1915-05-08-DE-001-V

DuA Dok. 044 (gk.)

Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Nr. 286

Pera, den 8. Mai 1915.

Trotz der Bemühungen der armenischen Kreise, die Bedeutung der in den letzten Wochen an verschiedenen Stellen ausgebrochenen Unruhen abzuschwächen oder die Schuld den Maßnahmen der türkischen Behörden zuzuschieben, mehren sich doch die Anzeichen dafür, daß diese Bewegung weiter verbreitet ist, als bisher angenommen wurde, und daß sie vom Ausland mit Hilfe der armenischen Revolutionskomitees gefördert wird.

Die bereits gemeldeten Kämpfe in Wan, bei denen die Aufständischen zeitweilig sogar die Oberhand gehabt zu haben scheinen, deuten darauf hin, daß die dortige armenische Bevölkerung ausreichend mit Waffen und Sprengstoffen versehen war; unter den Toten wurden nach Mitteilung der türkischen Behörden vielfach Individuen in russischer Kleidung gefunden, und es wird auch von den Armeniern nicht geleugnet, daß einer ihrer Landsleute, ein gewisser Pasdirmadjian, dort in russischem Interesse stark gewühlt hat. Dieser gefährliche Agitator war seinerzeit durch das von ihm geleitete Attentat auf die hiesige Banque Ottomane auch in weiteren Kreisen bekannt geworden, kehrte dann nach Wiedereinführung der Konstitution hierher zurück, ward Abgeordneter und ging später, weil er nicht wieder gewählt wurde, nach Rußland. Nach den letzten Nachrichten (vom 8. d. M.) ist es armenischen Freischärlern mehrfach gelungen, sich von Wan aus mit den Russen zu vereinigen.

Über die in Kaisarié gefundenen Bomben gibt das armenische Patriarchat an, daß ein aus Amerika zurückgekehrter Armenier, der sich in Everek bei Kaisarié niedergelassen hatte, sich mit ihrer Herstellung beschäftigte, und nachdem er drei verfertigt hatte, bei der vierten verunglückte; die drei fertigen Bomben wurden von seinen Landsleuten versteckt, aber von der Polizei, die durch Zufall von der Sache erfuhr, entdeckt; bei weiteren Nachforschungen kamen 24 leere, noch nicht geladene Hülsen, unter dem Ziegeldache der dortigen armenischen Kirche, zutage. Dies trug sich Anfang Februar zu. Seitdem scheinen noch weitere Funde von Bomben gemacht worden zu sein; der Minister des Innern gab kürzlich die Zahl der in Kaisarié gefundenen Bomben auf 400 an, außerdem seien solche auch in Diarbekr zutage gefördert und nach Wan geschickt worden, um dort im Kampf mit den Aufständischen verwendet zu werden.

Daß die armenische Bevölkerung in den östlichen Provinzen über Waffen verfügt, wird von den Armeniern zugegeben; angeblich sollen diese Waffen zur Abwehr gegen die räuberischen Überfälle durch Kurden und anderes Gesindel dienen; es läßt sich vermuten, daß sie in der Hauptsache von armenischen Revolutionskomitees schon vor längerer Zeit dort angesammelt worden sind.

Die Behörden nehmen bestimmt an, daß auch die Armenier von Zeitun durch fremde Umtriebe zum bewaffneten Widerstande gegen die Regierung aufgestachelt worden seien.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die armenische Bewegung in den letzten Wochen einen besorgniserregenden Charakter angenommen hat, der die Regierung zu scharfen Repressivmaßregeln veranlaßt hat.

Die Massenverhaftungen hier und anderwärts, wie z. B. in Erzerum, wo der Wali Beweise für eine armenische Verschwörung in Händen zu haben glaubt, in Aintab usw. richten sich gegen die Komitees, die auf diese Weise ihrer Führer beraubt werden, in erster Linie gegen die Partei Daschnakzutiun.

In Zeitun ist ein Teil der Bevölkerung weggeschafft worden, hauptsächlich nach Konia; die gleiche Maßregel ist für Siwas und einige nordsyrische Plätze beschlossen und in der Ausführung begriffen.

Hier in der Hauptstadt ist vor einigen Tagen die gesamte Bevölkerung aufgefordert worden, die in ihrem Besitz befindlichen Waffen aller Art abzuliefern.

Bei der Erregung, die sich auch der muhammedanischen Bevölkerung bemächtigt hat, werden Bedrückungen der ruhigen Elemente und Ausschreitungen seitens der Unterbehörden nicht zu vermeiden sein. Aber trotz der vielfach herrschenden Besorgnisse ist es bisher zu keinen Massakers gekommen, weder in Zeitun, noch in Marasch, noch in Aintab, noch in Erzerum, und es wird der Regierung auch wohl in Zukunft möglich sein, solche zu verhindern.


Wangenheim.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg.


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