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Wolfgang Gust: Die Armenier-Massaker in Adana und Umgebung 1909.
Darstellung anhand von deutschen und britischen Dokumenten

Einführung


In Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reichs, waren Mitte April 1909 nach Ansicht der Deutschen die Engländer die großen Verlierer. Denn der von den Briten protegierte Großwesir Kiamil Pascha war nach dem Einmarsch der jungtürkischen Truppen entmachtet worden, und Kiamils Mitarbeiter, „die Intimen der englischen Vertretung“, so der deutsche Botschafter Marschall, mußten fliehen. „They betted on the wrong horse“, freute sich der deutsche Kaiser Wilhelm II., immerhin Enkel der berühmten Königin Victoria, über die britische Niederlage, [1909-04-29-DE-003.] weil er die Engländer, seine Mutter eingeschlossen, einfach nicht mochte. „Halunken“, nannte er sie in seinen Anmerkungen zu einem Berichte aus Konstantinopel, sowie „Aufrührer und Schurken“. [1909-06-03-DE-001.]

In Adana, der Hauptstadt der wohlhabenden Provinz Kilikien galt dagegen ein Engländer als der große Held, besonders für die Deutschen. Es war der britische Vize-Konsul in Mersina, Charles Doughty Wylie, der mit seiner Frau nach Adana geeilt war. Beide „leisten Bewunderungswürdiges“, schrieb der deutsche Kommandant des Kreuzers „Hamburg“ nach Berlin, „ihm ist die Rettung der Europäer zu danken“ [1909-05-03-DE-001.]. Die Mitarbeiter der Deutsch-Levantinischen Bauwollgesellschaft, die eine große Fabrik in Adana unterhielten, schrieben begeistert: „Wir konnten nur bedauern, dass er nicht ein Deutscher war.“ [1909-05-12-DE-002.]

In Konstantinopel war Deutschlands Botschafter Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, kurz Marschall genannt, ein wichtiger Mann, einige hielten ihn sogar für den wichtigsten nach dem Sultan. Marschall interessierte sich, außer für Schach, hauptsächlich für zwei Dinge: die große Politik - bis zur Ernennung zum Botschafter im Oktober 1897 war er sieben Jahre lang Außenminister gewesen - und die Bagdadbahn. Im April 1909 entdeckte der badische Grande mit den zwei markanten Schmissen (Corps Suevia) eine neue Seite der Türken, für die er ohnehin viel übrig hatte und deren positives Bild in Deutschland er maßgeblich mitgeprägt hatte. Diesmal faszinierte ihn die große logistische Leistung und die geradezu preußische Disziplin, mit der die mazedonische Armee Konstantinopel eingenommen und die dort meuternden Soldaten - mitsamt dem Sultan - vertrieben hatte. Dazu beigetragen hatte in seinen Augen, daß viele der Offiziere von Deutschen oder gar in Deutschland ausgebildet worden waren.

Während Marschall vor allem erfreute, daß die in den Jahrzehnten zuvor heruntergekommene türkische Armee offensichtlich auf dem besten Weg war, an alte Herrlichkeiten anzuknüpfen, wobei ihm die politische Richtung der neuen Kräfte ziemlich gleichgültig war, stand ihm mit dem Militärbevollmächtigten von Strempel ein bedingungsloser Gefolgsmann zur Seite, dem es die Jungtürken angetan hatten und der fasziniert den Aufstieg eines jungen Offiziers verfolgte, der die deutsch-türkischen Beziehungen in den Folgejahren bestimmen würde: Ismail Enver. [1909-04-27-DE-006.]

Die türkische Provinz interessierte Marschall und die Deutschen generell vor allem dann, wenn sie die Bagdadbahn tangierte. Das war besonders in Kilikien der Fall, der reichsten Provinz im Osten. Den Wohlstand dort hatten in erster Linie die Christen erarbeitet, allen voran die Armenier, die dabei waren, die Region zu einem Baumwollzentrum auszubauen. Für die Deutsch-Levantinische Baumwollgesellschaft waren die Armenier wichtige Lieferanten und Mitarbeiter, desgleichen für die Bagdadbahn. Den marinebessenen deutschen Kaiser hingegen interessierten allenfalls die Häfen der Provinz - in der Folgezeit sollte er sich auf die kilikischen Häfen Mersina und Alexandrette, das heutige Iskenderun, konzentrieren, die er in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg als wichtigste deutsche Beute eines zerfallenen Imperiums ansah, zumal die Engländer den Anschein gaben, sich damit abzufinden, denn ihr Interesse galt den südlichen Provinzen im Osten - neben Ägypten hauptsächlich Palästina und Syrien. Wirtschaftliche Interessen verfolgten die Engländer im kilikischen Teil des Osmanischen Reiches weniger als die Deutschen - aber jetzt herrschte in der Provinzhauptstadt Adana zum Schrecken Berlins und des deutschen Botschafters Marschall praktisch ein Brite.

Konsul Doughty Wylie, von den Deutschen stets „Willie“ geschrieben, war nicht gekommen, um Fabriken zu retten, sondern die Ausländer und die einheimischen Christen, hauptsächlich Griechen und vor allem Armenier. Denn die waren 1909 einmal mehr das Ziel einer mörderischen Kampagne fanatischer Türken und ihrer muslimischen Hilfstruppen geworden. In drei Tagen, gab später selbst der Kadi Adanas zu, seien in der Provinz 31200 Christen ermordet worden. „In Wirklichkeit ist die Zahl der Opfer erheblich höher“, schrieb der Erste Botschaftsrat der deutschen Botschaft in Konstantinopel, Hans von Miquel, nach einer Reise vor Ort, „sie wird auf 40000 im Ganzen geschätzt. In der Notwehr haben die Armenier 600 Türken getötet.“ [Nachlass Hans Rudolf Erich von Miquel, Gruppe 1/1, Aufsatz Nr. 16.]

Sehr wahrscheinlich hatten der entmachtete Sultan und seine erzkonservative islamistische Kamarilla große Christenmassaker nicht nur in Kilikien geplant, worauf mehrere deutsche Berichterstatter [1909-04-26-DE-003], wie auch der Botschafter [1909-04-27-DE-001]. hinwiesen. Boten mit geheimen Mordbefehlen sollen sich vor allem zu den größeren Städten der östlichen Mittelmeerregion aufgemacht haben, wo selbst die durch die Kapitulationen besonders geschützten Ausländer gefährdet waren, so auch die deutschen Kolonisten in Palästina. Sogar in Konstantinopel, berichtete Marschall, hätten die kurdischen Hamals, die Lastenträger, bereitgestanden, Christen zu massakrieren, wie sie es im 19. Jahrhundert schon einmal getan hatten. Die jungtürkische Invasion hinderte sie daran, und viele Hamals wurden in der Hauptstadt gefesselt abgeführt. [1909-04-29-DE-007.]

Denn auf die Jungtürken setzten damals noch viele osmanische Christen ihre Hoffnungen. Oberstes Ziel der jungtürkischen Eroberung Konstantinopels war vorgeblich die Wiederherstellung der Verfassung, die den Christen volle Rechte und Gleichheit mit den Muslimen garantierte. An mehreren Orten, so in Mersina, waren es denn auch jungtürkische Funktionäre, die Europäer wie einheimische Christen schützten. Auch in Palästina fingen an einigen Orten jungtürkische Offiziere die unheilbringenden Boten ab und sperrten sie weg. Jaffa-Konsul Rößler meldete, daß in Beirut drei Emissäre verhaftet worden seien, die Muslime an mehreren Orten gegen die Jungtürken und die von ihnen vertretenen christlichen Ideen aufwiegeln sollten. [1909-04-26-DE-004.] Das Hauptproblem der Jungtürken war jedoch, daß ihre Bewegung zwar in Mazedonien sehr stark, in der kleinasiatischen Provinz jedoch nur spärlich organisiert war. So gab es dort eine Gemengelage aus erzkonservativen Befürwortern der alten Lebensart, in der die Muslime Jahrhunderte lang das Sagen hatten - die Alttürken -, aus muslimischen Fanatikern, die vor allem die Scharia wieder einführen wollten und aus noch schwachen Jungtürken. Die waren ihrerseits in zwei Lager gespalten: in ein liberales, auf das die Armenier und sonstigen Christen in erster Linie setzten und in ein nationalistisches, das eine starke Türkei aufbauen wollte, in der die Türken die absoluten Herren waren. „Osmanismus“ gegen „Türkismus“ waren damals die politischen Schlagworte.

