1915-11-09-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/BoKon/171; R14088
Zentraljournal: 1915-A-32383
Botschaftsjournal: A53a/1915/6652
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 848
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amts (Zimmermann) an den Geschäftsträger Konstantinopel (Neurath)

Erlaß



Nr. 848
Berlin, den 9. November 1915
1 Druckanlage

Die Allgemeine Missionszeitschrift veröffentlicht auf S. 506 des anliegenden Novemberhefts Auszüge aus Originalberichten über das Schicksal der Armenier. Die Veröffentlichung steht im Widerspruch zu den Verabredungen, die hier in wiederholten Unterredungen mit dem Direktor des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient Herrn Friedrich Schuchardt getroffen wurden. Sie muß umsomehr befremden, als sie sich wenigstens zum Teil auf Berichte zu stützen scheint, die seinerzeit von der militärischen Zensurstelle dem Auswärtigen Amt vorgelegt und von dem zuständigen Referenten der politischen Abteilung Herrn Direktor Schuchardt persönlich unter der ausdrücklichen Bedingung ausgehändigt worden sind, daß nach außen kein Gebrauch davon gemacht werden dürfe.

Die Agitation, die in der feindlichen Presse seit einiger Zeit angeblich aus Gründen der Menschlichkeit, in Wirklichkeit aus selbstsüchtiger politischer Berechnung zu Gunsten der Armenier betrieben wird, ist für letztere, wie die Beobachtungen der Kaiserlichen Botschaft bestätigen werden, nicht nützlich, sondern schädlich. Wenn die deutschen Missionszeitschriften trotz dringenden Abratens der amtlichen Stellen nunmehr auch ihrerseits in diese Agitation eintreten, so erzielen sie damit nur die eine Wirkung, daß die Pforte sich künftig weniger bereit zeigen wird, unseren Vorstellungen in der armenischen Frage Gehör zu schenken. Es steht zu befürchten, daß der Artikel der Allgemeinen Missionszeitschrift und ähnliche Veröffentlichungen den Türken auf die Dauer nicht verborgen bleiben werden. Die Verantwortung für etwaige Folgen muß das Auswärtige Amt ablehnen.

Euer Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, mit Herrn Schuchardt, falls er noch dort ist, im vorstehenden Sinne eindringlich zu sprechen.


Zimmermann
Anlage

Auszug aus „Allgemeine Missions-Zeitschrift“, 42. Jahrgang, Heft 11, 1915, S. 506ff:

Der deutsche Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient erlebt ein trauriges Stück mit von der Spannung zwischen den Armeniern und den Türken. „Die Maßregeln der türkischen Regierung gegen das armenische Volk haben großes Elend zur Folge. Aus ganzen Landstrichen, selbst aus den Städten werden die Bewohner abtransportiert. Mitten aus den Erntearbeiten und aus ihren geschäftlichen Betrieben heraus mußten sich die Bewohner binnen weniger Stunden fertig machen und mit Frauen und Kindern, gänzlich ungenügend ausgerüstet, einer ungewissen Zukunft entgegenziehen. Das Leben im Innern der Türkei wird dadurch schwer getroffen, da man keinen Ersatz für die hinweggeführten armenischen Geschäftsleute, Handwerker und Arbeiter hat. Der Grund zu diesem Vorgehen liegt in dem Gefühl der Unsicherheit, das die türkische Regierung der armenischen Bevölkerung gegenüber hat, die sich im Falle eines Einbruchs der Feinde auf deren Seite schlagen könnte.“

