr, die grösseres Vermögen besitzen, denn das ganze Vermögen der Armenier wurde von den Türken beschlagnahmt und zwar auf eine Art und Weise, die mit den Formen eines einigermassen zivilisierten Staates nichts gemein haben.

Man schätzt im allgemeinen die Zahl der Armenier, die bei den Evakuierungen durch die Türkei umgekommen sind, auf 2 Millionen, doch erscheint diese Zahl ziemlich niedrig gegriffen. In Wirklichkeit wird wohl bis zum Ende des Krieges kaum mehr was von diesem armen Volk übrig sein. Ein in Deutschland erzogener, höherer türkischer Beamter, den ich einmal fragte, ob der Türkei bei Kriegsschluss die Aufrollung der Armenierfrage durch die Ententemächte nicht sehr unangenehm werden könnte, gab mir zur Antwort, dass es eine Armenierfrage bis dahin sicher nicht mehr gäbe, da keine Armenier mehr vorhanden wären. Diese Ansicht kann man überall erfragen und sie ist bezeichnend für das System der türkischen Regierung überhaupt. Da aber leider ziemlich das gesamte Material, das über die Verfolgungen existiert, durch die Vermittlung der Jesuiten sich bereits in den Händen Frankreichs, sowie des Hl. Stuhl befindet, dürfte die Aufrollung der Frage nach dem Kriege bedenkliche Schwierigkeiten hervorrufen. Das Schlimme ist, dass die Türken im allgemeinen glauben, dass diese Armeniermassakres in voller Uebereinstimmung mit der deutschen Regierung veranstaltet wurden. Es wäre höchst notwendig, dass deutscherseits irgendeine Erklärung käme, in der man ausdrücklich betont, auf die innere Politik der Türkei niemals den geringsten Einfluss ausgeübt zu haben oder wenn, dann einen solchen zur Verhinderung dieser Schandtaten. In Kleinasien sind die Strassen, speziell gegen den Kaukasus und im Taurus, mit den Skeletten von verhungerten und an Erschöpfung auf der Strasse verstorbenen Armeniern geradezu übersät. Das Schlimmste ist, dass die türkischen Polizisten, die diese Armenierzüge zu Pferd von Stadt zu Stadt begleiten mussten, die jungen Armeniermädchen und Knaben überall an die öffentlichen Häuser zu 4 – 6 Mark verkauften. In Mossul, dessen Wali durch seine Grausamkeit zu einer grossen Berühmtheit gelangte, wollte man 300 armenische Frauen an die Harems der Türkei verteilen und als sich diese absolut weigerten warf man sie allesamt in einen grossen Brunnen und liess sie dort umkommen.

In den grossen Städten, die ich besuchte, waren überall die bestgebauten Häuser früher Eigentum der Armenier; heute sind in diesen Häusern alle möglichen anderen Menschen. Man hat bei der Evakuation am Anfang z.B. so verfahren, dass man den Betreffenden mitteilte, es sei das Haus nötig für militärische Zwecke und er müsse es räumen. Er bekam dafür keinen Pfennig Entschädigung, musste aber die in der Türkei ziemlich hohen Grund- und Haussteuern weiterbezahlen. Falls er diese Steuern, die ihm solange er die Einnahmen aus seinem Hause hatte, leicht fielen, nicht bezahlen konnte, so wurde das Haus sofort versteigert und zwar zu einem lächerlichen Preis an irgendeinen türkischen Interessenten. Auf diese Weise kamen alle Häuser in türkischen Besitz und die Armenier gingen leer aus. Meistens aber, zumal in späterer Zeit, verfuhr man viel einfacher, indem man die Armenier einfach solange zu Fuss durch Kleinasien wandern liess, bis sie verhungerten und starben, und so der Staat die Erbschaft viel leichter antreten konnte.

Ein bezeichnender Fall ist noch der folgende: Der Direktor der Ottomanischen Bank in Eskischehir, ein Mann armenischer Herkunft, aber österreichischer Protégé, hatte in einer Kassette das Vermögen eines verwandten Armeniers zur Aufbewahrung erhalten, als dieser von der türkischen Regierung gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen. In der Kassette befanden sich Wertpapiere sowie Schmuckgegenstände. Von der türkischen Behörde kam damals ein Erlass, der jedem verbot, irgendwelche Wertgegenstände von Armeniern in Verwahrung zu nehmen. Dieser Bankdirektor wollte Unannehmlichkeiten vermeiden und beschloss, die Kassette der türkischen Behörde zu übergeben. Er bat vorher einige deutsche Freunde mit ihm den Inhalt der Kassette genau aufzunehmen und stellte ein Verzeichnis des Inhalts her, das er von allen unterschreiben liess und jedem zur Aufbewahrung übergab. Daraufhin brachte er die Kassette samt einem Inhaltsverzeichnis dem Mutessariff, ungefähr dem deutschen Regierungspräsidenten entsprechend. Nach zwei Tagen erhielt er den Befehl, sich dorthin zu begeben, wo ihm der Mutessariff die heftigsten Vorwürfe machte, wie er es wagen könne, die türkische Behörde derartig für Narren zu halten. Er habe die Kassette aufgemacht und darin nur alten Plunder und zwei zerbrochene Revolver vorgefunden. Die zwei Revolver hatte man offensichtlich deshalb hineingetan, um dem Mann auf Grund des Verbotes des Waffentragens Schwierigkeiten zu machen. Als der Bankdirektor daraufhin erwiderte, das könne nicht möglich sein, die Kassette müsse ausgeplündert und mit diesem Zeug gefüllt worden sein, da er, vor er sie ablieferte, vor Zeugen ein genaues Inhaltsverzeichnis angefertigt habe, schrie ihn der Mutessariff an, wie er sich unterstehen könne, eine türkische Behörde Lügen zu zeihen und warf ihn hinaus. Nach einigen Tagen wurde er verhaftet, musste dann zu Fuss die 420 km lange Strecke nach Haidar-Pascha zurücklegen und nachdem er dort einige Monate zubringen musste, wurde er vor Gericht gestellt; dort verurteilte man ihn zu 6 Monaten Gefängnis und zwar deshalb, weil er die Kassette nicht dem Komitee zur Verwaltung des Vermögens der Armenier, sondern dem Mutessariff übergeben habe. Trotzdem er österreichischer Protégé war und trotzdem die ganze Sache doch mehr als lächerlich war, musste er diese 6 Monate absitzen und verlor natürlich auch seine Stellung bei der Bank. Man könnte noch viele Beispiele dieser Art erzählen, aber wie die Dinge da unten vor sich gehen, davon kann man sich eigentlich keinen rechten Begriff machen. Es ist fürchterlich.