In der Provinz Adana sollte es im April 1909 aber zu einer seltsamen Symbiose grundverschiedener Strömungen kommen, in der die Jungtürken eine bis heute schwer zu durchschauende Rolle spielten. Einmal mehr waren die Armenier die Leidtragenden, aber anders als Mitte der neunziger Jahre, als Zehntausende wenn nicht Hunderttausende von ihnen vor allem von kurdischen Hamidiye-Truppen und selbsernannten Milizen zermalmt wurden, fanden sich diesmal nicht nur vereinzelt Soldaten, sondern auch ganze Armeeeinheiten auf Seiten der Schlächter. Was in der zweiten Aprilhälfte in Adana und Umgebung geschah, war so etwas wie der Vorläufer des landesweiten Genozids sechs Jahre später, bei dem dann die Jungtürken eindeutig die Leitung inne hatten.

Was den ausländischen Beobachtern besonders auffiel, war eine zeitliche Abstimmung des Beginns der Massaker, was auf eine zentrale Leitung hindeutete oder zumindest darauf, daß Konstantinopel die Signale gab, nach denen militante Gruppen vor Ort dann die Jagd auf die Christen eröffneten. Die Organisatoren der Massaker, darin sind sich die deutschen wie die englischen Beobachter einig, waren sehr oft muslimische Geistliche, die an einigen Stellen sogar die Fahne des Propheten den Schlägertrupps vorantrugen. Erkenntlich waren die Armeniermörder an den weißen Turbanen, die sie statt des traditionellen Fez trugen. Als Hilfstruppen hatten die Mullahs und andere Anführer die ländliche Bevölkerung rekrutiert, aber auch Kurden und Tscherkessen, die mit Gewehren und Pistolen aller Art, sowie mit langen Messern und mit Nägeln beschlagenen Keulen und Hirtenstäben bewaffnet auf die Christen losgingen. [1909-05-12-DE-003.]

Besonders tödlich wurde die Gefahr jedoch durch Truppen, die sich den Marodeuren anschlossen und entweder von Hodschas [so z.B. 1909-06-19-DE-001, Anlage 7.]oder von fanatisierten Offizieren geführt wurden [1909.06.19-DE-001, Anlage 5.]. Religiöser Haß mag das Hauptmotiv gewesen sein, aber bei einigen Soldaten fanden sich auch - wie bei den Meuterern in Konstantinopel - komplette Geldrollen, mit denen sie bestochen worden waren. [1909-05-29-DE-001.] Über diese Geldmittel verfügte nur einer im Lande, so die Überlegungen Marschalls, und das war der Sultan selbst. [1909-05-05-DE-005.] In seinem Palast machten denn auch ortskundige Beobachter und jungtürkische Ermittler Personen aus, die als Anstifter oder Organisatoren der Massaker in Frage kamen. Einige von ihnen wurden geschnappt und auch hingerichtet, viele kamen jedoch ungeschoren davon.

Ob es sich in Adana 1909 um eine von Konstantinopel aus gesteuerte Massaker-Kampagne gehandelt hatte, wird wohl erst durch bislang verschlossene türkische Quellen geklärt werden können. Für Doughty-Wylie waren die örtlichen Zustände ausreichend, um die Massakerwelle zu erklären, obgleich auch er eine zentrale Lenkung nicht ausschließt. Seine Hauptthese war: selbst für gemäßigte Türken war die neue Verfassung von 1908 mit ihrer Gleichstellung von Christen und Muslimen eine solche Ungeheuerlichkeit, mit der sie, die sich als die natürlichen Herren seit Jahrhunderten ansahen, sich abzufinden nicht bereit waren. Die Tatsache, daß nunmehr auch Christen Waffen besitzen durften, nährte in ihnen sofort den Verdacht, daß die Christen und vor allem die verhaßten Armenier ihre neue Macht zu revolutionären Taten mißbrauchen und ihnen, den Muslimen, den Garaus machen würden. Besonders in Adana waren die Armenier und auch die Griechen die reichsten Kaufleute, sie wohnten in Vierteln aus schmucken steinernen Häusern, während die Masse der Muslime in bescheidenen Verhältnissen lebten. Weil die Christen die besten Schulen besaßen und damit den Muslimen generell intellektuell überlegen waren, wurden sie von den Europäern als Partner bevorzugt, zum Teil als deren Schutzbefohlene, womit sie die Vorrechte der Europäer, die sogenannten Kapitulationen, für sich beanspruchen konnten. So kam zum sozialen Neid noch der Verdacht, sie würden den Europäern dazu verhelfen, sich die marode und dem Zusammenbruch nahe Türkei aufzuteilen und damit die Herrschaftsverhältnisse umzukehren: Die Europäer samt ihrer armenischen und griechischen Vasallen würden fortan die Oberschicht bilden und die nach eigenem Glauben von Gott auserwählten Muslime die Unterdrückten sein.

Die Massaker selbst sind besonders in den größeren Ortschaften und Städten ausreichend von Ausländern beobachtet und beschrieben worden, auf dem flachen Land hingeben gab es kaum Tat-Zeugen. Wenn Armenier auf vereinzelten Bauernhöfen lebten, war ihr Schicksal schnell besiegelt. Die ausländischen Zeugen sahen dann nur noch völlig abgebrannte Farmen und die Leichen der Ermordeten, die halb verkohlt herumlagen oder in Flüsse geworfen wurden. Das galt auch für größere Gutshöfe, die oft Armeniern gehörten. Der Mob zerstörte dort alles, auch die Erntemaschinen, die später den überlebenden Christen absichtlich nicht ersetzt wurden, obgleich dadurch viele muslimische Arbeiter ihren Job verloren und ebenfalls verarmten.

In den größeren Städten der Region war - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Überlebenschance der Christen kaum besser als auf dem flachen Land, nur sind ihre Leiden besser dokumentiert. Frauen und Kinder wurden zwar manchmal verschont, berichteten die deutschen Ingenieure Reichard und Toll aus der Kleinstadt Bagtsche, „die Männer jedoch, davon waren wir Augenzeugen, wurden mit grausamster Gewissenhaftigkeit zu Tode gebracht.“ [1909-06-19-DE-001, Anlage 6.] Die Mörder „schlugen ihnen mit Steinen die Kniegelenke und Ellenbogen durch und dann langsam immer mit Steinen ein Gelenk nach dem andern und ließen sie liegen“, wie der deutsche Eisenbahningenieur Winkler sich erinnerte. Die armenische Kirche in Bagtsche, in der sich viele Frauen und Kinder aufhielten, versuchten die Marodeure anzustecken, aber die Steinmauern widerstanden. [Halbmond im letzten Viertel. Briefe und Reiseberichte aus der alten Türkei von Theodor und Marie Wiegand 1895 bis 1918. Hg. und erläutert von G. Wiegand, München 1970, S. 126 ff. Veröffentlicht in Jörg Berlin, Adrian Klenner, Völkermord oder Umsiedlung, Köln 2006, Dokument 34.]