Wir können es uns nicht versagen, aus den vielen Originalberichten über das entsetzliche Elend der Armenier unseren Lesern wenigstens einige kurze Auszüge mitzuteilen. Sie versetzen uns erst an den Ausgangspunkt der Deportationen, dann in eine Stadt des Durchzuges der ausgewiesenen Scharen und dann in die Wüste, wohin sie ausgewiesen sind: 1 „Am 7. Juni ging der erste Transport von Ersingjan ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten, und sie sollen wirklich das nächste Reiseziel, Kharput, erreicht haben. Am 8., 9. und 10. Juni verließen neue Scharen die Stadt, im ganzen 20 – 25000 Personen. ... Sehr bald hörten wir Gerüchte, daß Kurden die wehrlose Schar überfallen und vollständig ausgeraubt hätten. Die Wahrheit dieser Gerüchte wurde von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte uns unter Tränen, daß die Kurden die Frauen mißhandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten. ... Am 11. Juni wurden nun reguläre Truppen nachgeschickt, um ”die Kurden zu bestrafen“. Anstatt dessen haben sie - die Truppen - die ganze wehrlose Schar, die zum allergrößten Teile aus Frauen und Kindern bestand, niedergemacht. Aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, haben wir es hören können, wie die Frauen auf den Knien um Erbarmen gefleht und wie manche ihre Kinder selbst in den Fluß geworfen haben. Auf unsere entsetzte Frage: ”Und ihr schießt auf Frauen und Kinder?” kam die Antwort: ”Was sollen wir machen. Es ist ja Befehl.“ Einer fügte hinzu: ”Es war ein Jammer mitanzusehen. Ich habe auch nicht geschossen ...“. Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Ersingjan herum Menschenjagd gehalten, wo sich viele versteckt haben sollen. .. Am Abend des 18. gingen wir mit unserem Freunde, Herrn G., vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, daß kaum 10 Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte nun in erschütternder Weise, wie es ihnen auf dem weiten Wege ergangen sei. Schlachtend, schlachtend bringen sie sie daher. Jeden Tag sind 10 – 12 Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Den Kindern, die nicht mitkommen können, die Schädel eingeschlagen. Die Frauen geraubt und geschändet. Ich selber habe 3 nackte Frauenleichen begraben lassen. Gott möge es mir zurechnen.”. So schloss er seinen grauenerregenden Bericht. ... Am folgenden Morgen in alle Frühe hörten wir, wie die Todgeweihten vorüberfuhren Wir schlossen uns ihnen an und gingen mit ihnen zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es waren nur 2 Männer übrig geblieben. Von den Frauen waren einige geisteskrank geworden. Eine rief: ”Wir wollen Moslems werden, wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt, nur rettet uns! Jetzt bringen sie uns nach Kemagh und schneiden uns die Hälse ab“. ... Auf dem Wege begegnete uns ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in gutem Stande waren. Wir mußten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen: Einige wenige Männer, sonst Frauen und eine Menge Kinder, viele davon mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so tod-ernst und mit solch unbewußter Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Himmelreichs. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Großen, bis auf die uralten Frauen, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden von hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden. „So macht man es jetzt“, erzählte uns ein griechischer Kutscher, „und die Leichen sind ja auch flußabwärts gesehen worden“. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm sagte, er habe eben einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mama Chatun, zwei Tage von Erserum, nach Kemagh gebracht. ”Alle weg,“ sagte er. Wir: ”Wenn ihr sie töten wollt, warum tut Ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum erst sie so namenlos elend machen?” ... Er: ”So ist es recht, sie müssen elend werden. Und wo sollten wir mit den Leichen hin? Die würden ja stinken!”

Zwischen 2 dem 10. und 30. Mai wurden weitere 1200 der angesehensten Armenier und anderen Christen ohne Unterschied der Konfessionen aus dem Vilajets Diarbekir und Mamuret-ul-Asis verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Tigrisboote verladen unter dem Vorwand, daß man sie nach Mossul bringen wollte. Den Transport führte der Adjutant des Walis mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abreise nahm man den Leuten alles Geld (etwa 6000 Lire) und die Kleider ab und warf sie dann in den Fluß. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, keinen entkommen zu lassen. Die Kleider der Leute wurden in D. auf dem Markte verkauft.

Im 3 Vilajet Aleppo sind die Bewohner von Hadschin, Scheer, Albistan, Göksun, Tascholuk, Seitun, sämtlicher Alabaschdörfer, Geben, Schivilgi, Furnus und Nebendörfer, Fundatschak, Hasssanbeli, Charne, Lappaschli, Dörtjol und anderer Orte ausgewiesen worden und wurden kolonnenweise in die Wüste geschickt, unter dem Vorwande, sie sollten dort angesiedelt werden.

