1915-09-27-DE-014-V

DuA Dok. 166 (nur Anlage 1)

Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg)


Nr. 2130

Aleppo, den 27. September 1915

Über die Verschickung der Armenier beehre ich mich weiter das folgende zu berichten:

1) Einzelne Scenen, wie sie sich sonst wohl nur unbeobachtet abgespielt haben, rollten sich kürzlich vor den Augen der Bevölkerung in Aleppo selbst ab. Die Regierung hat seitdem ihre Massnahmen so getroffen, dass die Scharen der Verschickten Aleppo grösstenteils nicht mehr berühren sollen.

Am 10. und am 12. d.M. kamen je ein Zug von etwa 2000 verbannten Frauen und Kindern über Ras ul Ain zu Fuss in völlig erschöpftem Zustande hier an, ein Zug der nur durch den Pinsel eines Wereschtschagin in seiner Grauenhaftigkeit hätte wiedergegeben werden können. Die Gendarmen trieben die elenden abgemagerten Geschöpfe, denen vielfach der Tod auf dem Gesicht geschrieben stand, mit Peitschenhieben vor sich her durch die Strassen Aleppos zum Bahnhof, ohne dass sie hier in der Stadt einen Schluck Wasser hätten trinken dürfen oder ein Stück Brot erhalten hätten. Die Einwohner der Stadt die Wasser und Brot verteilen wollten, wurden daran verhindert. Zwei Frauen fielen zu ihrer Niederkunft nieder und wurden nur durch hinzueilende Stadtbewohner davor bewahrt, von den Gendarmen mit der Peitsche bearbeitet zu werden. Zwei deutsche Borromäusschwestern waren Zeuge, wie eine erschöpfte Frau von einem Gendarmen an den Haaren weitergezogen wurde. Ein Deutscher und ein Oesterreicher, die wegen eines türkischen Wohltätigkeitsbazares gerade auf dem Wege zum Wali waren, haben den Gendarmen gewehrt und ihnen mit dem Wali gedroht, wobei sie beinahe mit ihnen zusammengeraten wären. Zwei deutsche Offiziersburschen haben in ihrer Empörung Gendarmen geohrfeigt. Ein türkischer Oberst a.D., Tscherkesse, sah sich veranlasst, seinerseits den Gendarmen die Peitsche zu fühlen zu geben. Der Betriebsdirektor der Bagdadbahn, ein Schweizer, sagte mir, er habe viel in seinem Leben gesehen und sei hart geworden, so etwas aber wie diesen Zug habe er nicht für möglich gehalten. Er habe ihn an die Bilder aus indischen Hungersnöten erinnert. Man wird daher verstehen, warum Djemal Pascha ein strenges Verbot erlassen hat, die Verbannten zu photographieren. Er hat den in anliegender Abschrift gehorsam beigefügten mir zur streng vertraulichen Benutzung überlassenen Befehl gegeben, dass alle Ingenieure der Bagdadbahn ihre Abzüge, ihre Platten und Filme die sie etwa besässen, bei Vermeidung von Strafen abzuliefern hätten. Die Aufnahme von Armeniern sei wie unerlaubtes Photographieren auf einem Kriegsschauplatz anzusehen.

Auf der Bahn sind auch Sterbende noch mit verladen worden. Am nächsten Morgen lagen zwei Tote an der Verladestelle.