Als 30 Soldaten zum Schutz der Deutschen in Bagtsche eintrafen, schickte sie ein Major aus Osmanié sofort weiter nach Hassan Beili, „jenes auf Verteidigung eingerichtete und von cirka 600 wohlbewaffneten Familien bewohnte Armenierdorf“, so die beiden Augenzeugen, das jedoch auch am Abend in Rauch aufging. Woanders sah es ähnlich aus. Der Major “hat sich später uns gegenüber gerühmt“, so die beiden Deutschen, „dass durch seine ‚Tatkraft’ in Osmanié kein Armenier mehr am Leben wäre.“ Die türkischen Banden, so ihr Bericht, „hatten Befehl, die Fremden zu schonen, gaben aber die tröstliche Versicherung, dass sie auch einen entgegengesetzten Befehl gewissenhaft befolgen würden.“ [1909-06-19-DE-001, Anlage 5.]

Nach Tagen wurden die Deutschen samt ihrer Familien durch von der Regierung abgestellte und gut bewaffnete Tscherkessen nach Adana eskortiert und sahen „die Grösse des über Südanatolien hereingebrochenen Schreckens. Ueberall auf und am Wege und in den Feldern lagen unzählige, schrecklich verstümmelte, verwesende Leichen und Brandruinen sowie an den Leichen fressende Aasgeier und Hunde zeigten die Spur der schrecklichen Würger. In den Flüssen Djihan und Seihun schwammen Dutzende von Leichen dem Meere zu, aber das Meer speit die schreckliche Beute wieder aus und Tage lang noch schwimmen am Strande bei Mersina die stummen Zeugen menschlicher Bestialität.“ [1909-06-19-DE-001, Anlage 6.]

Aus Antiochia, dem heutigen Antakya, berichtete der deutsche Konsul, daß bis auf zehn Männer und wenige Frauen und Kindern alle Armenier getötet worden seien. Der Kaimakam habe die Militärbehörden zur Hilfe aufgefordert, doch die hätten Reservisten mit Waffen und Munition versorgt, die anschließend in den Straßen die Mörder und Plünderer beschützten und nicht die Armenier. [1909-04-25-DE-001, Anlage 1.]Auch der armenische Bischof und die Geistlichen der Stadt gehörten zu den Opfern. In Alexandrette flüchteten die Christen in Kirchen und Konsulate, wenn sie es nicht mehr schafften, sich nach Zypern abzusetzen. Die Massaker in der Region um Alexandrette nannte der deutsche Vizekonsul Belfante grausamer und umfangreicher als die von 1895. [1909-04-25-DE-001.] Selbst im fernen Aleppo flohen die Christen in den Libanon, wo die Christen eine gewisse Autonomie besaßen und ein christlicher Gouverneur regierte.

Allerdings gab es immer wieder mutige Türken, die Fremde und auch Armenier manchmal todesmutig verteidigten, so den Major Lufti Bey, der in Missis dafür sorgte, daß den Armeniern nichts geschah. Nach seinem Abgang wurden hingegen alle Armenier ermordet. Den „bedeutend wichtigeren und grösseren Ort Hadschin,“, so der deutsche Konsul in Mersina, Christmann, konnte er hingegen retten, denn „in Hadschin hätten 5000 Menschen das Leben verlieren können“. [1909-06-19-DE-001, Anlage 4.]

Anders als zu Zeiten der großen Armenier-Massaker in den Jahren 1894 bis 1896, als die Armenier den von Sultan Abdul Hamid organisierten und ausgerüsteten kurdischen Hamidije-Regimentern kaum Widerstand leisten konnten, hatten sich inzwischen viele Armenier auf die drohenden Massaker vorbereitet. In den letzten Stunden vor Beginn der Massaker hatten in fast allen Orten zwar die normalen Magazine in den Bazars und außerhalb bereits geschlossen, in den Waffenläden jedoch herrschte bis zum Beginn der Pogrome Hochbetrieb, und beide Seiten deckten sich dort ein.

In einigen Städten wie beispielsweise Urfa hatten die Armenier ihr Viertel darüber hinaus so gut auf eine Verteidigung vorbereitet, daß die angriffsbereiten Muslime eine Attacke nicht wagten. [1909-05-24-DE-003, Anlage.] In anderen Orten besaßen die Armenier zwar auch viele Waffen, machten aber keinen oder wenig Gebrauch davon, so etwa in Marasch. Das führen einige Beobachter als Grund dafür an, daß es dort manchmal weit weniger armenische Opfer gab. Wo die Armenier allerdings ihre Waffen gegen das Versprechen der Schonung abgeliefert hatten, wurden sie umgehend ermordet. So im einst reichen Armenierdorf Charne nicht weit von Bagtsche entfernt. Bei dem Gemetzel geschahen „die empörendsten Greuel“, wie der deutsche Arzt Müllerleile berichtete. und „während keinem einzigen Muhammedaner ein Leid geschah“, so der deutsche Zeuge, „wurden zirka 200 Christen, darunter 2 Frauen abgeschlachtet.“ [1909-07-14-DE-001.]

Einen wirksamen Widerstand leisteten die etwa 10000 Armeniern des Ortes Dörtjol, zumal sie sich durch Tausende von Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern verstärkt hatten. Dieses Zentrum einer von Armeniern beherrschten ausgedehnten Orangen- und Zitronenkultur [1909-06-19-DE-001, Anlage 1.] wurde von etwa 7000 Kurden, Tscherkessen, Turkmenen und muslimischen Bauern der Region belagert, die sich in den umliegenden Bergen zum Sturm auf die reiche Kleinstadt gesammelt hatten. [1909-04-25-DE-001, Anlage 3.] Zu ihnen waren 420 Zuchthäusler gestoßen sowie die Garnison, die deren Gefängnis bewachen sollte, in Wahrheit aber die Insassen befreite. [1909-04-24-DE-002, Anlage.] Wobei die „Befreiung“ sehr selektiv verlief: Die inhaftierten Armenier wurden umgehend ermordet, die Griechen zum Kampf gegen die Christen aufgefordert, dem sich aber fast alle durch Flucht entzogen. Weitere türkische Truppen waren in Dörtjol hinzugekommen, um sich am geplanten Raubzug zu beteiligen. Sie hatten mindestens 400 Regierungsgewehre und ausreichend Munition aus den offiziellen Beständen in Alexandrette erhalten, was sie gegenüber dem Dragoman des deutschen Konsulats zugeben mussten. 1909- Obgleich die Belagerer den Verteidigern das Wasser abgruben, indem sie den Fluß stauten, hielten sich die armenischen Verteidiger, indem sie ihren Durst mit Orangensaft stillten. Der Kapitän des englischen Kriegschiffes „Triumph“ hatte einen Waffenstillstand ausgehandelt, nach dem die Belagerer den Wasserweg öffneten und die Armenier dafür muslimische Gefangene herausgaben. Doch nach der Freilassung ihrer Leute sperrten die Belagerer den Fluß erneut. Erst gegen Ende des Monats, als die Kämpfe auch an anderen Orten beendet waren, erreichten die britischen Unterhändler eine Übereinkunft und das Ende der Belagerung. [Fo 1909/23955, report 138, incosure 2.]

Den Höhepunkt erreichten die Massaker in der Provinzhauptstadt Adana, in der immerhin fast 40 Prozent der Einwohner Christen waren, zumeist Armenier. Auch hier waren es muslimische Geistliche, die von den Minaretts nicht nur zum Sturm auf die Armenier aufriefen, sondern auch mit gezielten Schüssen die Armenier erledigten. Die Abläufe der Massaker konnte keiner besser beschreiben, als Doughty Wylie, denn er war stets im Zentrum des Geschehens, ritt immer wieder die Straßen ab und verhandelte fast rund um die Uhr, bis ihn ein Armschuß durch einen Armenier verwundete, so daß er künftig physisch nur noch wenig präsent sein konnte. Aber der britische Ex-Major blieb für alle Probleme die erste Anlaufstelle.

