1915-11-16-DE-001-V

DuA Dok. 202 (gk.)

Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

K.Nr. 108/B.Nr. 2577

Aleppo, den 16. November 1915

Die türkische Botschaft in Berlin hat über den Aufruhr in Urfa die in der Anlage gehorsamst hier beigefügte Erklärung veröffentlicht, die in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 28. Oktober, No. 299 (2te Ausgabe), zum Abdruck gekommen ist und mir zu den folgenden Bemerkungen Anlass gibt. Sie besagt unter anderem:

"Der Zweck den die Banden mit dem Aufruhr verfolgten, war einerseits der, Schaden anzurichten, fremde Niederlassungen zu zerstören und Untertanen der mit der Türkei im Kriege befindlichen Staaten zu töten, um die Folge dieser Morde auf die Türkei abzuwälzen. Anderseits wollten sie einen Teil der Kaiserlichen Truppen an die befestigten Schlupfwinkel fesseln und sie vom Kriegsschauplatz abziehen."

Demgegenüber wird daran festzuhalten sein, dass der Zweck des Aufruhrs nicht ohne seine Vorgeschichte verstanden werden kann. Urfa hat unter den Armeniermetzeleien vor zwanzig Jahren schwer gelitten. Damals wurden u.a. 1000 Menschen in der Kirche, in die sie unter dem Vorwande, ein Asyl zu finden, hineingelockt waren, vorsätzlich verbrannt. Die Armenier haben seitdem in steter Furcht vor einer Wiederholung der Metzeleien gelebt und sich mit Waffen versehen, um nicht wehrlos zu sein.

Als im Frühsommer d.J. die Armenierverschickungen angeordnet wurden, sagte mir der hiesige Wali Djelal Bey der sich weigerte, sie auszuführen und deswegen versetzt wurde, "Es ist das natürlichste Recht des Menschen, zu leben. Der Wurm, den man tritt, krümmt sich. Die Armenier werden sich wehren."

Welcher Art die Vorbeugungsmassregeln sind, die von der türkischen Regierung in der gegenwärtigen Weltkrisis gegen die Armenier ergriffen wurden, hatten die Bewohner von Urfa bereits erfahren. Gegen Mitte Juni sind gegen 50 der Angesehensten von ihnen verhaftet und einer von ihnen mit 100 Stockschlägen fast zu Tode geprügelt worden (Anlage meines Berichts vom 29. Juni No. 67). Kurz darauf wurden sie nach Diarbekir in Marsch gesetzt, woselbst angeblich ihre Aburteilung erfolgen sollte, sind aber unterwegs - also ohne Urteil - umgebracht worden. Darunter befand sich der langjährige Apotheker des deutschen Hospitals, der nach dem Zeugnis der deutschen Missionare, wie übrigens viele unter den 50 Abgeführten, loyaler ottomanischer Untertan gewesen ist. Auch das Schicksal der aus dem Norden und Osten angekommenen Verschickten hatten die Urfaleute vor Augen. Sie wussten, dass die Männer ermordet, Frauen und Mädchen geschändet, günstigstenfalls in muslimische Harems aufgenommen, und dass der Rest, nämlich Kinder und ältere Frauen dem Hungertode preisgegeben waren. Daher ihr Entschluss, lieber mit der Waffe in der Hand zu sterben, und ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, als sich und ihre Familie wehrlos vernichten oder entehren zu lassen. Es ist richtig, dass die allgemeine Verschickung der Armenier Urfas noch nicht beschlossen war, als der Aufruhr losbrach. Die einzigen Städte der Türkei, welche bis dahin dieses Geschick noch nicht erlitten hatten, waren, soweit hier bekannt, Konstantinopel, Smyrna, Aleppo und Urfa. Welche Gewähr aber bestand, dass Urfa nicht auch an die Reihe kommen würde? 18 Familien waren im Mai bereits verbannt, von der Vernichtung der 50 im Juni habe ich soeben gesprochen. Es lag nahe, dass, wie überall auch die Masse verschickt werden würde, nachdem die Führer beseitigt waren. Haussuchungen nach Waffen erfolgten. Dabei wurde eine Patrouille niedergeschossen. Eine zweite, nicht aufgeklärte Schiesserei hat dann die Krisis ausgelöst.

Die Armenier haben sich nicht, wie die Erklärung verallgemeinernd behauptet, "der fremden Niederlassungen" bemächtigt, woraus ein mit den Verhältnissen vertrauter Deutscher schliessen müsste, dass auch die deutschen Missionshäuser in den Kampf hineingezogen worden sind, sondern sie haben nur die für ihre Verteidigung günstig gelegene amerikanische Mission besetzt.