Die Zahl der Todesfälle unter den Verschickten ist seit Anfang September, wo sie im täglichen Durchschnitt 25 betrug, bis Mitte September rasch auf 40, 60 und mehr gestiegen. Da nicht für alle Verbannten Unterkunft hat beschafft werden können, kommt es vor, dass Sterbende auf der Strasse liegen. Der Beerdigungsdienst ist wie alles andere schlecht organisiert. Es war mir erzählt worden, es sei einige mal vorgekommen, dass zur Beerdigung bestimmte Körper im Augenblick, wo man sie in das Grab legen wollte, - sie werden ohne Sarg beerdigt, - noch Lebenszeichen von sich gegeben hätten. Ich hatte dieser Erzählung keine weitere Beachtung geschenkt, bis am 13. d.M. nachmittags 5 Uhr der langjährige Dragoman dieses Konsulats, Herr Gabriel Sayegh auf dem griechisch katholischen Friedhof begraben wurde. Als das Begräbnis beendet war, erzählte mir einer der mitwirkenden Geistlichen, dass während der Feier am anderen Ende des Friedhofs ein armenisches Mädchen von 15 Jahren begraben werden sollte, als sich herausstellte, dass sie noch lebte. Es sei hier eingeschoben, dass der armenische Friedhof für die Menge der Toten nicht reicht, und dass daher andere christliche Friedhöfe mit benutzt werden. Am 14. d.M. nachmittags gegen Sonnenuntergang besuchte ich wieder den griechisch katholischen Friedhof. Mehrere armenische Leichen wurden begraben. Eine Reihe offener Gräber war schon bereit. In jedem, das normalerweise für einen Menschen bestimmt ist, sollten nach Angabe der Totengräber 5 - 6 gelegt werden. Ein armenischer Priester, oder wahrscheinlich ein Laienbruder, führte die Liste über die Zahl der Bestatteten. Die Teilnahme der Kirche beschränkte sich darauf, dass er bei jeder Bestattung nur von ferne ein Kreuz schlug. Die gregorianische Kirche in Aleppo ist der Wucht der Ereignisse erlegen. Der Katholikos von Sis ist physisch zusammengebrochen, die anderen wenigen ihr angehörenden Priester sind entweder mit der Linderung des Massenelends durch Brotverteilung und anderem beschäftigt, oder sie wagen nicht, ihres Amtes zu walten. Es scheint auch, dass die Verzweiflung über den Untergang ihres Volkes den Sieg über ihren Glauben davongetragen hat. Auch die Hülfe, die sich die Verbannten untereinander leisten, ist vielfach auffallend gering, sei es aus ungebrochener natürlicher Selbstsucht, sei es weil sie durch das Unglück stumpfsinnig geworden sind. Die Armenier Aleppos helfen dagegen vielfach.

In der Nähe einer Grabstätte lagen zwei sterbende Frauen. Um sie herum Totengräber und Strassenjugend, den Augenblick des Todes erwartend, um sie in das Grab zu legen. Auf meine Frage wie diese Frauen auf den Friedhof gekommen seien, erhielt ich die Auskunft: Auf einem Ochsenkarren waren fünf Leichen, ohne Sarg eine auf die andere gelegt, angebracht worden. Als der Totengräber seines Amtes walten wollte, merkte er, dass von den fünf Körpern noch drei lebten. Ein Knabe, dessen Tod nicht unmittelbar zu erwarten schien, war vom Friedhof wieder entfernt worden, während man die beiden Frauen gleich dagelassen hatte. Auch den Totengräber, der am Tage vorher das 15jährige Mädchen, das er in die Grube legen wollte, noch lebend gefunden hatte, habe ich gesprochen. Er hat mir die Tatsache bestätigt.

Gedankenlosigkeit, mangelnde Voraussicht und Härte der oberen Behörden und die Roheit der unteren Organe wirken zusammen, dass die verbannten Armenier teilweise nicht wie Menschen behandelt werden. Wenn die geschilderten Dinge in Aleppo vorkommen, unter den Augen der Behörden und der Bevölkerung, welche Behandlung muss man da in der Einsamkeit des Marsches voraussetzen?

