1918-06-14-DE-001-V

DuA Dok. 401 (gk.)

Der deutsche Leutnant Walker über das Blutbad bei Katharinenfeld am 1. Juni 1918
Tiflis, den 14. Juni 1918

Ich glaube von dem Ereignis, das sich am 1. Juni in der Nähe von der Kolonie Katharinenfeld zugetragen hat, ein ziemlich richtiges Bild zu besitzen. Insofern ich nicht selbst Augenzeuge war von den Tatsachen, konnte ich dieselben durch Ausfragen von Tataren, die an den Metzeleien beteiligt waren, und von geretteten Armeniern ergänzen.

Nach blutigen Kämpfen zwischen Türken und Armeniern bei Karakilissa, in denen die letzteren unterlagen und schließlich von den Türken umringt wurden, gelang es einer Schar von ungefähr 800 Armeniern - Soldaten und Flüchtlingen -, in der Richtung der Bahnlinie den Türken zu entkommen. Unter Verfolgung der Türken flohen diese der Bahnlinie entlang, und der größere Teil erreichte glücklich die Station Sanain, wo sie, wie anzunehmen war, die Türken nicht mehr zu fürchten hatten, da die Station von einer deutschen Truppenabteilung bewacht wurde und der dortige deutsche Kommandant die Armenier unter seinen Schutz nahm. Doch ihr Ziel war Tiflis; da allein, glaubten sie, würde ihr Leben gesichert sein. Sie schlugen den Weg über Ach-Kjoerpi nach Bolnis-Chatschin ein, wo von der gesamten Zahl nur noch 480 Mann ankamen. Unterwegs hatten sie große Not: keine Lebensmittel; kein Dorf wollte sie durchlassen, weder ein tatarisches, noch ein armenisches, aus der Befürchtung, dafür als Feinde der Türken betrachtet werden zu können. So mußten sie, meist auf Umwegen, durch tiefen Wald und auf menschenleeren Bergrücken entlang, flüchten und gelangten den 29. Mai, ganz ausgehungert, in die Nähe des armenischen Dorfes Bolnis-Chatschin. Da Bolnis-Chatschin bekanntlich ein reiches Dorf ist, so hofften auch die Unglücklichen hier bestimmt auf Aufnahme und Unterstützung von seiten ihrer Volksgenossen. Doch, wie ich von verschiedener Seite vernommen habe, sollen sie bei dem Versuche, sich dem Dorfe zu nähern, auch hier bewaffnetem Widerstande nicht nur der Tataren der benachbarten Dörfer, sondern auch der Bewohner von Bolnis-Chatschin begegnet sein. Sie wurden nachts, während dem sie sich in dem benachbarten Walde (von den Deutschen der "Judenwald" genannt) aufhielten, von der Seite des Dorfes her beschossen. Da trat ein tapferer Fähnrich der armenischen Bergbatterie, der sich schon vorher auf dem Wege als tüchtiger Führer bewährt hatte, kühn mit der weißen Fahne vorangehend auf und erklärte, daß seine Leute fast waffenlos seien. Daraufhin wurde ihnen erlaubt, das Dorf zu betreten. Doch hier mußten sie bald entdecken, daß sie von einer übermächtigen tatarischen Horde umringt waren, an deren Spitze ein gewisser Israfil-Begh aus Bolnis-Kapanaktschi stand. Man verlangte von den Belagerten vor allem die Abgabe ihrer Waffen, die im ganzen ungefähr noch 80 Flinten ausmachten. Was die übrigen Flinten anbetrifft, so - gaben die Flüchtlinge an - hatten sie die längst teilweise bei Karakilissa an die Türken verloren, teilweise unterwegs bei der Bevölkerung gegen Brot ausgetauscht. Nach langem Zögern traten sie schließlich ihre Waffen ab, unter Versicherung ihrer Volksgenossen, sowie der Tataren, sie glücklich nach Katharinenfeld zu bringen. Dann erklärte Israfil-Begh, im Namen des sich in Katharinenfeld befindlichen türkischen Paschas, des angeblichen Divisionsstabschef aus Dschelal-Ogly, die Entwaffneten als türkische Gefangene, die er die Aufgabe habe nach Katharinenfeld zum Pascha zu bringen.