.........


[Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amts (Bussche-Hadenhausen) an den Botschafter in Konstantinopel (Bernstorff) (Nr. 165) 1.3.]

Der Reichstagsabgeordnete Pfeiffer hat mir den u.R. [um Rückgabe] hier beigefügten Bericht seines Reisegefährten Herrn Neuner über die Beobachtungen, die beide Herren während ihres Aufenthaltes in der Türkei gemacht haben, zu persönlicher Einsicht vorgelegt. In dem Bericht ist wohl alles zusammengetragen, was während des Krieges in der Türkei an unerfreulichen Erscheinungen tatsächlich zu Tage getreten ist oder doch in Pera erzählt wird. So ergibt sich ein außerordentlich trübes Bild von den türkischen Zuständen. Mögen auch viele der berichteten Einzelheiten richtig sein, so erscheint andererseits vieles falsch aufgefaßt oder von den Gewährsmännern, unter denen wohl der Freiherr von Fürstenberg eine große Rolle gespielt hat, übertrieben.

Da sich die Anschauungen des Abgeordneten Pfeiffer auf seine Parteigenossen übertragen könnte und da eine so ungünstige Beurteilung der verbündeten Türkei in den Kreisen des Reichstags uns bei der weiteren Verfolgung unserer türkischen Politik Unbequemlichkeiten bereiten könnte, wäre es mir erwünscht, von Euer pp. eine Äußerung zu dem Bericht zu erhalten, die ich dem Abgeordneten Pfeiffer selbst oder dem Abgeordneten Erzberger vertraulich mitteilen könnte.


[Der Botschafter in Konstantinopel (Bernstorff) an den Reichskanzler (Hertling) (Nr. 102) 6.6.18]


Euerer Exzellenz beehre ich mich, in der Anlage den mit dem Erlaß vom 1. März A 8402 übersandten, Euerer Exzellenz vom Herrn Reichstagsabgeordneten Pfeiffer übermittelten Bericht weisungsgemäss zurückzureichen, indem ich einige Bemerkungen beifüge, zu denen mich der Inhalt des Berichtes veranlasst.

[In seiner ausführlichen Antwort kritisiert Bernstorff die Ausführungen Neuners, der kein objektives Bild von der Türkei und ihren Verhältnissen gegeben habe. Die Armenier betreffend schreibt er:]

Über die „Armeniergreuel“ ist so viel geredet und geschrieben worden, dass es müssig erscheint, im Rahmen eines so allgemein gehaltenen Berichts sich über diese Frage zu äussern. Es erübrigt sich daher, auf die Ausführungen des Berichtes einzugehen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Art und Weise, wie die Türken die Armenierfrage behandelt und zu liquidieren versucht haben, keineswegs einwandfrei war und den Feinden der Türkei ein ungemein ausgiebiges Agitationsmaterial in die Hand gegeben hat. Es sind allerdings bei den Deportationen der Armenier Dinge vorgekommen, die unentschuldbar waren und bei böswilliger und einseitiger Betrachtung Zweifel an die Kulturfähigkeit der Türken aufkommen lassen können. Es darf aber nicht übersehen werden, dass solche Bewegungen nicht grundlos entstehen, und man würde den Türken Unrecht tun, wollte man die Armenier als die unschuldigen Opfer eines sinnlosen, religiösen und durch nichts begründeten Hasses darstellen. Der Schreiber des Berichts macht richtige Angaben über die Entstehung der sogenannten Armenierfrage: wie eine solche Frage früher nicht existiert habe, wie türkenfeindliche Mächte wie England und Russland sie durch Entfaltung einer intensiven Propaganda unter den Armeniern erst schufen. Es gelang diesen Mächten allmählich, im Kaukasus einen Beunruhigungsherd zu schaffen. Zu Beginn der türkischen Operationen gegen Russland kam der lang geschürte Hass der Armenier zum offenen Ausbruch, teils in offener Auflehnung, teils in Spionage zu Gunsten Russlands, teils in Behinderung und Beunruhigung der türkischen Etappen. Greueltaten gegen die mohammedanische Bevölkerung kamen hinzu. Dass die türkische Regierung gegen dieses Unwesen mit aller Schärfe vorging, ist erklärlich. Sie musste in den Armeniern ein Volk sehen, dessen Existenz den Bestand des Osmanischen Reiches zu gefährden geeignet war. Dass sich das Vorgehen nicht nur auf die im Kaukasus wohnhaften Armenier beschränkte, erklärt sich daraus, dass die wirtschaftliche Potenz der Armenier, der bisherigen Hauptträger des türkischen Wirtschaftslebens, schwer auf der türkischen Bevölkerung lastete und die Türken endlich die Zeit gekommen sahen, sich von dem nach ihrer Ansicht unerträglichen wirtschaftlichen Druck befreien.



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