1914-12-29-DE-001-V

DuA Dok. 013 (gk.)

Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Nr. 341

Pera, am 29. Dezember 1914.

Aus Anlaß eines Berichtes des Kaiserlichen Konsuls in Adana über die der deutschen Sache ungünstige Stimmung unter der armenischen Bevölkerung jener Landesteile habe ich den hiesigen Patriarchen der gregorianischen Armenier über seine Auffassung der einschlägigen Verhältnisse sondieren lassen.

Wie aus den Mitteilungen des Herrn Dr. Büge hervorgeht, herrscht unter den Armeniern seines Amtsbezirkes allgemein die Befürchtung, daß im Falle eines deutschen Sieges die Existenz des armenischen Volkes auf türkischem Boden vernichtet sei; denn Deutschland habe während der Armenierverfolgungen die türkische Regierung unterstützt und in ihrem Vorgehen ermuntert; wenn aber die Türkei in die Hände der Engländer und Franzosen fiele, dann würden endlich die so schwer heimgesuchten Armenier Ruhe finden, u.s.w. Ich habe daher dem Patriarchen versichern lassen, daß die vor Beginn des Krieges eingeleitete Reformaktion für die ostanatolischen Landesteile zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben sei, und daß ich nach Wiederherstellung des Friedens für die Wiederaufnahme des Reformwerkes eintreten würde, so wie seinerzeit die dahin zielenden Schritte der russischen Regierung von uns unterstützt worden seien.

Der Patriarch fand es selbstverständlich, daß infolge des herrschenden Kriegszustandes diese Angelegenheit zurückgestellt sei und vor Beendigung des Krieges nicht wieder in Fluß gebracht werden könne. Für den Augenblick beklagte er das Mißtrauen der türkischen Behörden gegenüber den Armeniern und speziell das Los der armenischen Distrikte in der Nähe des Kriegsschauplatzes, namentlich in der Umgegend von Erzerum. Die waffenfähigen Männer im Alter von 20-45 Jahren seien eingezogen, die übrigen würden zu Transporten und dergleichen Diensten verwendet, so daß die Dörfer den Übergriffen und Ausschreitungen marodierender Soldaten schutzlos preisgegeben seien. In den übrigen Provinzen mit armenischer Bevölkerung scheine Ruhe zu herrschen, doch lägen infolge der Unterbrechung der Korrespondenzen keine sicheren Nachrichten vor.

Im allgemeinen bemerkte der Patriarch, daß jeder einsichtige Armenier das Verbleiben der Armenier unter türkischer Herrschaft wünsche und den Gedanken eines Anschlusses der betreffenden Landesteile an einen fremden Staat zurückweise; allerdings sei es unbedingt notwendig, daß im Sinne der geplanten Reformen den Armeniern in Ostanatolien die Gleichheit vor dem Gesetze und Schutz von Leben und Eigentum gewährleistet werde.

Auf die Sympathien der Armenier für die eine oder die andere der mit uns im Kriege befindlichen Mächte übergehend, meinte der Patriarch, es sei begreiflich, daß im Grenzverkehr mit dem russischen Gebiete vielfach russische Sympathien eingeschleppt würden. Alljährlich im Frühling zögen Tausende von Armeniern nach Rußland, um dort zu arbeiten, und kehrten im Herbste mit ihren Ersparnissen in ihre türkische Heimat zurück; da würden dann wohl Vergleiche zwischen der Behandlung, die sie in der Fremde erfahren haben, und ihrer Lage in der Türkei gezogen; wie aber ihr Los sich gestalten würde, wenn sie unter russische Herrschaft geraten sollten, davon hätten sie keine richtige Vorstellung. Während der Armeniermassakres in Erzerum (im Jahre 1898) habe der russische Konsul Maximow nicht nur diejenigen Armenier, die im Konsulate Zuflucht suchten, abgewiesen, sondern auch den fanatischen Pöbel durch laute Zurufe zur Fortsetzung der Ausschreitungen angetrieben. Der Patriarch führte noch andere Einzelheiten an und fügte hinzu, daß das Eintreten Rußlands für Reformen in Türkisch-Armenien durch die Rücksichtnahme auf die armenische Bevölkerung im Kaukasus begründet gewesen sei.

Wenn Sympathien für Frankreich vorhanden seien, so sei das die Folge davon, daß in den armenischen Schulen von fremden Sprachen hauptsächlich Französisch gelehrt werde; die Kenntnis dieser Sprache bilde das Medium zur Einführung französischer Ideen und französischer Sympathien. Das Deutsche sei aus Mangel an geeigneten Lehrkräften bisher nur an wenigen Schulen in den Unterricht aufgenommen. Für Amerika seien ausgesprochene Sympathien vorhanden, obwohl die Proselytenmacherei der amerikanischen und englischen Missionare vielfach Anstoß errege. Auf die den Deutschen ungünstige Stimmung und deren Ursachen vermied der Patriarch des näheren einzugehen, doch meinte er, daß die deutsche Politik unter dem Regime Abdulhamids, die als den Armeniern feindlich gilt, durch andere Erwägungen geleitet gewesen sei, und daß jetzt, unter veränderten Verhältnissen, kein Grund vorliege, auf vergangenes und geschehenes zurückzugreifen. Die ausgebreitete und segensreiche Tätigkeit der Kaiserswerther Diakonissen und anderer deutscher Vereine für die Armenier in der Türkei werden vom Patriarchen richtig gewürdigt.

Die vorstehenden Ausführungen des Patriarchen dürften im allgemeinen als zutreffend und auch als aufrichtig gemeint zu erachten sein. Soweit mir bekannt, gehört er selber, ebenso wie die Majorität des derzeitigen "Großen Conseils" der armenischen Gemeinde, der gemäßigten Partei ("Ramgavar") an. Allerdings scheint es ausgeschlossen, durch das Patriarchat auf die breitere Masse der armenischen Bevölkerung in deutschfreundlichem Sinne einzuwirken, da die Partei Ramgawar über kein geeignetes Parteiorgan verfügt. Doch dürfte es vielleicht gelingen, das eine oder andere Blatt der anderen Parteien für unsere Interessen zu gewinnen, und ich behalte mir vor, auf diese Angelegenheit zurückzukommen, sobald die Schritte, die ich zu diesem Zwecke veranlaßt habe, zu einem greifbaren Resultat geführt haben.


Wangenheim.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg.


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