Den gut bewaffneten Armeniern gelang es anfangs dank ihrer soliden Steinhäuser noch recht gut, sich zu verteidigen und den Angreifern sogar empfindliche Verluste beizubringen. Nach drei Tagen Kampf einigten sich armenische und muslimische Notabeln auf eine Art Waffenstillstand, und relative Ruhe kehrte wieder in der Stadt ein. Dazu trug auch bei, daß sich jungtürkische Truppen aus Adrianopel in Mersina ausgeschifft und sofort auf den Weg nach Adana gemacht hatten. Armenische Spitzenpolitiker hatten in den kritischen Tagen der reaktionären Gegenbewegung in Konstantinopel zum Teil ihre jungtürkischen Kollegen bei sich aufgenommen, so den späteren Innenminister Talaat, um sie dem Zugriff der Sultansanhänger zu entziehen.

„Viele Armenier, die sich bisher versteckt gehalten hatten, zeigten sich wieder in den Strassen“, schrieb der deutsche Referendar des Generalkonsulats Beirut, Hammann, „da sie sich des Schutzes der gut beleumundeten mazedonischen Soldaten erfreuen zu dürfen glaubten.“ Hammann war Dragomatats-Aspirant und damit der Landessprachen mächtig. Er war Anfang Mai nach Adana gekommen, um die Ereignisse der zurückliegenden Wochen nachzurecherchieren. „In wenigen Stunden jedoch“, so sein Fazit, „war die Stimmung der neueingetroffenen Truppen durch die Phrase von der durch die Armenier bedrohten Freiheit und Verfassung gegen diese erregt“. Die Jungtürken, so Hammann, waren „seit Erlass der Verfassung an bestrebt, der Armee, ihrer Hauptstütze, die Idee der Freiheit und der Verfassung und zugleich die unerlässliche Notwendigkeit einzuprägen, dass jeder, der diese nationalen Errungenschaften bedrohe, als Vaterlandsverräter den Tod verdiene.“ [1909-05-29-DE-001.] Also genau das, was die reaktionären Muslime den Armenier unterstellten.

So war es in Adana ganz anders gekommen als von den Armeniern erwartet. Die aus Mersina per Zug nach Adana gereisten jungtürkischen Soldaten beschützten sie nicht, sondern liefen zu ihren erbittertsten Gegner über. Bei dieser zweiten Massakerwelle zwischen dem 25. und 28. April wurden fast alle Armenier Adanas ermordet oder vertrieben. Das einst stolze und nach dreitätigen Angriffen der Reaktionäre noch vergleichsweise intakte Armenierviertel war nach dem Jungtürkensturm nur noch ein Trümmerfeld.

„Die Niedermetzelung der Leute geschah auf grausamste Weise“, berichteten die deutschen Ingenieure und Augenzeugen Culemeyer und Stutz aus Adana, „selbst Greise und schwer Verwundete wurden noch vollends totgeschlagen und zum Teil schrecklich verstümmelt“ [1909-06-19-DE-001, Anlage 7.].Verletzte Armenier gab es deshalb nur wenige, erklärte auch der deutsche Schiffskommandant Hildebrand nach seinem Besuch in Adana, weil “die Verwundeten in der grausamsten Weise zu Tode gemartert worden sind. Türkische Kinder und halbwüchsige Burschen sollen sich besonders in dieser Hinsicht hervorgetan haben.“ [1909-05-03-DE-003, Anlage 2.] Armenische Kinder waren oft ihre Opfer. „Die durch Säbelhiebe entstandenen Verletzungen zeichneten sich durch breitklaffende Wundränder und großem Verlust an Haut aus“, berichtete der deutsche Schiffsarzt Bockelberg, der die schwerverwundeten Armenier versorgte, „auffallend groß war die Zahl kleiner Kinder mit solchen Verletzungen.“ [1909-05-27-DE-001, Anlage II. ]

Diese Brutalitäten kann praktisch keiner der Beobachter begründen. Planten vielleicht die Armenier einen Angriff auf die Türken? Waren sie diejenigen, von denen die größte Gewalt ausging, die einzige gar, wie heute noch von der offiziellen Türkei behauptet wird? Keiner der europäischen Beobachter hat je diese These auch nur ansatzweise untermauert, obgleich sie ernsthaft nach Gründen für den Gewaltausbruch auch auf armenischer Seite suchten - und doch nur Banalitäten fanden.

Doughty Wylie bemerkt in seinen Berichten, daß sich die Armenier manchmal schon als die neuen Herren gebärdeten. „Und in ihren Klubs”, schrieb der britische Konsul, “redeten sich die armenischen Redner, trunken von ihren eigenen Worten, einfach nur schwindelig. Sie schienen nie an die möglichen Folgen ihres Redeschwalls gedacht zu haben. Als Einheimische hätte sie seine Gefahren kennen sollen, aber über das Wort ‚Freiheit’ vergaßen sie alles.“ Die konservativen Muslime hingegen empfanden das Wort „Freiheit“ als Provokation. „Es wird immer wieder berichtet“, schreibt Douhty Wylie, „daß viele Christen mit den Worten getötet wurden: 'Das habt ihr für Eure Freiheit!’“

Schlimmer noch war, daß die Armenier offen davon sprachen, Rache nehmen zu wollen für die Massaker Mitte der neunziger Jahre. „Was soll über einen Prediger, einen russischen Armenier, gesagt werden, der (freilich nicht in der Provinz [Adana]) in der Kirche eines Ortes, wo nie ein Massaker stattgefunden hatte, Rache für die Märtyrer von 1895 verlangte. Verfassung hin oder her, für ihn war das völlig belanglos. Er sprach nur von ‚Rache’“. „Mord für Mord“, predigte er, „kauft Waffen. Ein Türke für jeden Armenier von 1895.“ [Fo 1909; No. 30752, Sir G. Lowther to Sir Edward Grey, No 48; Inclosure Vice-Consul Soughty Wyli to Sir G Lowhter from July 24, 1909.]

Als Racheengel hätten die Armenier ihre Fedais herausgestellt, ihre bis an die Zähne bewaffneten und zu allem bereite Kämpfer. In den Vorstellungen vieler Türken seien sie dadurch zu einer unheimlichen und bedrohlichen Militärmacht geworden, die zu Tausenden über die Muslime herfallen und sie töten würde, wobei es für den britischen Konsul völlig klar war, daß die Armenier an keiner Stelle irgend eine Revolution planten und die Fedais reine Geisterarmee waren. Doch diese Geisterarmee abzuwehren wurde zu einer Obsession der muslimischen Verantwortlichen, bei denen Doughty Wylie fast krankhafte Züge entdeckte. Die Ortsbehörden waren für den Briten durch die grassierende und schon legendäre Bestechlichkeit dermaßen zerrüttet, daß sie nicht mehr in der Lage waren, ihr Gemeindewesen nach einigermaßen zivilen Grundsätzen zu regieren. Als ihre Angst vor der armenischen Fedais-Armee dann auch noch dazu führte, dass türkische Funktionäre und selbst Generäle sich nicht mehr aus ihren Festungen heraustrauten, sei das für die fanatisierten Muslime ein Zeichen gewesen, daß die Angriffe der Armenier direkt bevorstanden und sie quasi in Selbstverteidigung nun ihrerseits gegen die Armenier vorgehen müßten, um sie zu „bestrafen“ - ein Terminus, den der britische Vizekonsul selbst bei sachlichen türkischen Offizieren immer und immer wieder hörte. Das Szenario ließ sich für Doughty Wylie so zusammenfassen: Die Armenier „rächten“ sich an den Türken mit imaginären Fedais, die Muslime „bestraften“ die Armenier für imaginäre Aufstände.