Hierbei muß bemerkt werden, daß in der Kolonie die Gemüter schon längst in Aufregung waren infolge verschiedener Gerüchte von dem Anrücken der Türken und der verzweifelten Flucht der armenischen Partisanenschar unter der Führung des berüchtigten und weit und breit gefürchteten Andraniks, der auf seinem Rückzuge alles dem Feuer und Schwert anheimgeben sollte.

Die Türken zeigten sich denn eines Tages wirklich in Person zweier Offiziere, die von Dschelal-Ogly angekommen waren. Doch hatte sich die Nachricht von der Ankunft des Andraniks nie bewährt. So war es denn nichts Neues, als am 29. Mai tatarische Reiter mit der Nachricht angesprungen kamen, daß Andranik mit einem einige tausend Mann starken Haufen in Bolnis-Chatschin eingetroffen sei, doch wurde die Angabe so kategorisch wiederholt und dabei betont, Andranik wolle sich über Katharinenfeld nach Tiflis durchschlagen, daß es wiederum die ganze Kolonie auf die Füße brachte und eine gewaltige Panik hervorrief und den deutschen Bataillonschef veranlaßte, sämtliche Mannschaften unter Gewehr zu bringen. Dies geschah am Abend des 29. Mai. Um den Durchzug etwaiger Banden durch die Kolonie zu verhindern, wurden sofort 3 Posten, je 60 Mann stark, in den Richtungen südlich, westlich und nördlich, in 2 Kilometer Entfernung von der Kolonie ausgestellt, die, in ununterbrochener Verbindung mit einander stehend, die ganze Nacht durch Wache hielten. Um Mitternacht wurden Reiter nach Bolnis-Kapanaktschi ausgeschickt, die von dort ganz beruhigende Nachrichten brachten. Namentlich ist ihnen unterwegs niemand begegnet, und in dem Tatarendorfe gab man ihnen eine Auskunft, aus der man schließen konnte, es sei nichts los. Gegen Morgen wurden die ausgestellten Posten wieder zurückgezogen. Hierauf trat eine verhältnismäßige Ruhe ein; die Kolonisten, gewöhnt an verschiedenartige Provokation der Tataren, kamen zu dem Entschluß, daß auch diesmal Ähnliches vorliege und begaben sich auf die Arbeit. Nur erschien an demselben Tage - das ist der 30. Mai - wieder ein türkischer Offizier, nachdem die oben genannten ersten zwei die Kolonie verlassen hatten. Derselbe gab sich für den Stabschef der Division, die in Dshelal-Ogly stand, aus. Am selben Tage kamen die Tataren und Armenier aus den benachbarten Dörfern, u. a. auch aus Bolnis-Chatschin, und brachten dem "Pascha" ihre Huldigung dar. Im übrigen verlief der Tag ruhig.

Am 31. morgens kamen wiederum aus Kapanaktschi Boten (Tataren) mit der Meldung an den "Pascha", daß in Bolnis-Chatschin 700 bis 1000 Mann armenischer Soldaten angekommen seien. Doch bald wuchs die Zahl derselben, da immer neue Boten aus dem Bolnistale ankamen, bis auf etliche tausend Mann. Die Panik war wieder groß in der Kolonie. Obwohl ich diesen Nachrichten wenig Glauben schenkte, ging ich doch auf den Kirchenplatz, um womöglich Näheres zu erfahren. Dort traf ich den türkischen Stabsoffizier, welcher mir sagte, daß er soeben oben erwähnte Nachricht erhalten habe, und bat mich, Alarm zu blasen. Es ist zu bemerken, daß die Angaben der Tataren sich unterdessen schon an 10000 Mann beliefen. Ich, an derartige Übertreibungen tatarischerseits gewöhnt, riet dem Offizier, den Tataren nichts zu glauben, da ohnehin 5 von meinen Soldaten, die ich vor einer Stunde in den "Faldasch" (das Wasserscheidegebirge zwischen dem Muschawer- und Bolnistale) geschickt, um das Nähere auszukundschaften, in einer Stunde hier sein müßten mit zuverlässigen Nachrichten. Er war einverstanden, auf das Eintreffen meiner Soldaten zu warten und gab offen sein Mißtrauen zu den tatarischen Meldungen kund. Nach einer Stunde kamen meine Soldaten vom Faldasch zurück und meldeten, die Tataren hätten die ganze Bergkette Faldasch besetzt, und somit den Weg nach Katharinenfeld abgesperrt. Desgleichen brachten sie in Erfahrung, daß die Tataren westlich von Faldasch sieben Armenier, darunter ein Arzt, die sich durch ihre Posten durchschleichen wollten, niedergemacht hätten. Obwohl dieser Bericht beruhigend wirkte, [uns nicht beunruhigte], alarmierten wir doch sofort die ganze Mannschaft. Es wurden wieder Posten ausgestellt; einer im Süden bei der Maschawerbrücke und einer im Westen der Kolonie.

