1913-08-01-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14081
Zentraljournal: 1913-A-14905
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 08/05/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 239
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Therapia, den 1. August 1913

Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg hat unter dem 10. Juli über eine Unterredung berichtet, die er mit Herrn Sassonow über die armenische Frage gepflogen, und in welcher sich der russische Minister des Auswärtigen energisch dagegen verwahrt hat, daß die russische Politik irgendwelche Sonderbestrebungen in Armenien verfolge oder gar auf die Aufteilung der Türkei hinarbeite. Lediglich das Ziel, in dem benachbarten Armenien geordnete Verhältnisse einziehen zu sehen, bestimme die russische Regierung, die Frage der armenischen Reformen als dringlich zu betreiben.

Es liegt mir fern, die subjektive Aufrichtigkeit in den Erklärungen des Herrn Sassonow irgendwie anzuzweifeln. Herr Sassonow hat sich bisher als ein zuverlässiger und gewissen populären russischen Strömungen gegenüber bemerkenswert unabhängiger Staatsmann erwiesen. Ich glaube daher gern, daß ihm persönlich der Gedanke einer russischen Expansion in Armenien gegenwärtig fernliegt.

Aber ein Anderes ist die Ansicht eines Ministers, der vielleicht bald von seinem Posten zurücktritt, ein Anderes die säkulare Tradition der russischen Politik. Man hört oft von intelligenten Russen darüber klagen, daß Rußland durch die Nachbarschaft unzivilisierter Länder zu immer weiterer Ausbreitung genötigt und damit von seinen inneren Angelegenheiten abgelenkt werde. In Wahrheit liegt diese Ausbreitungstendenz tief im Wesen der noch halb theokratischen russischen Staatsidee, und der Russe müßte erst wirklich Europäer werden, das heißt seine alten Ideale aufgeben, damit eine europäisch nüchterne Politik auf die Dauer möglich würde.

So liegt auch die Sache mit Armenien und dem Bestand der Türkei. Es ist ja ohne weiteres zuzugeben, daß irgend greifbares realpolitisches Interesse Rußland weder zum Erwerb von Armenien noch zur Zertrümmerung der Türkei treibt. Rußland ist schon heute eine sich selbst genügende Welt, die nur kulturell entwickelt zu werden brauchte, um zu einem Machtfaktor von erdrückender Größe anzuwachsen. Trotzdem wird sich keine russische Politik auf die Dauer von jenen halb religiös empfundenen Zielen lossagen können, welche man gemeinhin als das Testament Peters des Großen bezeichnet. Auch wenn einzelne Minister sich gegen diese Richtung sträuben, so lebt sie doch in der russischen öffentlichen Meinung, in Diplomaten, Konsuln, Militärs, Agenten aller Art fort, und selbst ein willensstarker Kaiser könnte ihr auf die Dauer nicht widerstehen.

Die Verhältnisse liegen heute in Armenien nicht schlechter als früher. Irgendein besonders dringlicher Anlaß, die armenische Frage jetzt anzuschneiden, ist nicht vorhanden. Lediglich der Wunsch Rußlands, aus der Schwäche der Türkei und der europäischen Konstellation zwecks Erweiterung seiner Einflußsphäre Vorteil zu ziehen, ist dafür maßgebend gewesen. Rußland will die Autonomie Armeniens, die Reformen sind der russischen Politik an sich gleichgültig. Die Autonomie Armeniens ist gedacht als ein Schritt auf dem Wege nach Konstantinopel.

Auch mein russischer Kollege beteuert mir immer wieder, daß Rußland selbstsüchtige Absichten in Armenien nicht verfolge. Als wir aber neulich einmal vor meinem Hause stehend auf den Bosporus blickten, sagte Herr von Giers zu mir: "Dies alles muß einmal unser werden." Es ist klar, daß, wer dies Ziel will, auch die Mittel dazu wollen muß. Ohne die Herrschaft über die Südküste des Schwarzen Meeres wäre auch der Besitz Konstantinopels für Rußland wertlos.

Ebensowenig wie die katholische Kirche ihren Weltherrschaftsanspruch oder Frankreich den Wunsch nach Wiedererlangung Elsaß-Lothringens aufgeben kann, wird auch die russische Politik von ihrem Traum loskommen, das Kreuz auf der Hagia Sofia neu zu errichten. Nüchterne russische Staatsmänner, welche sich von diesem Ziele abwenden, mögen das Tempo dieser Politik verlangsamen; die Richtung wird immer dieselbe bleiben, solange der Halbmond noch in Konstantinopel herrscht.


Wangenheim



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