Auch deutsche Beobachter berichten, daß die Armenier selbst zur kritischen Lage in Kilikien beigetragen hätten. „Daß die Armenier einen Plan des Wiederaufbaus ihres alten Reiches anstrebten, erscheint wahrscheinlich“, schrieb der deutsche Ingenieur Stoeffler, der die Ereignisse in Adana selbst erlebt hatte. „Jedenfalls cirkulieren seit einiger Zeit im Publikum Karten, in denen ein armenisches Reich eingezeichnet war, mit Adana als Hauptstadt und Mersina als Ausgangshafen.“ [1909-05-15-DE-002, Anlage.] Diesen Punkt erwähnte auch Hammann: „Grade in den letzten Monaten nämlich, als Bulgarien sich zum Königtum machte, wurden auch in dem armenischen Volke die alten nationalistischen Bestrebungen, die auf die Errichtung eines armenischen Königreiches in Kleinasien hinzielen, mit besonderem Nachdruck gepflegt. In vaterländischen Dramen wurde die ersehnte Befreiung von der Türkenherrschaft durch die Köpfung türkischer Provinzialbeamter dargestellt. Die Schöpfung eines Königreiches fand in einer anderen Szene sinnbildlichen Ausdruck. Die Bühne zeigte zwei Gräber, denen unter Wehklagen ein Jüngling und eine Jungfrau entstieg. Dann erschien vom Himmel ein Engel, der das mit der Dornenkrone geschmückte Paar segnete und zur Herrschaft salbte. Derartige Darstellungen verletzten natürlich den Stolz des einheimischen Türken, andererseits offenbarten sie in unvorsichtigster Weise den Jungtürken die Gefahr, die Kleinasien, den Hort des Reiches, bedrohte. So kam es, dass der strenggläubige reaktionäre Muhammedaner mit dem freigeistigen zusammen gegen den ungläubigen, antikonstitutionellen Armenier kämpfte.“ [1909-05-29-DE-001, Anlage 1.]

Diese Argumentationskette griff Deutschlands Botschafter Marschall sofort auf, um seinem persönlichen Armenierhaß zu frönen. „Die Armenier“, erinnerte sich sein Stellvertreter Miquel an einen Ausbruch Marschall, „hätten durch Theateraufführungen, bei denen armenische Könige aus dem 13. Jahrhundert erschienen, die Türken gereizt.“ Da schien ihm aber doch, hielt Miquel dagegen, „zwischen Vergehen und Strafe ein allzu großer Abstand zu liegen.“ [Nachlaß Hans von Miquel, Artikel 21.]

Marschall wollte sich sein Bild von der ziemlich unerwartet mit preußischen Tugenden sich erneuernden Türkei nicht verderben lassen. Auch dann nicht, wenn dies durch jungtürkische Truppen geschah, deren in Frankreich aufgesogene Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihm eigentlich völlig gegen den Strich gingen, wie auch den meisten Deutschen in der Heimat, allen voran dem Kaiser, der jeden Hinweis auf Demokratie oder Parlamentarismus in den Berichten seiner Diplomaten mit Spott überzog.

Dem Glamour der jungtürkischen Truppen in Konstantinopel standen aber Berichte deutscher Zeugen in Adana gegenüber, in denen diese schwer beschuldigt wurden. Die Leiter der Deutsch-Levantinischen Baumwollgesellschaft, Stoeckel und Lutz, hatten genau beschrieben, was nach dem Eintreffen der jungtürkischen Truppen in Adana passiert war. „Sonntag nachmittag hob leider das Würgen, Morden, Rauben und Brennen wieder an und diesmal in viel schrecklicherem Massstabe als vorher. Der größte Teil der Stadt bildete ein Flammenmeer.“ [1909-05-12-DE-002, Anlage 6.] Dieser Sonntag aber war der 25. April 1909, jener Tag, an dem die mazedonischen Truppen in Adana angekommen waren. „Erst Dienstag früh“, also am 27. April, gelang es Stöckel zusammen mit dem Dragoman des deutschen Konsulats für kurze Zeit in die Fabrikräume einzudringen. „Wir fanden alles ringsum als rauchenden Trümmerhaufen, das Gebäude, in dem sich das Bureau befindet, jedoch wie durch ein Wunder vom Feuer verschont. Es bestürzte uns von Anfang an, dass die Eingangtür weit offen stand und beim Eindringen befanden wir uns Soldaten und Baschi Bosuks d.h. regulären und irregulären Soldaten gegenüber. Eng Mann an Mann waren sie bei der letzten Arbeit. Unser Erscheinen verscheuchte sie im Nu. Unsere Kasse war an der Rückwand sorgfältigst aufgeschnitten und alles Wertvolle daraus verschwunden.“[ 1909-05-12-DE-002, Anlage 6.] „Ein Angestellter der deutschen Firma Fankhaenel & Schifner überraschte einen Offizier dabei, wie er in dem ausgeplünderten Büreau dieser Firma in Adana den Geldschrank aufbrechen liess“, meldete auch Konsul Schroeder aus Beirut, wobei es sich möglicherweise um den gleichen Vorgang handelte. [1909-05-29-DE-001.]

Die bekannt mörderischen Irregulären (Baschibazuks) mit den vorgeblich sauberen Jungtürken „Mann an Mann“ beim Plündern in einer in Flammen stehenden Stadt, die zu retten die mazedonischen Truppen angeblich gekommen waren, das irritierte Botschafter Marschall so heftig, daß er über seinen Schatten sprang und seinen verachteten britischen Kollegen Sir Gerard Lowther um Berichte von Doughty Wylie bat, weil - so sein Argument - Deutschland in Mersina keinen Berufskonsul habe. Der britische Botschafter gewährte ihm und später dem deutschen Militärattaché von Strempel Einblick in nahezu alle Berichte seines Vize-Konsul und der Jungtürken-Bewunderer Strempel notierte hocherfreut, daß der stets im Brennpunkt stehende britische Ohren- und Augenzeuge Doughty Wylie über die mazedonischen Truppen in der Tat nur Lobendes berichtet hatte.

Zwar mußte auch der Brite die Räubereien eines Jungtürken „Mann an Mann“ mit den Mordbuben der Irregulären einräumen, aber, so berichtete von Strempel seinem Chef, „diese sehr tadelnswerte Episode steht in den Berichten des englischen Konsuls allein da, während er sonst die rumelischen Truppen anerkennend erwähnt bezw. gegen Verleumdungen in Schutz nimmt.“ [1909-06-04-DE-002.] Mit Freude notierte Strempel aus einem Bericht vom 2. Mai: „Die Erzählungen, dass Truppen des II. Korps in Adana massakriert hätten, wollen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dementieren. „This we will deny by every means in our power”. Und am 9. Mai hieß es: “Eine wirkliche Garantie für Erhaltung des Friedens zwischen Türken und Armeniern sehe ich in den rumelischen Truppen“. Und am folgenden Tag notierte der britische Kronzeuge: „Der englische Admiral dankte dem militärischen Befehlshaber Oberst Mechmed Ali bey wegen der guten Ordnung und Disziplin seiner Truppen.“ [1909-06-04-DE-002.]

Konnte der Verdacht aufkommen, Jungtürken-Bewunderer von Strempel habe kritische Passagen bewußt überlesen und sich einseitig Notizen gemacht, so ergibt die Lektüre aller Berichte Doughty Wylies, dass der tatsächlich die Jungtürken in keiner Weise belastete und von Strempel seinem Chef korrekt berichtet hatte. Allerdings konnte auch der britische Vizekonsul in keiner Weise erklären, warum die schlimmsten Massaker in Adana unter den Augen der Jungtürken passierten, wenn sie denn nicht von ihnen selbst verursacht worden sind. Und in einigen Passagen gibt er indirekt die Schuld der Jungtürken zu.

