1915-07-28-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 20001
Zentraljournal: 1915-A-23488
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 08/08/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der deutsche Journalist H. von Tyszka in Konstantinopel an das Auswärtige Amt

Privatschreiben


Konstantinopel, 28. Juli 1915

Von H. v. Tyska mitgeteilt.

Vertraulich.


Die Dardanellen

Die Lage der tuerkichen Armeen zur Verteidigung der Dardanellen wird heute guenstiger aufgefasst, als dies bei meinem letzten Bericht vor etwa 10 Tagen der Fall war. Der Grund ist, dass eine neue Landung der verbuendeten Armeen an dritter Stelle, wodurch die tuerkische Armee zwischen zwei Feuer kommen koennte, wenig wahrscheinlich erscheint. Dass trotzdem die Lage keine beruhigende ist, wird sich aus dem Urteil zustaendiger Persoenlichkeiten in leitenden Stellungen ergeben. Zunaechst wird die Lage an hervorragender Stelle auf der hohen Pforte folgendermassen beurteilt:

In Aegypten allein haben die Englaender 45 000 Betten mit Verwundeten belegt. Nach Malta und Mudros sind gleichfalls viele Tausende von Verwundeten geschafft worden.

Dass die Tuerken seit Beginn der Angriffe auf die Dardanellen gegen 100 000 Mann an Abgaengen durch Tod, Verwundung und Krankheit haben, ist durchaus glaublich. (Diese Zahl erfuhr ich aus Aesserungen von ein paar Regimentsaerzten, die aus der Front hier eingetroffen waren).

Es scheint, dass das Oberkommando der Tuerkischen Truppen an den Dardanellen von einem allgemeinen Angriff auf die feindlichen Stellungen von Sedul Bahr und Kara Tepe Abstand genommen haben, weil eine genuegende Vorbereitung wegen Mangels an schweren Schnellfeuergeschuetzen nicht moeglich ist und der Verlust an tuerkischen Soldaten sich ins Unmaessliche steigen wuerde. Man findet den gegenwaertigen Zustand ertraeglich, da ein Erfolg der Verbuendeten so gut wie ausgeschlossen erscheint. Eine feindliche Landung an dritter Stelle etwa von der Bai von Saros in der Hoehe von Bulair aus wird als aussichtslos angenommen wegen der grossen Entfernung zur Basis und der Anwesenheit deutscher Unterseeboote, wodurch die Verpflegung einer gelandeten Truppe und ein Heranfuehren von Kriegsmaterial fuer dieselbe ausgeschlossen wuerde. Ausserdem haben die Verbuendeten nicht ausreichend neue Truppen, da die Italiener sich an den Dardanellenkaempfen nicht beteiligen wuerden.

Von militaerischer Seite wird angegeben. In Ari Burnu in Sedul Bahr haben die Verbuendeten auf einmal nie mehr als 50 - 60 000 Mann gehabt. 50 000 Mann an Reserven auf Schiffen zaehlen nicht mit. Jetzt sind sie schwer herauszuwerfen, da die Schuetzengraeben, nach allen Regeln der Kriegskunst angelegt, sichere Unterkunftsraeume bieten und die feindlichen Kriegsschiffe an Stacheldraht und anderen Verteidigungsausruestungen alles nur Denkbare mitfuehren. Die Kampfentwickelung gegen diese Kraefte ist selbst mit der weit ueberlegenden Zahl von etwa 300 000 Mann schwer moeglich. An den Tagen vom 26. und 27. April, an denen die Englaender und Franzosen im Begriff waren, sich an den beiden Landungsstellen festzusetzen, waere ein tuerkischer Angriff mit allen Kraeften von Erfolg gewesen. Damals war aber eine tuerkische Division anderweitig disponiert so dass sie rechtzeitig zum Vorstoss nicht herangezogen werden konnte. Es werden immer neue Kraefte zur Verteidigung der Dardanellen verlangt, denn zum Angriff scheint es nicht zu kommen, wodurch die anderen Armeen sehr geschwaecht werden. Eine Deckung nach allen Seiten ist unmoeglich, da schliesslich die Truppen, wenn sie gebraucht werden, an dieser Stelle nicht bei der Hand sind. Wenn eine feindliche Landung an dritter Stelle erfolgen wuerde, muesste die 1. und 11. Armee mit ihren geschwaechten Kraeften von Constantinopel und Thracien zur Unterstuetzung heranruecken. Die I. und II. Armee sind durch die Abgabe ihrer besten Truppen sehr geschwaecht worden. Pertew Pascha, der Kommandant des Armeecorps von Smyrna, macht das Gegenteil von dem, was das Oberkommando an den Dardanellen tut. Er haelt seine 3 Divisionen zusammen und hat mit guten Erfolg die Verteidigung der langen Kueste ausgefuehrt, so dass der Feind dort nicht festen Fuss fassen konnte.

Die Lage waere ertraeglich an den Dardanellen, wenn es beim bisherigen bliebe. Die Türkei kann sich aber jeden Augenblick an anderen Orten betaetigen muessen. Wie, wenn die Russen in Bulgarien landen und die bulgarische Bevoelkerung mit sich reissen wuerde?

Bulgarien hat mit der Tuerkei einen alten Vertrag, dass die Tuerkei Bulgarien, wenn dies von Griechenland und Serbien angegriffen wuerde, den Ruecken gegen Rumaenien decken muesse. Wie ist dies aber moeglich, wo fast die ganze disponible Armee vor den Dardanellen festgelegt ist? An diese Eventualitaet glauben aber aus nicht verstaendlichen Gruenden die Leiter der tuerkischen Armeen und auch Enver Pascha nicht. Es ist dies ein schwer begreiflicher Idealismus.

Wenn also an hervorragenden Plaetzen in der Bab-i-Ali erklaert wird: Die Bulgaren stehen jetzt zu uns und wir werden mit den Bulgaren gegen Rumaenien ziehen, wenn dieses Land nicht anstandslos Farbe bekennt und demnaechst den Transitverkehr nach der Tuerkei frei giebt. Mit welchen Truppen dieser Hilfszug aber unternommen werden soll, daran wird nicht gedacht. Es sind eben alles Gedankendinge, die sich im Raume stossen. Die I. und II. Armee hat zusammen kaum 100 000 Mann zur Bewachung der Kueste des Schwarzen Meeres und ganz Thraciens.

Die gewaltigen Braende am 26. und der Nacht zum 27. d.Mt. von Sali Banur [nicht genau zu entziffern], Fundukli, Cadabaschc.c. sind, wie an zustaendiger Stelle mit Sicherheit angenommen wird, auf Brandstiftung zurueckzufuehren. Ob die Herde der Braende - denn es scheinen mehrere zu sein - bei der sofortigen Ausbreitung des Feuers jemals sich werden feststellen lassen, steht dahin. Die Tuerken muessen mit einer Koalition der griechisch-armenischen Elemente rechnen, die den Tuerken feindlich gesinnt sind, weil sie im aufsteigenden tuerkischen Reiche ihre Sonderinteressen gefaehrdet sehen. Ein foermlicher Boykott wird seitens dieser beiden Nationalitaeten jetzt gegen die Muhamedaner ausgeuebt. Armenier und Griechen nehmen keine Wohnung mehr in tuerkischen Haeusern und dulden keine Muhamedaner in ihren Wohnstaetten.



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