Hier muß ich jedoch bemerken, daß diesmal auf den Alarm nur wenige eintrafen, denn die Kolonisten, die letzten Tage schon so oft unnötigerweise alarmiert, verhielten sich ziemlich gleichgültig und schenkten der Bekanntmachung keinen Glauben mehr. Darum konnten nur verhältnismäßig schwache Posten ausgestellt werden.

Es verlief der Abend und die Nacht zum 1. Juni ganz ruhig. Am Morgen des 1. Juni ging ich zu dem türkischen Stabsoffizier, welcher mich mit den Worten empfing: "Es ist doch unglaublich, wie die Tataren lügen können. Es hat sich nun herausgestellt, daß in Bolnis-Chatschin nur 80 Mann bewaffneter Armenier sind." Auf dieses hin hoben wir die Posten auf und entließen unsere Mannschaften bis auf die wachthabende Halbkompagnie, und alles machte sich wieder an die Arbeit, da diese in den Gärten sehr dringend war.

Bis 5 Uhr nachmittags am 1. war alles ganz ruhig. Da, plötzlich fing am St. Georgsberg eine heftige Schießerei an. Ich begab mich sofort in den höher gelegenen Teil der Kolonie, von wo aus man das Tal und die daran grenzende Anhöhe, die "Tatarensteppe", übersehen konnte. Die letztere wimmelte von Tatarenhaufen, deren Zahl ich ungefähr auf 3000 Mann schätzte. Im Verlaufe von etlichen Minuten hatten sich die Massen ins Tal heruntergewälzt, wo das Schießen immer heftiger wurde. In unglaublich kurzer Zeit waren große tatarische berittene Haufen im Galopp den Mühlenweg und den Karbacher Viehtrieb herangeritten und hatten so ihren Opfern den Zutritt zur Kolonie unmöglich gemacht. Etliche von den Reitern erklärten den Deutschen, daß diese sich ruhig verhalten möchten, da sie es nur mit den Armeniern zu tun hätten. An ein Einmischen unsererseits war übrigens im Moment auch gar nicht zu denken, da, wie schon gesagt, die ganze Mannschaft entlassen worden war und sich in den Gärten und Feldern auf der Arbeit befand. Es standen uns alles in allem nur 90 - 100 Mann zur Verfügung. Dazu kam noch der Zufall, daß von den auf der Tatarensteppe Arbeitenden niemand das Herannahen der Haufen zeitig bemerkt hatte. Und so wußte man den genauen Sachverhalt lange nicht. Die Tataren sagten nur, das wären die Armenier, die schon etliche Tage erwartet würden; sie würden jedoch allein mit denselben fertig werden.

Schnell verpflanzte sich unterdessen der "Kampf" in die dicht an die Kolonie angrenzenden Weingärten, bis in die westlichen Straßenenden des Dorfes hinein, wo wir uns inzwischen, mit Maschinengewehren versehen, aufgestellt hatten, und zwar anfangs mit der Absicht, keinesfalls irgend jemand von den Banden in das Dorf herein zu lassen. Erst durch die von Deutschen geretteten und in die Kolonie eingeführten Armenier erfuhren wir, uns in der Kolonie befindlichen, den wahren Sachverhalt, woraufhin wir uns fest entschlossen, so viel als möglich, von den Armeniern, koste es was es wolle, zu retten. Die Armenier erzählten nämlich, daß - was oben schon teilweise vorausgegriffen ist - sie in Bolnis-Chatschin auf die Versicherung des Tatarenführers Israfil-Begh, sie ungefährdet nach Katharinenfeld zu bringen, als Kriegsgefangene des türkischen "Paschas", ihre Waffen - etwa 80 Flinten - ausgeliefert und sich den Tataren übergeben hätten. Auf dem Wege in die Kolonie seien sie aber am Fuße des St. Georgsberges plötzlich von ihren Begleitern überfallen und der größere Teil zwischen der Kolonie und der erwähnten Stelle niedergemacht worden. Diese Angaben bestätigten sich u. a. auch tatarischerseits. Nur wenigen, berichteten weiter die Armenier, sei es gelungen, in die Weingärten zu entkommen, seien jedoch auch hier, verfolgt von den Tataren, größtenteils niedergemacht worden.

Nun gingen wir energisch vor und stellten den Tataren die kategorische Forderung, das Gemetzel einzustellen. Wir machten uns bereit zum Eingreifen, richteten das Maschinengewehr gegen die Tatarenmassen auf und drohten jeden niederzuknallen, der sich noch erlauben würde, einem Armenier nachzustellen. Gleichzeitig schickte ich eine Abteilung deutscher Schützen in das Innere der Kolonie, um sämtliche Muselmanen, deren in der Kolonie eine große Anzahl wohnt, und die, Blut gerochen, auch bereit waren, auf die Armenier loszugehen, in ihre Häuser zu treiben und sie zu bewachen.

Die Tataren, die anfangs, trotz der Drohung der Deutschen, immer noch vordrangen und fortfuhren, einzelne sich flüchtende Armenier zu verfolgen, fügten sich zwar grollend den Deutschen, als sie merkten, daß unserer mehr geworden waren. Die Leute hatten sich unterdessen, beunruhigt durch das gewaltige Schießen, schleunig allerseits von den Gärten in die Kolonie begeben und die Mannschaft sich gesammelt. Dies alles geschah innerhalb von stark zwei Stunden.

Um die Verwundeten aufzulesen und die sich dort noch aufhaltenden Tataren zu verjagen, durchstreiften wir nun die Gärten und das Tal. Es bot sich uns daselbst ein schauderhaftes Bild dar. Die ganze Gegend war bestreut mit nackten blutbefleckten, unmenschlich zugerichteten Leichen und Schwerverwundeten. Aus verschiedenem Versteck, aus dem Gebüsch, aus hochgewachsener Saat, aus Wassergräben und Kanälen krochen auf unseren Ruf die am Leben Gebliebenen hervor und freuten sich unbeschreiblich, als sie sich in den Händen der Deutschen wußten. So gelang es uns, hundert unversehrte und 52 verwundete Armenier zu retten. Die Toten ließen wir vorläufig noch liegen, da es inzwischen Nacht geworden war, die Verwundeten aber schneller Hilfe bedurften. Die 152 Mann wurden nun im Schulhause untergebracht, wo ihnen sogleich ärztliche Hilfe durch die Ärzte Ljesnik und Tetter zuteil wurde. Auch stellte sich sofort eine Anzahl deutscher Frauen und Mädchen bereitwillig zur Verfügung, die Unglücklichen zu pflegen. Die Kolonisten brachten gleich Wäsche, Kleider, Brot, Milch, Butter und Käse und alles Mögliche herbei, um die Untergebrachten zu stärken. Diese konnten sich für ihre Rettung nicht genug bedanken und sagten dabei, daß sie von ihren eigenen Volksgenossen verleugnet und dem Schicksal preisgegeben worden seien.

Erst am nächsten Morgen, am Sonntag den 2. Juni, machten wir uns daran, die Toten zusammenzufahren. Dank zahlreicher Teilnahme konnte das schnell geschehen. Wir fuhren sie an einen Hügel westlich von der Kolonie zusammen, wie aus der beiliegenden Photographie zu ersehen ist. Nachmittags um 1 Uhr wurden sie da in einem Massengrabe mit der Teilnahme unseres Herrn Pastor Steinwand christlich beerdigt, im ganzen 270 Mann.

Die hundert Mann, die unversehrt geblieben und von den Kolonisten mit Kleidern und Speise versehen waren, wurden von dem türkischen Stabsoffizier als seine Gefangene erklärt und uns zur Bewachung überlassen. Am selben Tag traf in Katharinenfeld eine Eskadron türkischer Reiter ein, mit denen die Gefangenen sogleich nach Dshelal-Ogly befördert werden sollten. Dieser Umstand versetzte die Armenier in solche Angst, daß noch in derselben Nacht 35 Mann von ihnen flüchteten, darunter auch der oben erwähnte Fähnrich von der armenischen Bergartillerie. Die übrigen 65 Mann wurden am 3. Juni mit den türkischen Soldaten nach Dshelal-Ogly befördert. Die Verwundeten wurden in Katharinenfeld in unserer Pflege zurückgelassen, wo sie sich noch jetzt befinden. Jedoch sind davon die am schwersten Verwundeten, 20 an der Zahl, schon gestorben.


Leutnant Walker.

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