1915-07-16-DE-003-V

DuA Dok. 116 (gk.)

Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Nr.449

Pera, den 16. Juli 1915.

Euere Exzellenz beehre ich mich anbei Abschrift eines Berichts des Kaiserlichen Vizekonsuls in Samsun vom 4. d. M. über Armenieraustreibungen zu überreichen. Ich habe Herrn Kuckhoff mitgeteilt, daß ich mit seiner Haltung und seinen Ausführungen einverstanden sei, ihn auch mit Weisungen wegen Sicherstellung der deutschen Interessen versehen. Der Bericht ergibt erneut, daß einerseits eine armenische Verschwörung in der Tat bestand, daß aber andererseits die rigorosen Maßnahmen der türkischen Regierung nicht gerechtfertigt erscheinen können. Meine Einwirkungen bei der Pforte versprechen leider nur geringen Erfolg.

Wenn ich in letzter Zeit über diese Vorgänge Euerer Exzellenz ausführlicher berichtet habe, so geschah dies in der auch von Vicekonsul Kuckhoff geteilten Voraussicht, daß unsere Feinde uns später eine gewisse Mitschuld daran nachsagen werden. An der Hand meiner Berichte werden wir in der Lage sein, der feindlichen Welt insbesonders durch die Presse zu gegebener Zeit nachzuweisen, daß wir die zu weit gehenden Maßnahmen der türkischen Regierung und noch mehr die Ausschreitungen lokaler Organe stets nachdrücklich verurteilt haben.


Wangenheim.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg.


Anlage.

Kaiserlich Deutsches Vizekonsulat.

Samsun, den 4. Juli 1915.

Am 25. Juni d. J. drahtete ich nachstehendes:

"Wegen allgemeiner Verschwörung und Verrat wie Verwüstung einiger Städte Anatoliens und Tötung von deren muselmanischer Bevölkerung verhängte Regierung Ausweisung des gesamten armenischen Volkes nach Mesopotamien mit fünftägiger Frist zur Regelung ihrer Ortsangelegenheiten. Da hier und im Innern bei Armeniern bedeutende deutsche Guthaben ausstehen ersuche ich um Schritte zu deren Sicherstellung. Falls Regierungsmaßregel voll ausgeführt wird sind Repressalien seitens der mit den Verschwörern verbundenen Kriegsfeinde durch Zerstörung aller Küstenstädte zu erwarten."

Der ausschlaggebende Grund für diese Maßregel soll die Einnahme der Stadt Wan seitens der Armenier und die Erklärung der Unabhängigkeit dortselbst, sowie die Zerstörung von Schabin-Karahissar (Wilajet Sivas) gewesen sein. Angeblich haben an beiden Orten die Aufständischen die ganze muselmanische Bevölkerung umgebracht. In Karahissar auch den griechischen Bischof, der türkische Familien in seinem Hause retten wollte.

Es ist Tatsache, daß eine große armenische Verschwörung in ganz Anatolien vorzüglich organisiert war und mit dem Auslande in ständiger Verbindung stand. In allen Städten waren die Verschwörer mit Kriegswaffen, Munition und Bomben gut versorgt. Vieles wurde von den Behörden entdeckt; das meiste dürfte jedoch versteckt geblieben sein. Die Regierung hatte somit alle Ursache, diesem gefährlichen revolutionären Treiben ein Ende zu bereiten.

Die getroffenen Gegenmaßregeln [Die Maßregel der Deportation] - anscheinend für alle anatolischen Wilajets gültig, ist von einer Härte und dem Menschlichkeitsgefühl so widerstrebend, daß sie nicht gleichgültig hingenommen werden kann. Es handelt sich um nichts weniger als um die Vernichtung oder gewaltsame Islamisierung eines ganzen Volkes, dessen Angehörige zum größten Teil an der revolutionären Bewegung keinen direkten Anteil hatten, also unschuldige Opfer sind. Die Art der Ausführung des Verbannungsbefehls droht Formen anzunehmen, die nur in der Judenverfolgung Spaniens und Portugals ein Gleichnis finden. Die Regierung entsandte fanatische, strenggläubige muhammedanische Männer und Frauen in alle armenischen Häuser behufs Propaganda für den Übertritt zum Islam, selbstverständlich unter Androhung der schwersten Folgen für diejenigen, die ihrem Glauben treu bleiben. Soviel mir bekannt, sind bis heute hier schon viele Familien übergetreten und täglich vermehrt sich deren Zahl. Die Mehrheit der Unglücklichen widerstand bis jetzt den Lockungen und wurde täglich gruppenweise ins Innere getrieben. Fast keinem verblieb Zeit zur Regelung seiner Angelegenheiten. Nur mit dem Notdürftigsten versehen, mußten sie ihr Heim und Hab und Gut im Stiche lassen. Wie ich erfahre, werden sie an nicht entfernten Punkten jetzt zurückgehalten, um dort noch gründlicher für den Islam bearbeitet zu werden; einige von ihnen kehrten zu diesem Zwecke auch nach hier zurück. In der Umgebung von Samsun sind alle armenischen Dörfer muhammedanisiert worden, ebenso in Unieh. Vergünstigungen wurden, außer den Renegaten, niemandem zuteil. Alle Armenier ohne Ausnahme: Männer, Frauen, Greise, Kinder bis zum Säugling, Altgläubige, Protestanten und Katholiken - welch letztere sich nie einer nationalen revolutionären Bewegung anschlossen und auch von Abdul Hamid verschont wurden - mußten fort. Kein christlicher Armenier darf hier bleiben; selbst nicht solche ausländischer Staatsangehörigkeit; letztere sollen ausgewiesen werden. Der Bestimmungsort der Samsuner Verbannten ist nach Aussage des Mutessarrifs Urfa.

