Für die internationale Politik ist die Frage der territorialen Zugehörigkeit Hocharmeniens von größter Bedeutung. Sie fällt für die Wertung der Weltmachtverhältnisse derart in die Wagschale, daß selbst die anscheinend Unbeteiligten bei einem Machtwechsel nicht gleichgültig zusehen würden. Die strategische Bedeutung des Landes hat in der "Frankfurter Zeitung" schon vor einiger Zeit Paul Rohrbach erläutert. Sie läßt sich in knapper Fassung etwa so umschreiben, daß der Herr von Hocharmenien, wenn er den Nachbarn militärisch halbwegs gewachsen ist, die westlichen, südlichen und östlichen Vorgelände dieser natürlichen Riesenburg: Kleinasien, Mesopotamien und Westpersien tatsächlich beherrscht. Es sind das alles Gebiete, die in die Einflußsphäre der künftigen Bagdadbahn gehören, so daß Deutschland an der armenischen Frage unmittelbar interessiert ist. Doch letzterer berührt die Interessen Englands: Wenn der russische Vormarsch in Nordpersien nicht aufgehalten wird und zur Eroberung Armeniens führt, das ein Fremdherrscher in Persien zur Sicherung seiner Stellung braucht, so ist der Persische Golf, den die englische Politik zum unantastbaren Vorwerk Indiens erhoben hat, nicht länger sicher. Die strategische Bedeutung Armeniens liegt in so natürlichen Verhältnissen begründet, daß sie von jeher erkannt wurde. Jede Macht, die sich die Vorherrschaft in Vorderasien erkämpfte, mußte Armenien erobern. Nach den Persern übernahm es Alexander der Große, und später verteidigte mit wechselndem Glück das byzantische Reich lange Armenien gegen die Orientalen. Die Armenier selber konnten nur in Uebergangszeiten sich unabhängig machen, wenn auch Tigranes der Große einst ein armenisches Reich gründete, das fast als Erbe der antiken Großmächte des Ostens auftrat. Später gelang es den armenischen Königen von Ani und andern Teilfürsten nie mehr, die ganze, im hohen Mittelalter feudal gegliederte Nation unter ein Zepter zu bringen oder auch nur ihre Teilgebiete von den Arabern und von Byzanz ganz unabhängig zu erhalten. Selbst als nach dem Fall der letzten christlichen-orientalischen Staaten in Byzanz und Trapezunt ganz Vorderasien auf Jahrhunderte unter die Herrschaft der Osmanen kam, hörten die Kämpfe um Armenien nicht auf, die zwischen Persien und der Türkei bis in die letzte Kriegszeit weitergeführt wurden. Die russische Bedrohung Armeniens, die schon vor hundert Jahren einsetzte, ist mit dem Rückzug der türkischen Truppen vom Westufer des Urmiasees akut geworden.
Der Wert des Landes, das ein ewiger Zankapfel zu sein scheint, ist mit der strategischen Bedeutung nicht erschöpft. Es ist ein Durchgangsland, durch das die kürzeste und natürlichste Straße nach Persien führt. Das Land selber ist nicht überreich, aber landwirtschaftlich hoher Entwicklung fähig und wohl auch nicht ohne mineralische Bodenschätze. Rußland hat zu seiner Eroberung schon einen großen Schritt getan, da es von Persien schon 1818 und von der Türkei 1878 den Nordosten Armeniens erwarb. Damit hat es im Lande selber einen Stützpunkt, was die militärische Aufgabe sehr erleichtern würde. Das heute noch türkische Gebiet aber ist weit ausgedehnter, strategisch und verkehrsgeographisch wichtiger. Zu seiner Verteidigung hat die Türkei eine ansehnliche, selbst während des letzten Krieges nicht erheblich geminderte Truppenmacht versammelt, die mindestens vor einer russischen Ueberrumpelung schützt. Die russischen Rüstungen aber sind ungleich umfassender. Im Kaukasus stehen immer drei kriegsbereite Armeekorps, denen vom Schwarzen und vom Kaspischen Meer her leicht Ergänzungen nachgeschickt werden können. Im Grenzgebiet selber schieben sich die Bahnen, die durchaus nach militärischen Gesichtspunkten angelegt werden, immer weiter vor. Von Kars aus, das mit Tiflis schon verbunden ist, zielt man nach Erzerum, der wichtigsten türkischen Festung in Armenien. Rußland hat sie schon zweimal besessen und ihr bloßer Name klingt dem russischen Kaukasusoffizier wie Hohn. Das von Kars zur türkischen Grenze etwa halbwegs gelegene Sarikamysch wird noch vor Neujahr den ersten Eisenbahnzug sehen und die Vorarbeiten zur Weiterführung der Strecke sind im Gange. Die Türken könnten, selbst wenn sie Geld und Unternehmungsgeist hätten, einstweilen hinter ihren Grenzen nicht ebenso rüsten, weil Rußland sich ein Vetorecht gegen alle Bahnbauten östlich von Erzerum gesichert hat. Eine längere Verteidigung Armeniens gegen die russische Uebermacht wäre daher unmöglich, und wenn sich die Verkehrsverhältnisse in Kleinasien nicht gründlich und schnell ändern, wird der russische Vorsprung immer größer werden. Tatsächlich wird aber einstweilen Armenien der Türkei nicht durch ihre Truppen, sondern durch die Diplomatie der Mächte erhalten.