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Anmerkung:

Von den deutschen Häusern (Hospital, Waisenhaus, Privathäusern der deutschen Angestellten, Teppichfabrik) ist nur die letztere, die inmitten der alten Stadt liegt, in Mitleidenschaft gezogen worden und zwar ganz leicht. Sie lag am Rande des Gefechtbezirkes und hat einige Gewehrschüsse, wohl auch eine Handgranate erhalten, die aber keinen irgend nennenswerten Schaden angerichtet hat. Von den Deutschen ist niemand verletzt. Dagegen ist die Mission insofern stark in Mitleidenschaft gezogen, als ihr ganzes einheimisches Personal, obwohl am Aufruhr nicht beteiligt, rücksichtslos und schonungslos weggeführt worden ist. Welcher Einfluss dadurch auf die Fortführung der Arbeit geübt wird, kann ich vorläufig noch nicht übersehen.

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Auch haben die Armenier den amerikanischen Missionar Leslie und sieben französische Untertanen in ihrem Stadtviertel als Geiseln zurückbehalten, aber nicht, um sie zu töten. Hätten sie dies gewollt, so hätten sie reichlich dazu Gelegenheit gehabt, da sie Tage lang diese Fremden in ihrer Gewalt hatten. Verständlicher wäre es gewesen, wenn die Erklärung gesagt hätte, "um sie durch türkische Kugeln töten zu lassen." Denn die Zurückbehaltung war allerdings ein verzweifelter Versuch, das Schicksal der Fremden an das der Armenier zu ketten, um auf diese Weise irgendwie ihre Lage zu verbessern.

Was schliesslich die Behauptung betrifft, dass die Armenier sich der Stadtteile der Muslimen bemächtigt und begonnen hätten, die Einwohner niederzumetzeln, so ist sie nach dem Zeugnis des Majors Grafen Wolffskehl, welcher den Ereignissen beigewohnt hat, erfunden. Sie erinnert mich an folgenden Vorfall: Als ich Anfang April in Marasch war, und die wenigen Armenier, die sich überhaupt aus den Häusern wagten, unter dem Druck des verhängten Belagerungszustandes und der Furcht vor dem Kommenden sich nur ängstlich an den Häusern entlang drückten, versuchten muslimische Intriganten ein Telegramm nach Konstantinopel zu schicken, des Inhalts, die Armenier hätten die Moscheen in Marasch besetzt und in Kirchen verwandelt!

Die in der türkischen Erklärung gegebenen Daten sind diejenigen des orientalischen Kalenders. Die Schiesserei war also nach westlichem Kalender am 29. September und der Aufstand war am 16. Oktober unterdrückt. Die türkischen Verluste an Toten betrugen nicht 20 sondern 50, ausserdem 120 bis 130 an Verwundeten.

Ich beabsichtige mit meiner Darstellung nicht, der einen oder der anderen Partei zu Liebe oder zu Leide zu schreiben, halte es aber für meine Pflicht, über Dinge, die sich in meinem Amtsbezirk ereignet haben, Euer Exzellenz vorzulegen, was ich für die Wahrheit halte.

Gleichen Bericht lasse ich der Kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel zugehen.


Rößler
Anlage

(Norddeutsche Allgemeine Zeitung.)

Berlin, den 27. Oktober [1915].

Die Kaiserlich Türkische Botschaft teilt mit: In der Nacht vom 16. September haben armenische Banden einen Aufruhr veranstaltet. Sie hatten sich in starken Gebäuden auf den beherrschenden Punkten der Stadt Urfa verschanzt und eröffneten das Feuer gegen unsere Gendarmeriepatrouillen, von denen zwei Mann getötet und acht verwundet wurden. Unsere Gendarmerie wurde überall mit Feuer empfangen. Nachdem die Armenier sich der fremden Niederlassungen bemächtigt und deren Besitzer mit Gewalt zurückgehalten hatten, stellten sie dort Schießscharten her. Da diese Tatsachen bewiesen, daß die aufrührerischen Banden entschlossen waren, bewaffneten Widerstand zu leisten und die Unzulänglichkeit der in geringer Zahl vorhandenen Gendarmerie auzunützen, und da sie sich schließlich der Stadtteile der Muselmanen bemächtigt hatten und die Einwohner niederzumetzeln begannen, wurden einige für die Front bestimmte Truppen nach Urfa abgeschickt. Die Schlupfwinkel der Banden wurden zerstört und der Aufruhr war am 3. Oktober unterdrückt. Die Zahl der bei diesem Vorfall getöteten Soldaten und Gendarmen beträgt 20, die der Verwundeten 50.

Der Zweck, den die Banden mit ihrem Aufruhr verfolgten, war einerseits der, Schaden anzurichten, fremde Niederlassungen zu zerstören und Untertanen der mit der Türkei im Kriege befindlichen Staaten zu töten, um die Folgen dieser Morde dann auf die Türken abzuwälzen, andererseits wollten sie einen Teil der Kaiserlichen Truppen an ihre befestigten Schlupfwinkel fesseln und sie so vom Kriegsschauplatz abziehen.

Dank den kräftigen und schnellen Maßnahmen der Kaiserlichen Behörden hatte der Aufruhr nicht den erwünschten Erfolg. Er wurde unterdrückt, ohne daß einem Untertanen der mit der Türkei im Kriege befindlichen Länder oder einem Neutralen Schaden zugefügt worden ist.


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