“Für das zweite Massaker, das ich niemals verstanden habe, ist mir heute eine neue Erklärung gegeben worden“, schrieb er am 9. Mai und Strempel notierte es hoch erfreut. „Der Vorfall ereignete sich in der Nacht nach der Ankunft der rumelischen Truppen, die beschuldigte wurden, es angerichtet zu haben, was ich nie glauben wollte. Die nun gegebene Erklärung ist für mich von einigem Interesse. Die Rumelier machten nur Bekanntschaft mit diesem Stadtteil zwischen dem Bahnhof und ihrem Campingplatz. Von dem armenischen Viertel wußten sie gar nichts. Die Erklärung besagt, daß beim Aufbau ihrer Zelte Schüsse aus der Richtung des armenischen Viertels fielen. Ihnen wurde gesagt, daß die Schüsse von armenischen Revolutionären abgefeuert wurden. Daraufhin schickten sie sofort Streifen in die Straßen, aber es herrschte überall Verwirrung und Feuer brach aus. Sie trafen auf einige der anderen Soldaten, die dabei waren zu töten und zu plündern und der Platz war voll von Baschi-Bazouks.” [FO, Inclosure 3 in No.103: The Vice-Consul Doughty-Wylie to Sir G, Lowther.]

Auch kamen Doughty Wylie Zweifel an der Jungtürken-Version und er fügte hinzu: „Diese auf sie abgegebenen Schüsse, mit denen die ganze Affäre begann, so wird jetzt von den Rumeliern gesagt, könnten auch von Türken abgegeben worden sein, die sich entweder wünschten, es zu einem Streit zwischen den verschiedenen Soldatengruppen kommen zu lassen oder zu einem Sturm auf das verhaßte armenische Viertel. Ich glaube, daß bei den rumelischen Offizieren ein ungutes Gefühl wegen dieses unglücklichen Auftretens geblieben ist, hat auch etwas mit ihrem Eifer zu tun, die Existenz eines armenischen Komplotts zu beweise. Ich gebe diese Erklärung, was auch immer sie wert sein wird.“

Daß die Version, türkische Irreguläre, die Baschibozuks, hätten auf die türkischen Regulären, die mazedonischen Truppen, geschossen, um sie gegen die Armenier aufzubringen, ist keineswegs nur eine Hypothese, denn genau das passierte in Dörtjol. Allerdings geschah es dort in der Endphase der Belagerung, als genügend britische Zeugen vor Ort waren und die Kämpfe eingestellt wurden. Einer der irregulären Schützen wurde deshalb demonstrativ von den Jungtürken in Dörtjol gehenkt. [So in Dörtjol, s. Dok. 1909-06-14-DE-001 und 1909-06-10-DE-002.]

Referendar Hammann hatte in Adana aber auch mit den jungtürkischen Soldaten und Offizieren gesprochen und sich danach seinen Reim gemacht. „Es zeigte sich, wie sehr der türkische Soldat über die Beschäftigung mit politischen Fragen seinen eigentlichen Beruf und den Begriff der Disziplin vergessen hat“, kombinierte er. „Die gefährliche Lehre der Jungtürken, die der Armee jede Insubordination und Gewalttat erlaubt, sobald es sich um die Sache der Verfassung handelt, liess die irregeleiteten Truppen ihre Mission, Ruhe und Ordnung zu stiften, gänzlich vergessen; sie erzeugte vielmehr in ihnen eine enthousiastische Erbitterung gegen die landesverräterischen Armenier. Soldaten, denen ich in Adana ihr Verhalten bei den Gemetzeln vorwarf, rühmten sich offen ihrer Mordtaten. Sie alle glauben für die Sache der Freiheit gehandelt zu haben.“ [1909-05-29-DE-001, Anlage 1.]

Daß die jungtürkischen Truppen sich von den Parolen reaktionärer einheimischer Muslime haben umstimmen lassen, ist eher unwahrscheinlich. Dazu war ihr Vorgehen in Konstantinopel in den Wochen zuvor zu diszipliniert und koordiniert. Wahrscheinlicher ist da schon die Vermutung Christmanns, die Anführer der Adana-Massaker seien Mitglieder der jungtürkischen Klubs vor Ort gewesen. Christmann nennt sogar ihre Namen und ihre Funktionen. [1909-06-19-DE-001, Anlage 3.] Und auch Doughty Wylie stimmt mit ihm darin überein, daß lokale Größen hinter den beiden Massakerwellen standen.

Wie weit die Armenier davon entfernt waren, als kampfbereite Fedais aufzutreten und die Türken militärisch anzugreifen, zeigt die von den Europäern mit Erstaunen beobachtete Tatsache, daß die Armenier den Schutz ihrer soliden Viertel in Adana keineswegs kollektiv organisiert hatten, sondern ihre Häuser individuell und damit weit weniger wirksam verteidigten. Und noch mehr verwunderte die europäischen Zeugen, daß selbst bewaffnete Armenier sich in den Straßen ohne Gegenwehr abschlachten ließen, ohne von ihren griffbereiten Revolvern Gebrauch zu machen. [1909-05-15-DE-002.] Die osmanischen Armenier waren eben keine geübten Krieger, was ihnen bei den Deutschen besonders im Genozid Jahre später oft den Vorwurf unsoldatischen Verhaltens oder gar der Feigheit einbrachte.

Das ganze Gegenteil war Ex-Major Doughty Wylie, der trotz aller Schießerei furchtlos durch die Straßen Adanas ritt, um so viele Armenier wie möglich zu retten. Der deutsche Kommandant des Kreuzers Hamburg schlug seinem Kaiser den Briten für die Verleihung eines preußischen Ordens vor - was völlig ungewöhnlich war - und auch die Türken ehrten ihn auf ihre Weise. Nachdem Doughty Wylie aus altem Respekt für das Land seiner diplomatischen Mission ohne Waffe in der Hand bei der Dardanellenschlacht 1915 einen englischen Trupp anführte und bei der Attacke fiel, ehrten sie ihn mit einer noch heute zu besichtigenden Grabstelle auf Gallipoli - der einzigen eines alliierten Gefallenen auf der umkämpften Halbinsel.

Die Reaktion der europäischen Großmächte auf die ersten Meldungen aus Kilikien waren klassisch: Sie schickten ihre Schiffe, um Flagge zu zeigen und den Europäern Schutz zu gewähren. Der Kaiser, der sich mit Jacht und Gefolge gerade im griechischen Corfu aufhielt, beorderte erst die mickerige „Loreley“ - eine umgebaute englische Privatjacht aus dem Jahr 1884, die in Konstantinopel als Stationär diente und gerade 55 Mann Besatzung hatte - nach Mersina. Erst als die anderen Seemächte Kreuzer und Panzerschiffe in den Südosten schickten, zogen die Deutschen mit dem Kleinen Kreuzer „Hamburg“ und 300 Mann Besatzung nach, der dem Kaiser als Begleitschiff seiner „Hohenzollern-Jacht“ diente und sich deshalb bereits im Mittelmeer befand. Später folgte das Schwesterschiff „Lübeck“. An Schutz für die in höchster Not befindlichen Armenier dachte die deutsche politische Spitze nicht. „Die Armenier gehen uns nichts an“, hatte der Kaiser an eine Depesche seines Konstantinopler Botschafter geschrieben, der fälschlich behauptet hatte, die Christen seien in der Türkei „ganz sicher, abgesehen von den Armeniern“. [1909-04-19-DE-001.]