Die von Osten kommenden Scharen sind schon bei ihrer Ankunft in Aleppo der Barmittel beraubt. Die von Norden und Nordwesten kommenden sind grossenteils in besserem Zustande, haben vielfach nicht nötig gehabt, zu Fuss zu gehen, haben noch Sachen und Geld. Aber auch ihre Mittel müssen mit der Zeit versiegen. Es ist zu fürchten, dass auch diese Verbannten, wenn sie nicht in Städten gelassen werden, früher oder später in ihrer grossen Mehrzahl das gleiche Geschick des Verhungerns erleiden müssen, wie die über Ras ul Ain hier durchgekommenen Scharen. Insbesondere droht ihnen dieses Geschick, seitdem die Regierung angeordnet hat, dass die kleinasiatischen Armenier nach Der ez Zor und Mossul zu wandern haben. Die Aussicht, vor dem Verhungern bewahrt zu bleiben, sofern sie nicht auf dem Marsche zu Grunde gehen, ist etwa vorhanden, wenn sie zufällig in das Dorf eines mitleidigen Grossgrundbesitzers geraten. Auch wird es vorkommen, dass die Frauen in den Harems verschwinden und die Kinder als Muslims aufwachsen.

Es ist nicht nur die Härte dieses Geschickes, welche mich veranlasst hat, Vorstellungen dagegen bei Euer Durchlaucht zu erheben. Die türkische Regierung schadet sich selbst und uns als Verbündeten. Sie bedroht nicht nur ihre einzige, für einen Feldzug gegen Aegypten vorhandene Etappenstrasse mit der Gefahr der Verseuchung, sondern sie stopft sie auch mit zehntausenden von Menschen voll, während sie jeden Augenblick für grössere Truppenbewegungen gebraucht werden kann.

2) Dafür dass in den östlichen Wilajets aus den Massregeln gegen die Armenier solche gegen die Christen geworden sind, wie ich in meinem Bericht vom 3. September - B.No. 1950 - angeführt, haben sich noch weitere Beweise gefunden. Der stellvertretende syrianische (syrisch Katholische) Bischof hat mir erzählt, dass aus Kharput, Diarbekr, Weranscheher und Mardin zusammen 300 Kinder und ältere Frauen seiner Glaubensgemeinschaft hier angekommen sind. Der Rest der Gemeindemitglieder wird umgekommen oder entführt sein. Über Mardin und die nächste Umgebung wird mir von einem hiesigen deutschen Kaufmann die folgende Zusammenstellung übergeben, die auf Mitteilung hiesiger Verwandter der betroffenen beruht und die Gewähr sorgfältiger Erkundigung bietet. Ob sie objektiv richtig ist, kann erst die Zukunft lehren. Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass auch andere Christen als Armenier Gegenstand der Verfolgung geworden sind.

Orte Einw. Moham. Arm. Kat. Alt. Syr. Syr. Kat Prot. Chald.
Mardin5000027000100001000015001400100
Goliye 5000
Tell Armen 4500
Kalat Mara 1000
Mansuriye 400
Benabil 400

Die roten Zahlen bezeichnen die ermordeten und verschleppten Menschen. Entfernungen in Stunden von Mardin: Goliye 1 1/2, Tell Armen 4, Kalat Mara 1/2, Mansuriye 1/4, Benabil 3/4.

Der in Spalte 3 genannte Bevölkerungsteil gehört zwar religiös der armenisch-katholischen Kirche an, spricht aber arabisch und gilt im Bewusstsein des Volkes nicht als armenisch. Wahrscheinlich ist er auch der Rasse nach nicht armenisch. Handelte es sich um Armenier, die allmählig die arabische Sprache angenommen hätten, so würden doch die Familiennamen armenisch geblieben sein. Auch diese aber sind durchgehend arabisch.

In Söird, (Wilajet Bitlis) und Djeziret ibn Omar (Wilajet Diarbekir) sind die Chaldäer, im Djebel et Tor nördlich Mardin sind sämtliche Christen ausgerottet.

Wie erst verspätet hier bekannt geworden ist, sind zwei Mutesarrifs von Mardin abgesetzt worden, weil sie sich weigerten, die Befehle der Regierung gegen die Armenier auszuführen.