Damit übernimmt aber Europa auch die Pflicht, die armenische Frage nach ihrer nationalen Seite hin zu prüfen. Sie besteht überall, wo Armenier wohnen, aber ihre Lösung ist in der Türkei am dringlichsten. Nicht aus idealen Gerechtigkeitsgründen, die von den Diplomaten wenig gewertet werden und ebenso gut zu Reformen im russischen Armenien führen müßten, aber aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Solange die Armenier ihre Zugehörigkeit zur Türkei als ein unerträgliches, bei der ersten Gelegenheit abzuschüttelndes Provisorium betrachten, kann keine Truppenanhäufung und keine Neubewaffnung den Krankheitszustand des Reiches heilen, der schließlich aus Armenien ein neues, gefährlicheres Mazedonien machen müßte, um das einmal ein Kampf nicht zwischen kleinen Balkanstaaten entbrennen würde.
Man hat die Armenier mit den Juden verglichen. Vielleicht sind die beiden Völker, die äußerlich unleugbar eine gewisse Aehnlichkeit haben, auch ihrer Abstammung nach, die beidemal auf die frühgeschichtlichen Hethiter weist, verwandt. Ein ähnliches Schicksal lastet auf beiden Völkern. Seit Jahrhunderten haben die Armenier kein eigenes Staatswesen mehr, leben sie, zum größten Teil über weite Länder anderer Völker zerstreut. Lange waren sie ganz rechtlos, noch heute sind sie vielfach rechtlich eingeschränkt. Die hübschen Tugenden der Nüchternheit, Klugheit, kaufmännischer Begabung und Arbeitsamkeit, finden sich, wenn auch nur nach orientalischem Maßstab, bei den Armeniern wieder. Ihr Nationalgefühl ist so stark, daß es dem Aermsten noch die Vorteile bedingungsloser Solidarität der Gemeinschaft sichert. Nicht zum mindesten beruht es auf der nationalen Religion, obwohl kleinere Teile der Nation ihr verloren gegangen sind und zu Rom übertraten (armenische Uniaten) oder sich gar zum Protestanismus bekennen. Die Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben werden, hört man überall auch gegen die Armenier; als Kaufleute gelten sie für skrupellos, das Wirtsvolk suchen sie zu bewuchern. Aber vor den Juden haben die Armenier eines voraus: ein fester Stamm von Bauern ist im alten Lande geblieben, denen auch von kritischen Reisenden nur Gutes nachgesagt wird. Darum ist die Armenierfrage nicht einheitlich. Der über die türkischen Hafenstädte zerstreute Teil des Volkes ist in derselben Lage wie alle andern Christen im ottomanischen Reich. Eine Reform, die sie alle umfassen würde, ist kaum zu formulieren. 1803 versuchte Sultan Abdul Asis die Frage durch die Gewährung einer "armenischen Verfassung" zu lösen, die ein Stück Papier geblieben ist. Viel leichter zu fassen ist aber das Problem, wenn man es auf die Armenier beschränkt, die das eigentliche armenische Hochland bewohnen. Für diese armenische Frage, die mit der kurdischen zusammenfällt, findet die Diplomatie schon eine Grundlage vor, auf die sich der Reformanspruch rechtlich stützen läßt.
Nach dem Wortlaute des Berliner Vertrages (Art. 61) verpflichtete sich die Hohe Pforte, "die Verbesserungen und Reformen durchzuführen, die durch die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erforderlich werden und deren Sicherheit gegen die Tscherkessen und Kurden zu gewährleisten". Von den Maßnahmen sollten die Berliner Garantiemächte periodisch unterrichtet werden. Auf diesen Artikel, der bisher toter Buchstabe war, wird man sich in den nächsten Monaten wohl noch oft berufen. Natürlich ist der Ausdruck "Armenien" darin nicht zufällig ausgeschaltet. Der Ersatz leidet aber an großer Unklarheit.
"Von Armeniern bewohnt" sind zum Teil fast alle Provinzen der asiatischen Türkei; der Nachsatz, daß die Sicherheit der armenischen Bevölkerung gegen Kurden und Tscherkessen zu schützen sei, gibt aber darüber Auskunft, was eigentlich die Berliner Diplomaten meinten. Aber die Statistik der im engen Sinn armenischen Wilajets zeigt schon die Schwierigkeit von Reformen. Nach Lynch, dessen Angaben sich auf das Jahr 1890 beziehen, heute aber ungefähr wieder zutreffen dürften, da die großen Verluste der armenischen Bevölkerung in den Metzeleien der neunziger Jahre und durch die nachfolgende Auswanderung jetzt infolge des natürlichen Zuwachses wieder ausgeglichen sein werden, wohnten (in Tausend Seelen):