Immerhin war es dem Kommandanten der Hamburg zu verdanken, daß die in Adana sich auf die Fabrikanlage der Deutsch-Levantinischen Bauwollgesellschaft geflüchteten Armenier notdürftig versorgt werden konnten und ein Lazarett für die Schwerverwundeten eingerichtet wurde, das der Schiffsarzt der „Hamburg“ etwa zehn Tage lang leitete. Durch die Berichte der deutschen Kapitäne erfuhr die oberste Marinebehörde in Berlin anfangs mehr von der furchtbaren Lage der Armenier als das zuständige Außenamt, denn Botschafter Marschall von Bieberstein zeigte für die Armenier kein Interesse.

Der Kommandant der „Hamburg“ war es, der als erster von „unmenschlichen Greueln“ an den Armeniern berichtete und (jungtürkische) Offiziere zitierte, die sagten, „kein Armenier soll leben bleiben“. Er warnte davor, daß die jungtürkischen Truppen auch die auf deutsches Gelände geflüchteten etwa 5000 Armenier angreifen könnten. [1909-04-28-DE-001.] Selbst der Kaiser drängte nunmehr seinen Botschafter in Konstantinopel zu Interventionen. [1909-04-28-DE-002.]

Wie sehr sich die Nachrichtenlage - und die Einschätzung der deutschen Zeugen je nach Kontaktpersonen - fast stündlich änderte, zeigen die Telegramme von Ende April. „Ganze Bewegung gegen Armenier“, schrieb der Kommandant der „Hamburg“ am 20. April, „Veranlassung hierzu Armenier hier gegeben, Grund für Blutvergießen 25. April: Armenier Quartier zur Verteidigung eingerichtet; zur Übergabe aufgefordert haben angegriffen und fünf türkische Soldaten getötet. Darauf haben die Truppen das Quartier in Brand gesteckt und Armenier getötet.“ Nicht einmal einen Tag später kabelte der gleiche Kommandant: „Von Adana zurückgekehrt. Beglaubigte Feststellung: Reguläre Truppen haben gemordet, geplündert, deutsches Bureau beraubt, mit ihm Flüchtlinge. Vertrauen Armenier gegen türkische Truppen ganz verloren. Ich bitte Tatsachen schildern.“

Zu einem wirksamen Schutz der Armenier war das Reich nicht bereit. Die Marine-Führung in Berlin genehmigte zwar kurzzeitig das Verbleiben des Schiffsarztes der „Hamburg“ in Adana zur Versorgung der armenischen Verwundeten [1909-05-03-DE-001.], lehnte es aber ab, selbst die geringen Kosten der Versorgung der Armenier zu erstatten, die aus der Schiffskasse bestritten werden mußten. „Zweitausend Armenier, die während der Gemetzel vom 25 - 29. April in den Fabrikhof der Deutsch-Levantinischen Baumwollgesellschaft sich geflüchtet hatten“, berichtete Hammann, „haben sich dort fast ausschliesslich von Gras genährt. Typhus und Dyssenterie dezimieren denn auch den Rest der Überlebenden. Auch an Verbandzeug und chirurgischen Instrumenten fehlt es sehr, da die türkischen Apotheken in Adana sich unter nichtigen Gründen weigern, diese Hilfsmittel für die Armenier abzugeben.“ [1909-05-29-DE-001, Anlage 1.] Die Platznot an einigen Flüchtlingslagern war so groß, berichteten die Briten, daß tagsüber die armenischen Frauen und nachts die Männer stehen mußten, damit Kinder und Verletzte liegen und die erschöpfte Wachschicht ein wenig schlafen konnte.

Die von der „Hamburg“ kurzfristig versorgten armenischen Flüchtlinge in deutschem Gewahrsam [1909-05-21-DE-001.] wurden schließlich den türkischen Behörden übergeben, obgleich der Kommandant der Hamburg gewarnt hatte, sie würden verhungern, wenn sie auf die Hilfe der Türken warten müßten. Bitter ergänzte er: „Da in Deutschland noch nichts geschehen ist, um zur Linderung des Elends beizutragen, liegt nahezu die ganze Fürsorge für die große Zahl der Obdachlosen in der Hand des englischen Konsuls von Adana, der im Vertrauen auf die Mildtätigkeit des englischen und amerikanischen Volkes und aus eigenen Mitteln alles Nötige beschafft.“ [1909-05-18-DE-001, Anlage.]

Diplomatisch waren die Deutschen in Kilikien nicht so prominent vertreten wie andere Nationen. „Loreley“-Kommandant Hildebrand bemängelte, daß in der Hafenstadt Mersina, wo sich die fremden Konsuln niedergelassen hatten, „unsere Interessen nicht durch einen Berufskonsul tatkräftig vertreten werden. Ein Wahlkonsul wird, selbst bei bestem Wollen, kaum ein Gegenmoment gegen die englischen Einflüsse hervorrufen können.“ [1909-05-03-DE-003, Anlage 1.] Den Kapitän der „Hamburg“ störte etwas ganz anderes. „Der kaufmännische Vizekonsul in Alexandrette, Th. Belfante, ist von Geburt Italiener, deutsches Wesen ist ihm fremd“, bemängelte er. „Der Konsularagent in Antiochia ist Armenier. Während der Metzeleien hat man ihn, wohl in seiner Eigenschaft als deutscher Schützling, geschont. Sein ältester Sohn fiel dem Massacre zum Opfer. Es mutet etwas eigentümlich an, daß das deutsche Reich an diesem Handelsplatz durch einen Armenier vertreten wird, der sich, wie mir der Generalkonsul in Beirut erzählte, nicht des besten Rufes erfreuen soll.“ [1909-05-27-DE-001, Anlage 1]

Diese Kritik lag ganz auf der Linie des Botschafters Marschall von Bieberstein. Der hatte seinen für Adana zuständigen Konsul in Mersina, Christmann, schlicht verleumdet und auch gleich klar gemacht, warum das kaiserliche Deutschland schon 1909 eine so klägliche Rolle beim Armenier-Genozid spielte. „Ich muss zu meinem Bedauern erklären“, schrieb er an Kanzler Fürst von Bülow, „dass ich die Christmann’schen Berichte, soweit sich dieselben auf die Vorgänge in Adana beziehen, für vollkommen wertlos erachte“ - „vollkommen wertlos“ von ihm extra unterstrichen. Christmanns Berichte gründeten angeblich, so Marschall, „nicht auf eigenen Wahrnehmungen, sondern auf Hörensagen. Nun weiss Jedermann, dass in erregten Zeiten überall der Klatsch und Tratsch üppig zu wuchern pflegt.“ Dann folgt ein Satz, der deutlich macht, warum die Armenier von Marschall und damit vom Kaiserlichen Deutschland nichts zu erwarten hatten. „Hält man damit zusammen“, so Marschall weiter, „dass die Armenier zu den verlogensten Nationalitäten gehören, die es überhaupt giebt, so mag man sich ein Bild von allen den Lügen machen, mit denen sie harmlose Gemüter täuschen, um ihre eigene Schuld zu bemänteln. [1909-05-31-DE-001.] Christmann, so sein Fazit, sei unhaltbar, und der Kaiser merkte an, „dann ist er auch nicht der geeignete Mann als mein konsul. Vertreter dort!“. [1909-06-04-DE-002.] In Wahrheit waren die Berichte des deutschen Wahlkonsuls von großer Präzision.

