1913-08-22-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14081
Zentraljournal: 1913-A-17258
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 08/24/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 251
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in St. Petersburg (Pourtalès) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Sicher

St. Petersburg, den 22. August 1913

Von dem mir unter Nr. 220 geneigtest mitgeteilten Bericht des Kaiserlichen Botschafters in Constantinopel vom 1. d. M. habe ich mit Interesse Kenntnis genommen. Jeder, der mit der russischen Geschichte und der russischen Politik der letzten zwei Jahrhunderte einigermassen vertraut ist, wird den Betrachtungen des Freiherrn von Wangenheim über die traditionellen Ziele und Wünsche Russlands ohne weiteres zustimmen können. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass der Drang nach Expansion eine in dem russischen Volkscharakter begründete Eigenschaft ist, welche auch in der russischen Politik immer wieder zum Ausdruck gelangt. Ein geistreicher russischer Staatsmann verglich einmal mir gegenüber die Tendenzen der traditionellen russischen Politik mit dem Bestreben des russischen Bauern, immer mehr Land zu bekommen, obgleich er schon das Land, das er besitze, nicht ordentlich bearbeite und bearbeiten könne. "Wir verstehen es eben nicht, intensiv zu wirtschaften. Anstatt die unermesslichen Schätze zu heben, über welche Russland in seinem Innern verfügt, ist unser Auge immer auf die Peripherie gerichtet."

Man wird aber billigerweise auch zugeben müssen, dass der Drang Russlands nach dem offenen Meer und der Wunsch, in den Besitz eisfreier Häfen zu gelangen, der Berechtigung nicht ganz entbehren.

Ich darf gehorsamst daran erinnern, dass ich diese Gesichtspunkte in meiner Berichterstattung stets hervorgehoben habe. Auch im Verlaufe der jüngsten Krisis habe ich wiederholt die Ueberzeugung ausgesprochen, dass die russische Politik ihre alten Ideale keineswegs aufgegeben hat, dass vielmehr der Erwerb von Constantinopel und die Besitzergreifung der Meerengen nach wie vor das Ziel bildet, dessen einstige Erreichung wohl die meisten Russen ihrem Vaterlande wünschen.

Zugleich aber habe ich mir wiederholt gestattet, die Ansicht zu äussern, welche ich auch heute in vollem Umfange aufrecht erhalte, dass Russland jetzt die Meerengenfrage nicht aufzurollen beabsichtigt und auch nicht nach einem Vorwande sucht, um in die armenischen Wilajets einzurücken.

Ich glaube auch nicht, dass Herr Sazonow, der übrigens noch lange Russischer Minister des Aeussern bleiben kann, der einzige Vertreter dieser Ansicht ist. Gewiss ist es möglich, dass im Falle seines baldigen Rücktritts ein abenteuerlustiger Minister an seine Stelle tritt und dieser die traditionelle Expansionspolitik wieder aufnimmt. Die Wahrscheinlichkeit aber spricht im gegenwärtigen Augenblicke nicht dafür. Ich möchte viel eher glauben, dass von denjenigen Persönlichkeiten, welche in den nächsten Jahren Aussicht haben, hier in leitende Stellungen zu gelangen, die meisten die Ansichten des Herrn Sazonow teilen, dass nämlich Russland aus militärischen und finanziellen Gründen sowie aus Gründen der inneren Politik eine längere Zeit der Ruhe dringend braucht.

Noch bei der letzten Unterredung, die ich mit Herrn Sazonow hatte, versicherte mir der Minister, dass bei allen massgebenden hiesigen Kreisen sowohl aus militärischen wie aus innerpolitischen Gründen eine ausgesprochene Abneigung gegen die Annexion von Gebieten mit armenischer Bevölkerung bestehe.


F. Pourtalès



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