Es ist selbstverständlich, daß kein christlicher Armenier dieses Ziel erreicht. Nachrichten aus dem Innern melden bereits das Verschwinden der abgeführten Bevölkerung ganzer Städte.

In Anbetracht der vorstehend geschilderten Zustände sandte ich am 1. Juli auf Ihre zwei Drahtungen vom 29. v.M. folgende Antwort: "Ein Teil der Schuldner wechselte Glauben und verbleibt in seinen Gerechtsamen, größter Teil ist abgereist. Besitzungen und Warenbestände letzterer sollen beschlagnahmt und deren Erlös auch zur Sicherstellung deutscher Gläubiger dienen. Nach Aussage Gouverneurs soll Kommission zur Geschäftsabwickelung ernannt werden. Sammle bei Banken und Kommissionshäuserns Listen deutscher Firmen und Guthaben. Firmen Torque Mada und Arbuez arbeiten kräftigst im Innern zur Sammlung Gläubiger. Deutsche Lebensversicherungen sind dort stark interessiert, ersuche daher dringend um deren Schutz."

Da ich keine Zifferndrahtungen übermitteln kann, erlaubte ich mir in den beiden Schlußsätzen in verschleierter Weise auf die jetzt herrschenden Zustände aufmerksam zu machen.

Ich habe mit allen Mitteln auf den Gouverneur dahin einzuwirken versucht, daß die Maßregel der Regierung sich auf die einstweilige Verbannung der männlichen Bevölkerung im Alter von 17-60 Jahren beschränken möge, um auf diese Weise [erst] die wirklich Schuldigen zu ermitteln. Auch machte ich ihn auf den sehr peinlichen Eindruck, den seine Maßnahme bei der christlichen Bevölkerung in Deutschland und Österreich-Ungarn hervorrufen müsse, aufmerksam. Alles umsonst: Fanatiker sind Vernunftgründen unzugänglich! Was sind die Folgen? Durch Ausrottung des armenischen Elements wird aller Handel und Wandel in Anatolien zerstört und jegliche wirtschaftliche Entwicklung des Landes auf Jahre hinaus unmöglich, denn alle Kaufleute, Industrielle und Handwerker sind fast ausschließlich Armenier. Auch diesen Punkt erklärte ich dem Gouverneur; leider ohne Erfolg.

Es ist das eiserne Prinzip der jetzt Herrschenden, die ganze Türkei zu islamisieren und jedes sich bietende Mittel dazu anzuwenden. Für die ungeheuren Verluste, die das Land, sowie die einheimische und fremde Geschäftswelt durch Ausmerzung des armenischen Elements erleidet, haben sie nicht das geringste Verständnis. Die deutschen Gläubiger dürften auch stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Vorläufig lassen sich zu deren Schutz keine endgültigen Maßnahmen ergreifen, da man noch nicht weiß, wer von den Schuldnern zum Islam übergeht und hier bleibt und wer verschwindet.

Von der Ottoman & Salonikbank, wie von Hochstrasser habe ich Listen der Schuldner mit Angabe der geschuldeten Beträge erhalten. Mit dem Mütessarif sprach ich auch über die zu treffenden Maßnahmen. Es soll ein entsprechendes Gesetz in Konstantinopel in Vorbereitung sein, um die Angelegenheit regeln zu können. Einstweilen wurde alles Eigentum der Ausgewiesenen mit Beschlag belegt.

Es ist vorauszusehen, welche Folgen bei Bekanntwerden der Greuel die Armenierfrage zeitigen muß. Ein Entrüstungsschrei der ganzen christlichen Welt ist unausbleiblich. Alle Arbeit der protestantischen und katholischen Missionen in Anatolien ist vernichtet. Unsere Feinde werden davon vorzüglich Kapital schlagen und auch bei unseren Landsleuten dürfte das Gefühl tiefster Empörung nicht ausbleiben.

Und das Schlimmste an der Sache ist, daß die ganze Welt die Schuld dafür auf Deutschland abwälzen wird, da Freund und Feind glaubt, die Macht bei der Hohen Pforte liege ganz in unseren Händen und daß eine so tiefgehende Maßregel nur mit deutscher Zustimmung ausgeführt werden konnte.

Der aufgepeitschte Fanatismus der Muhammedaner und unsere eigentümliche Stellung in der Türkei bei der heutigen Weltlage, sowie die Geistesverfassung der leitenden politischen Kreise am goldenen Horn lassen die Schwierigkeiten vorausahnen, die einer zufriedenstellenden Lösung der Armenierfrage von Menschlichkeits- und praktischen Vernunftsstandpunkt aus entgegenstehen.

Trotzdem erlaube ich mir zu hoffen, daß es der erpobten Gewandtheit Euerer Exzellenz gelingen wird, der gänzlichen Vernichtung des größten Teils eines der ältesten und unglücklichsten Völker des Erdballs Einhalt zu gebieten.

Ich weiß nicht, ob meine Drahtungen überhaupt oder beizeiten eingetroffen sind. Auf jeden Fall dürfte es sich empfehlen, daß mir die Möglichkeit der Absendung chiffrierter Depeschen verliehen würde, um beizeiten genaue Nachrichten übermitteln zu können, denn wer weiß wieviel unschuldiges Blut während der Übersendung dieses Berichts schon geflossen ist.


Kuckhoff.

Copyright © 1995-2024 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved