Als ich gestern weisungsgemäß Herrn Sassonow auf die bedenklichen Seiten des russischen Reformprojekts für die armenischen Wilajets hinwies, vertrat der Minister den Standpunkt, daß das Programm von 1895 im Hinblick auf die Entwickelung, welche die Verhältnisse seit jener Zeit genommen hätten, nicht mehr ausreiche. Er habe bereits in seiner Zirkularnote über die Notwendigkeit von Reformen in Armenien angedeutet, daß die einzuführenden Reformen zwar von dem Programm von 1895 ausgehen, den jetzigen Verhältnissen aber angepasst werden müßten. Als unbedingt erforderlich bezeichnete Herr Sassonow die Ernennung eines christlichen, womöglich nichttürkischen Generalgouverneurs. Eine Berücksichtigung türkischer Vorschläge erschien ihm äusserst bedenklich, da es der Türkei mit ihrem Wunsch, Reformen in Armenien einzuführen, nicht Ernst sei. Man dürfe um keinen Preis halbe Maßregeln ergreifen, sondern müsse sich der in Mazedonien gemachten schlechten Erfahrungen erinnern und alles daransetzen, um ein wirksames Reformwerk durchzuführen. Meine Einwände, insbesondere auch der Hinweis darauf, daß andere Gebietsteile der Türkei die den Armeniern eingeräumten Zugeständnisse auch für sich beanspruchen würden, und daß damit die Aufteilung der Türkei beginnen werde, suchte der Minister zu entkräften. Dabei beteuerte er auf das feierlichste, daß auch er weit davon entfernt sei, die Aufteilung des türkischen Besitzes in Kleinasien anzustreben. Im Gegenteil wünsche er, daß gerade, um einer solchen Aufteilung vorzubeugen, ruhige und geordnete Verhältnisse in Armenien geschaffen würden. Den Weg hierzu erblicke er in dem russischen Programm, sei aber gern bereit, über die Einzelheiten desselben in Diskussion einzutreten.
Der Minister protestierte auf das nachdrücklichste gegen die hie und da in der Presse aufgetauchten Insinuationen, daß Rußland die armenischen Unruhen zu Expansionszwecken benutzen wolle. Rußland habe den Kaukasus und brauche nichts weiter. Auf eine mit Tausenden von Unterschriften bedeckte, vor kurzem von türkischen Armeniern an den Zaren gerichtete Bittschrift, in welcher die Annexion der armenischen Wilajets erbeten wurde, sei die sehr bestimmte Antwort ergangen, daß eine solche Annexion den Zielen der russischen Politik durchaus fernliege.
Rußland habe aber das größte Interesse daran, daß an seiner Grenze keine Revolution ausbreche, die sich auch auf die Armenier in Rußland ausdehnen würde. Daher müsse Rußland auf Einführung energischer Reformen bestehen, denn im Falle ernstlicherer Unruhen würde Rußland, allerdings sehr gegen seinen Wunsch, aus Gründen der Selbsterhaltung gezwungen sein, einzuschreiten. Dieser Notwendigkeit möchte Herr Sassnow, wie er sagte, um jeden Preis vorbeugen.
Graf Pourtalès meldet unterm 3. d.M.: [Obiger Text]
1 A 13152.