Es ist nun ein Zeichen der Zeit, daß das Blatt "Pro Armenia" seit dem vorigen Monat von neuem erscheint. Es hat genau die Form und den Umfang seines Vorläufers, nur der Titel ist etwas erweitert; er lautet jetzt: "Pour les Peuples d'Orient. Organe des Revendications Arméniennes". Herausgeber ist wiederum Herr de Pressensé im Verein mit dem in Orientfragen bewanderten Schriftsteller Victor Bérard. Die Armenierfreundlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Türkenfeindlichkeit. Herr de Pressensé erklärt, daß seiner Ueberzeugung nach das Dasein, die Unabhängigkeit und der unversehrte Bestand der asiatischen Türkei eine internationale Notwendigkeit seien, daß sie aber die Sicherheit und Freiheit der Armenier zur unbedingten Voraussetzung haben. "Wenn sie ihr eigenes Leben führen können ohne den Willkürakten gewissenloser Provinzgouverneure und Kreischefs, sowie der Gnade und Ungnade der Kurden ausgeliefert zu sein, aber auch nur dann, nehmen die Armenier gern die Suzerenität des Sultans an; sie würden sich in diesem Fall mit einer Selbstverwaltung unter europäischer Garantie zufrieden geben."
Die armenische Frage beginnt also wieder an die Tür zu pochen. Wir erfahren aus dem Blatte, daß die Freunde Armeniens jetzt in London, also offenbar anläßlich der Botschafterkonferenz, von neuem ihre Stimme zu Gunsten ihrer Schützlinge erhoben haben und bestimmt hoffen, daß sich die Konferenz auch mit der armenischen Frage befassen wird. Bekannt ist, daß sich der armenische Katholikos von Etschmiadsin unmittelbar nach Ausbruch des Balkankrieges an den Zaren Nikolaus mit der Bitte gewandt hat, sich der Armenier in der Türkei anzunehmen. Die Stürme des Balkans nahen sich ihrem vorläufigen Ende. (Ob sie schon jetzt dauernd zur Ruhe kommen, ist noch fraglich.) Die Aufgaben, die die asiatische Türkei bietet, treten allmählich in den Vordergrund. "Nach Albanien - Armenien!" lautet die Parole, die Herr Victor Bérard in der Armenier-Zeitschrift ertönen läßt.
Man scheint noch zu schwanken, wie weit man in den Forderungen gehen soll. Gegen Ende Dezember veröffentlichte die türkische Regierung einen neuen Reformplan für Armenien und ernannte eine Kommission aus drei Mohammedanern, zwei Armeniern und einem Chaldäer zum Studium der armenischen Angelegenheiten. Ein ausländischer Verwaltungsfachmann soll an die Spitze der Kommission gestellt werden. Der Plan wird von den Armeniern mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Sie sind schon zu oft getäuscht worden. Immerhin ist eine durchaus separatistische Strömung unter den Armeniern, so viel sich von hier aus beurteilen läßt, nicht vorhanden. Das hat seine guten Gründe. In voller Selbständigkeit wären die Armenier in Kleinasien erst recht zu schwach, sich der Kurden zu erwehren, und sie würden zweitens, außerhalb des Rahmens des türkischen Staates, sehr bald Gefahr laufen, dem russischen Reiche anheimzufallen. Zufrieden wären sie mit einer Ordnung nach dem Muster des Libanons, wo unter der Kontrolle und Bürgschaft europäischer Großmächte die christlichen Maroniten eine Art Selbstregierung haben und geschützt sind vor den Uebergriffen der moslimischen Drusen. Nach dieser Richtung wird sich allem Anschein nach die armenische Frage in nächster Zukunft entwickeln.