3) In Marasch hat wieder das Kriegsgericht seine Tätigkeit begonnen. Gegen den 11. d.M. sind 18 Personen gehängt worden, nachdem sie nur drei Tage im Gefängnis gewesen waren. Die Hinrichtung einer grösseren Anzahl, die gleichfalls im Gefängnis waren, wurde am 11. oder 12. erwartet. Diese Nachrichten gehen, da der schriftliche Verkehr mit der dortigen Station des deutschen Hilfsbundes erschwert ist, auf mündliche Mitteilung Eingeborener zurück.

Trotz der Zusicherung der Regierung, dass die noch nicht Verbannten an ihren Wohnsitzen bleiben dürften, sind ausserdem wieder 40 Häuser in Marasch geräumt worden und zwar überwiegend solche besserer Familien, darunter des weltlichen Vertreters der katholischen Gemeinde. Das Bestreben der Regierung geht darauf hinaus, alles was Bildung, Besitz und Einfluss hat, zu beseitigen und nichts übrig zu lassen, als die niedrigste führerlose Volksschicht. In Marasch und Aintab ist wie an vielen anderen Stellen dieses Ziel bereits erreicht.

4) Die Niederschlagung der Aufständischen im Bezirk Antiochien (Suediye) ist noch nicht gelungen. Weitere Truppen sind noch am 20. d.M. dorthin abgesandt worden.

5) Die Armenier Aleppos haben ausser anderen Zufluchtsstätten für hier durchgekommene Verbannte auch ein Haus zur Aufnahme von Neuverwaisten bestimmt. In diesem befanden sich am 23. September

43 Witwen

48 Waisenknaben, deren Mutter noch lebt

132 Knaben, die Vollwaisen sind

46 Waisenmädchen, deren Mutter noch lebt

100 Mädchen die Vollwaisen sind

369 insgesamt, Personen aus 43 verschiedenen Ortschaften. Ein Verzeichnis dieser Ortschaften, die ich auf den mir zur Verfügung stehenden Karten nicht alle habe feststellen können, beehre ich mich in der Anlage hier beizufügen.

Gleichen Bericht lasse ich dem Herrn Reichskanzler zugehen.


Rößler


Anlage 1

Vertraulich/Abschrift

Uebersetzung eines Schreibens des Militärkommissars an die Bauabteilung III der Bagdadbahn vom 28/10. September 1915.


Très urgent/ No. 4513
Alep le 28. Août, 10 Septembre 1915

Monsieur l'Ingénieur en Chef,

La quatrième Armée ayant informée que certains Ingénieurs et Employés du Chemin de Fer de Bagdad prennent les photographies de vue de transports des Arméniens, Son Excellence, Djémal Pacha, Commandant en Chef de l'Armée, a donné ordre afin que ces Ingénieurs et Employés remettent, de suite et dans le délai de 48 heures, au Commissariat Militaire tous les clichés des photographies avec toutes les copies qu'ils ont pris. Tous ceux qui ne remettront pas ces photographies seront soumis aux punitions et jugés comme ayant pris des photographies sur le champ de guerre sans autorisation.

Veuillez, je vous prie, donner les instructions nécessaires en conséquence à qui de droit et agréez, Monsieur l'Ingénieur en Chef, l'assurance de ma parfaite considération.


pr. le Commissaire Militaire

[Nizami]

Anlage 2

Vertraulich

Verzeichnis von 43 Ortschaften aus denen Neuverwaiste stammen:

Erzerum; Amasia; Gürün; Siwas; Zeitun; Herdev; Uzun Yayla (bei Siwas); Weranschehr; Tschümüschgazag; Arabkir; Saray; Diarbekr; Severek; Hadjin; Kharput; Hüseynig (bei Erzerum); Sassun (bei Wan, Bitlis); Harasar; Teernis; Bingöl; Kayar; Nurpet (bei Marasch); Mezere; Marasch; Dörtyol; Baker Maden (Diarbekir); Yerasar; Gowden; Adjiaman; Dereköy (bei Marasch); Vangarez; Kirri; Garmena; Adana; Tokat; Djiniz (bei Erzerum); Debne; Manjilik; Schar (bei Hadji); Mardin; Karahissar; Ulash (bei Erzerum); Karagöl.


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