1917-07-14-DE-001-V

DuA Dok. 356 (re. gk.)

Der Direktor der Deutschen Evangelischen Missions-Hilfe August Wilhelm Schreiber an das Auswärtige Amt

Berlin-Steglitz, den 14. Juli 1917.


Als Vorstandsmitglied der Deutschen Blindenmission im Orient ging mir von dem Leiter unseres Blindenheims in Malatia, Ernst J. Christoffel, ein Brief vom 26. März d. J. zu, der die Anschauung des Herrn Christoffel über die Lage und Zukunft der Armenier in Kleinasien enthält. Ich erlaube mir, denselben in Abschrift zur Kenntnisnahme vorzulegen, ohne zu den Mitteilungen Stellung zu nehmen.

A. W. Schreiber,
Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe.
Anlage.

Bericht des Herrn J. Christoffel, Vorsteher des Blindenheims Malatia, über die Lage der Armenier, an Pastor G. Stoevesandt, Berlin.

Malatia, den 26. März 1917.

Ich benutze eine günstige Gelegenheit, um durch einen lieben feldgr. Besuch zensurfreie Nachricht zu geben. In der Hauptsache die Lage der orientalischen Christen Betreffendes, während ich die Anstalt Betreffendes an Frau Dr. Schr. schreiben will, und ich bitte Sie beide die Briefe auszutauschen.

Die Verluste des armenischen Volkes seit der Verschickung Sommer 1915 bis heute übersteigen 2 [1] Millionen. Ein Teil wurde in den Gefängnissen, nach fürchterlichen Folterqualen, getötet. Von Frauen und Kindern starben die meisten auf dem Wege in die Verbannung, an Hunger, Seuche und auch Mord. Auf Einzelheiten kann ich nicht eingehen. Sollte mein l. Freund Andreas Krüger Gelegenheit haben, Sie zu sehen, so kann er mehr oder weniger meine nackten Sätze illustrieren.

Ein kümmerlicher Rest der Verschickten fristet in den Ebenen Syriens und Nordmesopotamiens ein elendes Dasein und wird durch Seuchen und Zwangsbekehrungen täglich kleiner. Männer sind nur vereinzelt übrig geblieben. In den Städten Anatoliens befindet sich noch eine Anzahl Versprengter, Geflüchteter, die aber meistens zum Islam übergetreten sind. Neben den Zwangsbekehrungen, die in Massen stattfanden, stand als ein anderes charakteristisches Zeichen die Massenadoption armenischer Kinder. Es handelt sich da um viele Tausende. Sie werden künstlich zu fanatischen Muhammedanern gemacht. Das Morden hat nachgelassen, aber der Vernichtungsprozeß hat nicht aufgehört, hat nur andere Formen angenommen.

Den Leuten ist alles geraubt worden. Eigentum, Familie, Ehre, Religion, Leben. Im Herbst 1915 kam für die protestantischen und katholischen Armenier, wahrscheinlich auf Veranlassung der deutschen und österreichischen Botschaft, ein Gnadenerlaß heraus, der diese vor der Verschickung bewahren und sie in Besitz ihres Eigentums lassen sollte. Er war nur wie ein Schlag ins Wasser. Meistenteils wurde er unterdrückt, bis die protestantischen Männer getötet waren, und auch für die Frauen und Kinder hatte er kaum praktische Bedeutung.

Vom Schwarzen Meer bis nach Syrien ist die Predigt von Gottes Wort [des Evangeliums] verstummt, ausgenommen in den deutschen Anstalten. Die protestantischen Gemeinden sind vernichtet. Ihre Prediger, bis auf einzelne Ausnahmen (vielleicht 4 bis 5), getötet. Ihre Kapellen und Schulen weggenommen, geschändet oder zerstört. Dasselbe gilt von den katholischen und altarmenischen Gemeinden.

Den armenischen revolutionären Kreisen die Verantwortung zuzuschieben, ist ein Unsinn. Die haben vom türkischen Standpunkt aus schwer gefehlt, nicht so vom armenischen aus. Die Nation als solche war nicht schuldig, sondern nur eine kleine Minderheit. Das weiß die türkische Regierung so gut wie jeder in diesem Lande. Für uns deutsche Missionare ist es unsagbar schwer, daß Deutschland von Christen und Muhammedanern als der Urheber der Greuel angesehen wird. Die Ansicht wird von türkischer Seite genährt und gestärkt. Bleibt dieser Vorwurf auf Deutschland haften, dann wird er auf Jahrzehnte hinaus das größte Hindernis deutscher Mission sein, sowohl den Christen wie den Muhammedanern gegenüber. Nachrichten aus türkischen oder turkophilen Kreisen sind entweder glatt abzulehnen, oder mit größtem Mißtrauen zu behandeln. Wenn jemals diese Verfolgung untersucht werden sollte, so müßte von deutscher Seite daraufgedrungen werden, daß damit:

1. Unparteiische, unabhängige Männer beauftragt würden, die auch Verständnis für die religiöse Seite der Frage haben.

2. Den Armeniern, die zwangsweise zum Islam bekehrt wurden, muß Gelegenheit gegeben werden, den Übertritt rückgängig zu machen, und zwar dieses, ohne daß sie für Leib und Leben zu furchten haben.

3. Die Verwandten derjenigen Kinder, die in muhammedanischen Häusern weilen, müssen das Recht haben, dieselben zurückzufordern.

4. Die gottesdienstlichen und Schulgebäude müssen zurückgegeben werden.

5. Das immobile Eigentum muß zurückgegeben oder der Wert ersetzt werden.

6. Den Armeniern muß die Auswanderung erlaubt sein.

7. Der christliche Gottesdienst darf nicht verhindert werden.

Wir deutschen Missionare hier im Innern können nicht viel mehr tun, als das unsagbare Leid der orientalischen Christenheit, mehr oder weniger passiv, mitzutragen. Aktivität aber ist Sache der deutschen evangelischen Christenheit und bei den deutschen evangelischen Missionskreisen.

Ich bin überzeugt, wenn man die Wahrheit wüßte, würde ein einziger Schrei der Entrüstung durch unser Volk gehen. Es ist kein Zweifel, das, was dem armenischen Volke angetan wurde und noch angetan wird, ist das größte Verbrechen der Weltgeschichte. Wird das Volk der Reformation die gänzliche Vernichtung einer christlichen Nation durch eine degenerierte, minderwertige Rasse als gegebene Tatsache hinnehmen? Wird die deutsch-evangelische Kirche, die in diesem Jahr ihre Reformationsjahrhundertfeier begehen will, kein Wort des Protestes dafür haben, daß hier eine Schwesterkirche von sadistischen Fanatikern zerstört wurde? Das wäre nicht deutsch, nicht christlich.

Bitte machen Sie von meinem Brief Gebrauch, wo Sie können. Womöglich lassen Sie auch Exzellenz Dryander Einsicht nehmen.

Gott aber, der Herr der Kirche, wolle Sie in allem leiten!

Und dann noch eins: Wir brauchen materielle Hilfe, und wieder Hilfe und nochmals Hilfe. Es stehen missionarische Güter von höchstem Wert auf dem Spiel.

Bitte empfehlen Sie mich bei Ihrer verehrten Frau Gemahlin.

Mit herzlichem Gott befohlen Ihr getreuer


Ernst J. Christoffel.


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