1912-05-08-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 1913
Zentraljournal: 1912-A.S.-0889
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 05/14/1912 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 114
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Geschäftsträger der Botschaft Konstantinopel (Mutius) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Pera, den 8. Mai 1912

Nr. 114

Der rumänische Gesandte Herr Misu suchte mich gestern auf, um mir streng vertraulich Kenntnis zu geben von gewissen Anregungen, mit denen Assim Bey an ihn herangetreten sei. Der Minister hat sich zunächst lebhaft über die russische Politik beklagt, welche der Türkei überall Schwierigkeiten zu bereiten suche. Dieses Bestreben gehe so weit, dass russischerseits sogar gegen die an die Franzosen vergebenen Eisenbahnbauten in Ostanatolien am Schwarzen Meer Einwendungen erhoben worden seien. Überall sei der russische Druck fühlbar. Dies müsse der Türkei den Gedanken nahe legen, dem übermächtigen Nachbar gegenüber anderwärts Anlehnung zu suchen.

Mit besonderer Befriedigung sei es daher konstatiert worden, daß in dem Exposé des Grafen Berchthold [ Berchtold] vor den Delegationen die konservative Balkanpolitik Oesterreichs einen so glücklichen Ausdruck gefunden habe. Speziell der Passus über Rumänien habe auf der Hohen Pforte angenehm berührt. Assim Bey hat dabei den Wunsch geäußert, ob nicht auch von rumänischer Seite eine Kundgebung im gleichen Sinne erfolgen könnte. Herr Misu hat diese Anregung nach Bukarest weitergegeben und als Antwort den Auftrag erhalten, der Pforte zu versichern, daß die rumänische Politik unveränderlich auf die Erhaltung des status quo auf dem Balkan gerichtet sei. Der Gesandte hat mir den Wortlaut der ihm erteilten Instruktion gezeigt, in welcher diesem Gedanken unzweideutig Ausdruck gegeben war.

Die Wünsche Assim Bey’s gehen aber noch weiter. Er hat Herrn Misu gegenüber ausgeführt, daß die Türkei in ihrer bedrohten Lage engeren Anschluß an andere Mächte suchen müsse, wobei ihm in erster Linie Deutschland, Oesterreich und Rumänien vorschwebten. Nach Herrn Misu sei noch zu Lebzeiten des Grafen Aehrenthal eine Sondierung in diesem Sinne in Wien erfolgt. Der Gedanke einer geheimen vertraglichen Abmachung mit der Türkei sei dort zwar nicht gänzlich abgelehnt, aber mit Rücksicht auf den türkisch-italienischen Krieg dilatorisch behandelt worden. Auch Markgraf Pallavicini, dessen Wort gegenwärtig in Fragen der Orientpolitik in Wien maßgebend sei, habe sich in diesem Sinne geäußert. Assim Bey möchte nun, nach Ansicht des Herrn Misu, diesen Gedanken erneut über Rumänien lancieren. Der Gesandte hat seiner Regierung darüber im allgemeinen berichtet, im übrigen aber Assim Bey erwidert, er werde diese Anregung gelegentlich seines Sommerurlaubs persönlich Seiner Majestät dem König von Rumänien vortragen.

Der Minister hat Herrn Misu ferner darauf hingewiesen, daß wenn die Zentralmächte und Rumänien diesen von ihm gewünschten Anschluß ablehnten, die Türkei bei Frankreich und England Schutz suchen müsse. Dies würde ihm um so schwerer fallen, als die französische Politik der Türkei gegenüber einen kühl egoistischen Charakter bewahre und weil er den französischen Botschafter in Rom, Herrn Barrère, als den eigentlichen geistigen Urheber der Tripolisaktion Italiens betrachte.

In diesem Zusammenhang dürften auch einige Äußerungen des Markgrafen Pallavicini von Interesse sein, die er mir gegenüber in den letzten Tagen getan hat. Der oesterreichisch-ungarische Botschafter sagte, man werde in Europa umlernen und sich daran gewöhnen müssen, mit der Türkei als einem politischen Machfaktor zu rechnen. Soviel sei schon durch den bisherigen Verlauf des türkisch-italienischen Krieges erwiesen. Denn alle der Türkei prophezeiten Katastrophen seien nicht eingetroffen, die befürchteten Balkanwirren seien ausgeblieben, die Türkei habe nicht nur zähen Widerstand geleistet, sondern sich in den letzten Monaten wesentlich konsolidiert.

Diese Erstarkung der Türkei sei auch der eigentliche Grund für die von der russischen Politik ihr gegenüber neuerdings eingeschlagene unfreundliche Richtung.


Mutius



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