Denn wer sich leichtfertig belügen ließ und wessen Wahrnehmung auf Hörensagen beruhte, verriet Marschalls Stellvertreter Hans von Miquel. „Als die furchtbaren Gemetzel von Adana bekannt wurden und es hiess, 40000 Armenier seien von den Türken und Kurden niedergemacht worden“, schrieb er in einem Bericht, der noch in seinem Nachlaß ruht, „suchte Baron Marschall sofort nach Gründen die Türken zu entschuldigen. Schliesslich ging der Botschafter zum Minister des Innern, Ferid Pascha und kam triumphierend damit zurück, Ferid Pascha habe gesagt es sei gar nicht möglich, dass 40000 Armenier getötet seien, weil es gar keine 40000 Armenier in und bei Adana gäbe. So war also dieser unerhörte Skandal, der in unserm Jahrhundert einzig dasteht, für den Baron Marschall aus der Welt geschafft.“ [Nachlass Miquel, Gruppe 1/1, Aufsatz Nr. 21.]

Konsul Christmann aus Mersina wies Ort für Ort nach [1909-06-19-DE-001, Anlage 2.], wie hoch die Zahl der armenischen Opfer war und unterrichtete seine Chefs in Konstantinopel über die Hintergründe des Aufstand und die Verschleierungsversuche der Türken danach. Zum Glück für die Wahrheit trat Marschall bald einen längeren Urlaub an, und Miquel schickte die Christmann-Berichte unkommentiert weiter nach Berlin. Zusammen mit den Berichten des Generalkonsuls in Aleppo, Tischendorf, bilden sie wichtige Quellen für die Vorgänge in Adana und der Südosttürkei 1909. Beide Konsuln waren schon ältere Herren und mußten bald jüngeren Kollegen weichen - Konia-Konsul Büge ging nach Adana, Jaffa-Vizekonsul Rößler nach Aleppo -, was der Wahrheit des nächsten Völkermords 1915/16 sehr dienlich war, denn beide Nachfolger gehörten zu den schärfsten Beobachtern und genauesten Berichterstattern des finalen Genozids.

Und der neue Mann in Adana sollte nach einigen Jahren Recherchen in seinem Arbeitsgebiet das Urteil Christmanns bestätigen. In einem Bericht schrieb Büge Mitte 1915, daß „die bekannten Massaker von 1909 auf Befehl der Regierung - unter Heranziehung des aktiven Militärs - ausgeführt worden“ seien. Zwar schränkte der für den ersten Weltkrieg zum Armenien-Spezialisten der Botschaft in Konstantinopel ernannte Generalkonsul Johannes Mordtmann ein, „hierfür hat sich indessen ein schlüssiger Beweis bisher nicht erbringen lassen“, fragte seinen Konsul aber nicht weiter nach seinen Quellen. [BoKon 96, Konsulat Adana an Botschaft Konstantinopel, J.No. 713 vom 17. August 1915, Botschaftsregistratur 6814/1012]

Dem als undeutsch abqualifizierten Vizekonsul Belfante in Alexandrette, genauer seinem Dragoman Balit gelang es, den Behörden das außergewöhnliche Zugeständnis regelrecht abzuluchsen, daß sie den Belagerern von Dörtjol neueste Gewehre und 20000 Patronen aus Armeebeständen zugeschanzt hatten - auf dem Umweg über Reservisten, die sich den Angreifern angeschlossen hatten - eine Enttarnung der immer wieder vorgebrachten Behauptung, daß es von offizieller Seite kein Zusammenspiel mit dem Mob gegeben habe. [1909-04-30-DE-007, Anlage 1.]

„Unmittelbar nach den Unruhen von Adana wurde von türkischer Seite geflissentlich verbreitet“, schloß Geschäftsführer Miquel die grausame Adana-Affäre ab, „dass die ganze Schuld allein die Armenier träfe.“ [1909-08-12-DE-001.] Eine Untersuchungskommission der türkischen Regierung sollte die Ereignisse in Adana aufdecken, doch ihr hatte Konsul Christmann von Anfang an einen Mißerfolg vorausgesagt. Kriegsgerichte verurteilten schließlich Türken und Armenier zum Tode und richteten sie hin. Die Türken waren fast ausnahmslos unbedeutende Mittäter oder Kleinkriminelle, während die Hauptschuldigen weiter frei herumliefen oder gar an der Macht blieben. [1909-06-19-DE-001, Anlage 3.] Die Armenier stammten zumeist aus guten Häusern und hatten zum Teil gar nicht an den Straßenkämpfen teilgenommen, sondern befanden sich in der amerikanischen Mission. [1909-06-19-DE-001, Anlage 9.]

Im August 1909 mußte die türkische Regierung dann zugeben, daß die Version von der Schuld der Armenier unhaltbar war. „Im Interesse der Wahrheit hat nun die Regierung ein Rundschreiben an die Vilajets gerichtet“, schrieb Miquel nach Berlin, „welches eine glänzende Rechtfertigung der Armenier enthält.“ [1909-08-12-DE-001.] Mit ziemlich wolkigen Formulierungen schoben die Autoren des Erlasses die Schuld auf „die falsche Ansicht , die sich bei Personen gebildet hatte, die mit den Tatsachen nicht vertraut waren“ und auf die Mär „von staatsgefährlichen politischen Plänen der Armenier“, die „vollständig grundlos“ seien. [1909-08-12-DE-001, Anlage.]

Es war reine Augenwischerei. Adana war der Knackpunkt in der Geschichte des osmanischen Vielvölkerstaats in Kleinasien. Bei den Jungtürken setzten sich zunehmend die Radikalen durch. „Von dem grossen Problem der jungen Türkei, nämlich der Verschmelzung aller Nationalitäten zu einem verfassungstreuen Ottomanentum, ist es recht still geworden“, berichtete Miquel am 6. September 1910. „Ja man kann unbedenklich behaupten, dass die Türkei von diesem Ziele weiter entfernt ist wie je. Es gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob eine friedliche, auf gemeinsamer Arbeit beruhende Lösung dieser Aufgabe nicht zu erreichen sein wird. Es würde demnach nur die Frage bleiben, ob die Türken nach und nach mit Gewalt die Verschmelzung durchsetzen.“ Wenn sie denn überhaupt noch eine Verschmelzung wünschten. „Die Gegensätze sind vorerst unüberbrückbar“, endet Miquel seinen Bericht, „nicht Worte entscheiden, sondern die Gewalt, und über diese verfügen die Jungtürken, welche davon einen recht ausgiebigen Gebrauch machen.“ [1910-09-06-DE-001.]

Und auch die Frage einer möglichen Verschmelzung der Minderheiten (nach französischem oder englischem Vorbild) war bereits zu diesem Zeitpunkt beantwortet. Im August 1910 hatte der jungtürkische Innenminister Talaat vor einem geheimen Zirkel des Saloniker Komitees eine Rede gehalten. Über sie berichtete der österreichisch-ungarische Vizekonsul von Zitkovszky an seinen Außenminister. Was die christliche Bevölkerung anlangt, so hat die Konstitution die Gleichheit von Mohammedanern und Giaurs garantiert“, habe Talaat ausgeführt. „Eine derartige Gleichstellung ist jedoch eine Unmöglichkeit. Dagegen spricht das Scheriat und die Geschichte der Vergangenheit. Dagegen sprechen die Gefühle von hunderttausenden Mohammedanern.“ [1910-10-14-DE-001.]

Das Licht der Französischen Revolution mit ihren klaren Menschenrechten, in dem sich die Jungtürken lange gesonnt hatten, verlöschte, eine Zivilisation westlicher Provenienz mit ihrem Toleranzgebot wurde ad acta gelegt, altes muslimisches Superioritätsdenken verband sich mit einem rassistischen Herrenmenschentum nun auch der Jungtürken, was Talaats Wunsch nach einem Partner Deutschland [1910-10-14-DE-001.] erklärt, bei dem sich ähnliche Abwege ankündigten. Für Christen im allgemeinen, Griechen und vor allem Armenier im besonderen war nach dem Willen der radikalen Jungtürken in ihrer alten Heimat kein Platz mehr. Nur über das „Wann“ ihres Verschwindens war noch nicht endgültig entschieden.


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