1916-04-28-DE-002-V

DuA Dok. 262 (gk.); 263 (teilweise) (gk.)

Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Nr. 201

Pera, den 28. April 1916.

Im Anschluß an Bericht vom 27. März.

Euerer Exzellenz beehre ich mich die in der Anlage von den Konsulaten zu Aleppo und Adana eingegangenen Beantwortungen des Fragebogens des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenien, ferner ein Schreiben des Konsuls Rößler an Dr. Vischer nebst Unterlage und ein Schreiben der Schwester Beatrice Rohner vom 11. d.M. an Dr. Vischer mit dem Anheimstellen zu überreichen, diese Schriftstücke dem genannten Verein übermitteln lassen zu wollen.

Wie Herr Dr. Büge in seinem Begleitbericht hinzufügt, ist in seinem Amtsbezirke eine Hilfsaktion jetzt nicht mehr nötig, nachdem die vielen tausende von Deportierten weiter, in der Richtung auf den Euphrat, abtransportiert worden sind.

Konsul Rössler bemerkt, dass die Schwester Paula Schäfer bereit sei, den Dr. Vischer zu begleiten, falls er einen Pass zur Reise nach Bagdad erhält. Ihr selber war seinerzeit die Reiseerlaubnis abgeschlagen worden, weil sie ausdrücklich um die Genehmigung zum Besuch der Notstandsgebiete gebeten hatte. Im übrigen hofft Herr Rössler, dass die Erlaubnis zur Reise nach Bagdad sich in Aleppo selber erwirken lassen wird.


Metternich.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg.


Anlage 1.

Kaiserlich Deutsches Konsulat.

Aleppo, den 12. April 1916.

Sehr geehrter Herr Dr. Vischer!

Ihren durch die Kaiserliche Gesandtschaft in Bern eingegangenen Brief vom 7. März habe ich zusammen mit dem weiteren Brief vom 18. März vorgestern erhalten und seine Anlagen an Schwester Beatrice Rohner gegeben, die auch die Beantwortung des Fragebogens übernommen hat, wie Sie aus dem anliegenden Brief von ihr ersehen werden. Haben Sie vielen Dank für alle Ihre Bemühungen sowie für die Übersendung zuerst von 10000 Frs., dann von 5000 Frs., welch letzterer Betrag mir dieser Tage ausgezahlt worden ist.

Das erschütternde Bild, das Schwester Beatrice Rohner von dem Unglück entworfen hat, wird Ihre Schweizer Freunde hoffentlich nicht entmutigen, ebensowenig wie der Umstand, daß eine feste Form der Notstandsarbeit nicht in Aussicht steht. Es gilt, wie sie gesagt hat, so viel als möglich vor dem Hungertode zu retten. Bei einer Organisation der Arbeit, wie Einrichtung von Suppenküchen, regelrechten Waisenhäusern, Krankenhäusern usw. würde mit demselben Geld voraussichtlich mehr zu erreichen sein. Die Spender müssen aber die Entsagung üben, die Verhältnisse zu nehmen, wie sie sind, und müssen die der Hilfe entgegenstehenden Schwierigkeiten in den Kauf nehmen. Auch die Amerikaner überlassen alles dem Ermessen der Schwestern Rohner und Schäfer.

Einen Teil des Schweizer Geldes habe ich der Schwester Paula Schäfer überlassen und füge zur Begründung eine Schilderung von ihr vom 1. März in der Anlage bei.

Ihre Reise hierher - wenn auch Schwester B. Rohner sonst europaeische Hilfskraefte nicht fuer moeglich haelt - ist sehr erwuenscht. Lassen sie sich von vornherein einen Pass zur Reise nach Bagdad ausstellen. Entweder koennen Sie dann laengere Zeit in Der Zor bleiben - der Mutesarrif dort ist sehr freundlich und tut sein moeglichster das Elend zu lindern - oder Sie kehren von dort um, nachdem Sie einen Einblick gewonnen haben, der Ihnen ermoeglicht, Ihre weiteren Entscheidungen zu treffen. Die seit langen Jahren als Krankenschwester taetige Schwester Paula ist bereit, mit Ihnen zu gehen. Ich hoffe, die Reiseerlaubnis fuer die Schwester hier zu erreichen.

Herr Eckart und Herr Kuenzler koennen sich aus besonderen Gruenden nicht beteiligen. Sie haben sehr schwere Zeiten durchgemacht; sie sind denunziert worden und Reisen von ihnen wuerden Verdacht erregen. Auch ist nach Verhaftung des Arztes die volle Kraft von Herrn Kuenzler fuer das Hospital erforderlich.