Das Dorf Tel Armen (an der Bagdadbahn, nahe Mossul) mit Nebendörfern – cirka 5000 Einwohner - wurde bis auf wenige Frauen und Kinder massakriert. Man warf die Leute lebendig in die Brunnen oder verbrannte sie. Man sagt, die Armenier sollen zur Besiedelung der Ländereien 24 - 30 Kilometer abseits der Bagdadbahn dienen. Da aber nur Frauen und Kinder verbannt werden, da alle Männer, mit Ausnahme der alten, im Kriege sind, so ist das gleichbedeutend mit Mord der Familien, da keine Arbeitskräfte, kein Geld zur Urbarmachung des Landes vorhanden sind. Ein Deutscher begegnete einem ihm bekannten Soldaten, der auf Urlaub von Jerusalem kam. Der Mann irrte am Euphrat umher und suchte seine Frau und seine Kinder, die angeblich in jene Gegend verschickt waren. Solchen Unglücklichen begegnet man auch oft in Aleppo, da sie meinen, dort näheres über den Verbleib ihrer Angehörigen erfahren zu können. Es ist wiederholt vorgekommen, daß bei Abwesenheit eines Familiengliedes dieses bei seiner Rückkehr keines der Seinigen wiederfand, da alles, alles weggetrieben war.

Durch einen Monat hindurch beobachtete man fast täglich im Euphratstrom abwärts treibende Leichen, oft zwei bis sechs Personen zusammengebunden. Die männlichen Leichen sind zum Teil sehr verstümmelt (abgeschnittene Geschlechtsteile usw.), Frauenleichen mit aufgeschlitzten Leibern. Der türkische Militär - Keimakam in Djerabulus - am Euphrat weigerte sich deswegen, die Leichen beerdigen zu lassen, da er bei den Männern nicht feststellen könne, ob es Mohammedaner oder Christen seien; im übrigen habe er auch keinen Auftrag. Die am Ufer angeschwemmten Leichen werden von Hunden und Geiern gefressen. Für dieses zahlreiche Augenzeugen (Deutsche). Ein Beamter der Bagdadbahn erzählte, dass in Diredjik tagaus tagein die Gefängnisse gefüllt und nächtlich entleert werden (Euphrat). Ein deutscher Rittmeister sah zwischen Diarbekir und Urfa unzählige unbeerdigte Leichen am Wege liegen.

Die Orientmission bittet dringend um Unterstützung ihrer Stationen, die sich in finanzieller Notlage befinden. In der Urfaklinik ist viel Gelegenheit, christliche Liebe zu beweisen. Alle Arbeiten haben auf das äußerste eingeschränkt werden müssen. Es ist aber bezeichnend, wie hoffnungsvoll man in die Zukunft blickt. Missionar Eckart schreibt: „Unsere zukünftige Arbeit hier wird unseres Erachtens auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden müssen. Deutsche Werte auf geistigem und materiellem, auf sittlichem und ökonomischem Gebiete steigen hier rapid im Kurs. Eine deutsche Pflanzstätte sollte künftige in jeder türkischen Stadt zu finden sein, wievielmehr nicht hier, wo wir seit 18 Jahren den Boden vorbereitet haben.“


[Botschaft Konstantinopel an den Reichskanzler (No. 692) 23.11.]


Auf den Erlaß vom 9. d.Mts. No. 848.

Der Aufsatz über die Armenischen Angelegenheiten der Allgemeinen Missions-Zeitschrift ist mit Herrn Schuchardt im Sinne Euerer Exzellenz Weisungen besprochen worden. Herr Schuchardt versicherte, dieser Veröffentlichung ferne zu stehen; es sei aber nicht ausgeschlossen, daß die von der Missions-Zeitschrift verwerteten Berichte auf anderem Wege zur Kenntnis der Herausgeber gelangt seien.

Nach den sonstigen Äußerungen des H. Schuchardt, der hier Gelegenheit gehabt hat, sich über die Armenische Frage und unsere Stellungnahme dazu zu informieren, glaube ich, daß seinen Erklärungen zu trauen ist.

Genannter gedachte am 24. d.Mts. die Rückreise nach Deutschland anzutreten.


1Folgende Auszüge bis „stinken“ stammen mit sehr geringen Abweichungen aus dem Bericht der Schwestern Thora von Wedel-Jarlsberg und Eva Elvers in Dok. 1915-08-21-DE-001.
2Dieser Absatz ist Teil des Berichts eines Ungenannten (Dok. 1915-08-20-DE-001, Anlage 6).
3Die folgenden Absätze bis „am Wege liegen“ sind Teile eines Berichts von Ernst Pieper (Dok. 1915-08-20-DE-001, Anlage 5).



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