Meine Frau ist dieser Tage nach Deutschland abgereist um den Aeltesten auf ein humanistisches Gymnasium zu bringen. Sie ist unter der Adresse ihrer Mutter Frau Wirkl. Geh. Ober-Regierungsrat M. Neumann, Berlin-Wilmersdorf, Sigmaringerstrasse 26 zu erreichen. Alles wesentliche aber enthaelt die Beantwortung des Fragebogens.

Ich wuerde mich sehr freuen, Sie wiederzusehen und gruesse Sie herzlich als

Ihr ganz ergebener


Rößler.

Herrn Dr. Andreas Vischer,

Hochwohlgeboren, Basel.

Anlage 2.

Deutsches Konsulat


[Adana, den 15. April 1916]

Beantwortung der Fragen des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenien.

1. Rund 1900 deportierte Armenier sind zurzeit auf der Baustrecke der Bagdadbahn als Handwerker und Arbeiter, einige von ihnen als Bau- und Transportunternehmer der Baugesellschaft beschäftigt.

2. Die Leute werden von der Bagdadbahn-Baugesellschaft reichlich bezahlt und bedürfen daher keiner Unterstützung.

3.-5. Diese Fragen erledigen sich durch die Beantwortung der ersten beiden Fragen.

Bemerkung: Das deutsche Waisenhaus in Harunije hat sich zur Zeit, als große Scharen Deportierter namentlich in Osmanie lagen, dieser angenommen und die hierfür nötigen Mittel von amerikanischer Seite erhalten. Gegenwärtig ist diese Hilfstätigkeit in das Wilajet Aleppo verlegt worden.


Anlage 3


Maraschhospital, z. Z. Aleppo.

Aleppo, den 1. März 1916.

Das Krankenhaus Salem in Marasch hat schon seit Beginn der Armenierausweisungen und damit eben in ganz besonderer Weise in Hospital und Klinik eine außerordentliche Tätigkeit gehabt - [und] mehr als fast möglich - geleistet an Verpflegung von Muhadjirs [Vertriebenen], wie Medikamentenausgabe an eben solche in der Klinik.

Besonders nach dem Aufstand in Fyndadjak kamen hunderte von schwer Verwundeten ins Hospital, die dort wochen- ja monatelang behandelt und verpflegt wurden. Besonders Frauen und Kinder lagen mit durchschossenen Gliedern da, die zum Teil amputiert wurden, zum Teil halb geheilt heute noch neben dem Hospital auf unsere Hilfe warten.

Nach diesen [Bei den] außergewöhnlichen Umständen mußte das Krankenhaus, da es der Not wegen das ganze Jahr hindurch offen bleiben mußte (da wir sonst doch für 1-2 Monate schließen), mit all seinen Nahrungsmitteln, wie Medikamenten und Verbandstoffen, ziemlich abwirtschaften, da das monatliche Fixum nicht erhöht werden konnte.

Darum bitte ich, mir einen Zuschuß für diese Notstandsarbeit des Marascher Hospitals freundlich zukommen zu lassen.

Die Not in Marasch wie Umgegend ist unbeschreiblich, besonders in der Basardjikebene, wo Muhadjirs [Verschickte] aus Erzerum angesiedelt wurden, die aber Hungers sterben, wenn wir ihnen nicht auf irgend eine Weise helfen würden.

Es handelt sich darum, für diese Vertriebenen Weizen in großen Mengen anzukaufen und zwar jetzt, ehe die Preise noch höher getrieben werden!

So könnten wir den Leuten am besten helfen, wenn wir ihnen Brotweizen verschaffen.

Die Christen haben eben ein unerträgliches Los jetzt, für Geld sogar haben die Marasch Islams sich verschworen den Giaurs nichts zu verkaufen - so kommen die Aermsten oft Stunden ja oft halbe Tagereisen weit nach Marasch gepilgert, um Weizen zu erstehen, wird ihnen aber vorenthalten!

Da könnten wir eben mit unseren Weizenvorräten helfen - an Arme abgeben - an Reiche ev. zum Einkaufspreis wieder abgeben resp. verkaufen.


Schwester Paula Schäfer, Marasch-Hospital; z.Z. Aleppo.


Anlage 4.
[Aleppo, den 12. April 1916]

Beantwortung der Fragen des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenien.

1. Frage: Welche Zahl von deportierten Armeniern befindet sich ungefähr in Ihren Wirkungskreisen ?

Antwort: Unser Wirkungskreis ist ein doppelter: Schwester Paula Schäfer übernahm die Bahnstrecke Osmanie-Islahije und die Ebene südlich von Marasch, wo sich überall kleinere und größere Lager versprengter, zurückgebliebener Armenier befinden. In Marasch selbst ist unter den dort zurückgebliebenen ca. 7000 Armeniern furchtbare Not. Unter Türken und Armeniern gleich bekannt, kann Schwester Paula an diesen Orten ziemlich ungehindert ihre Arbeit tun.

Dem Einfluß des Herrn Oberst von Kreß ist es gelungen, Ende Dezember Djemal Pascha zu veranlassen, der Unterzeichneten ein Waisenhaus mit ca. 400 Waisen zu übergeben; dadurch war die Möglichkeit geschaffen, in aller Stille Notstandsarbeit zu betreiben. Dieselbe hatte schon im Sommer begonnen und war, von dem deutschen und amerikanischen Konsul unterstützt, durch die evangelischen und gregorianischen Geistlichen weitergeführt worden. Der sich dabei durch besondere Treue und Hingabe auszeichnende Prediger Eskidjian ist vor wenigen Wochen am Flecktyphus gestorben. Im ganzen sind hier 1250 Waisen gesammelt, davon sind 400 bei Prediger Haron Schiradjian, 250 in der gregorianischen Kirche und 600 (früher 400) bei der Unterzeichneten. Anfangs beschaffte die Regierung die nötigen Lebensmittel, doch ließ der Eifer bald nach, seit etwa 5 Wochen bekommen wir noch Brot, und auch das geht zu Ende. Die Lebensmittel sind mehr als vierfach im Preise gestiegen, wir müssen bei der denkbar einfachsten Beköstigung 4 Piaster (80 Cts.) pro Kind täglich rechnen, brauchen demnächst allein für die Waisen in Aleppo 50 Pfund türkisch pro Tag. Außer diesen Kindern halten sich in Aleppo noch ca. 4000 deportierte Armenier als Flüchtlinge versteckt. Sie fliehen vor der Polizei von einem Haus, einem Viertel ins andere und fristen ein jammervolles Dasein. Sie werden unter der Hand von den Vorstehern ihrer Kirchen unterstützt.

Südlich und südöstlich von hier sind noch jetzt ca 250000 Armenier zerstreut, von denen die meisten, nicht direkt, aber unter der Hand, mit Liebesgaben zu erreichen sind. In der Gegend von Hama, Damaskus, Ostjordanland, am Euphrat, warten viele auf Hilfe.

2. Frage: Können Sie uns Mitteilungen über ihren Zustand und ihre Bedürfnisse machen ?

Antwort: Der Zustand der Deportierten spottet jeder Beschreibung. Von Hausrat, Betten, Kleidern, ist natürlich längst nicht mehr die Rede, alles ist verkauft und verzehrt. Auch früher Reichen fehlt es heute am täglichen Brot. Sie gehen in Scharen hinaus und grasen die Felder ab (essen Gras). Wenn irgendwo ein Kamel oder sonst ein Lasttier am Verenden ist, stürzen sie sich darauf und schlagen sich darum, wie um eine Kostbarkeit. Zu Hunderten sind sie Hungers gestorben, zu Tausenden dem Flecktyphus erlegen. Überall irren heimat und elternlose Kinder umher (dies sind Aussagen von Augenzeugen).

3. Frage: Könnten Sie den Deportierten Unterstützungen zukommen lassen? In welcher Weise? Mit wessen Hilfe?

Antwort: Außer der Notstandsarbeit in Aleppo selbst, sind in Killis, Maarra, Hama, Ras-ul-Ain, Damaskus, Der-es-Zor, Kinder gesammelt worden, und es wurden an die erwähnten Ortschaften, wie auch nach Bab, Meskene, Sabkha, bis nach Ana hinunter größere Summen zur Linderung der Not geschickt. Dies konnte natürlich nur durch Vermittlung treuer eingeborener Christen geschehen und ist Gott sei Dank bis heute gelungen, ohne den Verdacht der Regierung auf uns zu lenken.

4. Frage: In welchem Umfange wären Mittel erforderlich ?

Antwort: Außer 4000 Pfund monatlich für Aleppo wären pro Person 2 Piaster Unterstützung gerechnet, täglich 100000 Frs. nötig. Es gilt so viele als möglich vom Hungertode zu retten und womöglich bis nach dem Krieg zu erhalten.

5. Frage: Haben Sie zu diesem Hilfswerk Hilfskräfte nötig ?

Antwort: Hilfskräfte müssen aus dem Volke selbst herangezogen werden. Eine europäische Organisation würde nur dazu dienen, der Sache ein jähes Ende zu bereiten.


Beatrice Rohner.

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