1912-06-24-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 1913
Zentraljournal: 1912-A.S.-1189
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 06/25/1912
Praesentatsdatum: 06/28/1912 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 185
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschaftsrat in Konstantinopel (Mutius) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 183
Therapia, den 24. Juni 1912.

In der türkischen Presse, aber auch an massgebenden hiesigen Stellen ist in letzter Zeit der Gedanke häufig erwogen worden, ob und eventuell an welche der beiden grossen europäischen Mächtegruppen die Türkei näheren Anschluss suchen sollte.

Diese Frage enthält das ganze Problem der türkischen Politik in sich. Ist die Türkei eine bündnisfähige Grossmacht? Nach welcher Richtung gravitieren ihre Interessen? Bieten ihre inneren Verhältnisse eine Gewähr für ihren Bestand und für eine wirtschaftliche und politische Erstarkung?

Die erste Frage kann im gegenwärtigen Zeitpunkt unbedenklich verneint werden [Die Hervorhebungen sind im Auswärtigen Amt vorgenommen worden]. Wie hoch man auch die Fortschritte einschätzen mag, die auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiete unter dem jungtürkischen Regime gemacht worden sind, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass auch die konstitutionelle Türkei noch kein einer europäischen Grossmacht ebenbürtiger Partner geworden ist. Die Türkei hat zwar im gegenwärtigen Kriege eine gewisse passive Widerstandskraft gegenüber Italien bewiesen. Aber bei aller Anerkennung für das Organisationstalent der türkischen Führer in Tripolis und für die militärische Bedeutung der türkischen Armee, muss doch hervorgehoben werden, dass ohne den Druck der Grossmächte auf die Balkanstaaten, ohne die vornehmlich der Einwirkung Oesterreichs zu dankende Beschränkung des Kriegsschauplatzes, ohne die direkte und indirekte finanzielle Unterstützung Europas der Tripoliskrieg eine für die Türkei wesentlich ungünstigere Wendung genommen haben würde.

Die Gründe, aus denen die Türkei die gegenwärtige Krise bisher relativ gut überstanden hat, sind schliesslich dieselben, welche ihren Bestand im ganzen letzten Jahrhundert garantiert haben, nämlich die Eifersucht der Grossmächte, welche eine Abänderung des status quo in diesen wirtschaftlich und politisch gleich wichtigen Gebieten nicht dulden wollen. Diese konservative Tendenz findet heute noch eine mächtige Stütze in dem allgemeinen Friedensbedürfnis der wirtschaftlich und sozial fortgeschrittenen europäischen Länder. Die Türkei besteht trotz ihrer achtunggebietenden Armee auch heute noch nicht aus eigener Kraft und wird auf absehbare Zeit selbst zur Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten nicht ohne fremde Hilfe auskommen können.

Um den Weg Japans zur vollen Selbständigkeit zu gehen, fehlt es der Türkei an Vielem. Zunächst an der inneren Homogenität. Der Türke kam als Eroberer. Die unterjochten Völker fühlen sich ihrem Beherrscher gegenüber auch heute noch fremd. Der islamische Staatsgedanke schliesst die Gleichberechtigung nichtmuselmanischer Völker aus. Und den natürlichen Gegensatz zwischen Türken und Arabern hat der Islam auch nicht völlig zu überbrücken vermocht. Kann der Islam sonach die nationale Einheit nicht ersetzen, so stehen andererseits seine Ordnungen und die ihm entstammende fatalistische Stimmung der Entfaltung modernen Lebens hemmend entgegen. Auch in Bezug auf geistige Beweglichkeit und Aufnahmefähigkeit steht der Türke hinter dem Japaner zurück. Darum wird das System der Kontrolle und Bevormundung, wie es in den Kapitulationen, in der Dette, den französischen Instrukteuren vorliegt, vorläufig und zwar ebensosehr im Interesse der Türkei als in demjenigen der Fremden, nicht zu entbehren sein. Die Türkei wird sowohl von Aussen durch fremde Kräfte gestützt, wie auch im Innern durch fremde Mithilfe verwaltet und entwickelt werden müssen.

Aus der Beantwortung der ersten Frage ergibt sich auch diejenige der zweiten. Da die Türkei noch nicht als ein den europäischen Grossmächten gleichwertiger und somit bündnisfähiger Faktor gelten kann, so müsste der Anschluss an den Dreibund oder die Tripelentente zu einem Protektionsverhältnis führen. Keine der beiden Mächtegruppen ist stark genug, der Türkei einen absoluten Schutz zu gewähren, und doch haben alle europäischen Mächte in ihr bedeutsame Interessen.

Wenn daher die Pforte die Verbindung mit einer der beiden Gruppen mehr oder weniger lösen wollte, so würde die Konsequenz eine türkenfeindliche Politik der ausgeschlossenen Mächte sein, auf welche es die Türkei bei ihrer relativen Schwäche nicht ankommen lassen kann. Wird sich also die von Abdul Hamid virtuos gehandhabte Schaukelpolitik auch für die jungtürkische Regierung empfehlen, so ist doch nicht zu verkennen, dass gewisse europäische Mächte ein stärkeres Interesse am Bestand der Türkei nehmen müssen, als andere. Russlands Politik ist seit einem Jahrhundert auf die Zerstörung oder doch wenigstens Schwächung der Türkei gerichtet. Und wenn auch gewiss in dieser Frage der Einfluss Frankreichs und Englands sich einstweilen mässigend geltend machen wird, so wäre doch auch eine Politik der Tripelentente, die nicht umsonst ein „Länderverteilungssyndikat[Kommentar Bethmann Hollweg: Syndicate for annexation + distribution of Foreign Countries run by Great Britain] genannt worden ist, denkbar, welche unter russischer Führung auf ihre Zertrümmerung abzielte. In dem Masse aber, in dem Russland auf eine Zerstörung oder doch Minderung der Türkei hinarbeitet, muss Oesterreich (trotz der Annexion Bosniens und der Herzegowina) an ihrem Bestand und ihrer Stärkung interessiert sein. Und auch die deutschen Interessen scheinen mir unabhängig von dem nahen Bündnisverhältnis zu Oestereich nach derselben Richtung zu weisen. Bei einer Aufteilung der Türkei müssten wir schon infolge unserer geographischen Lage zu kurz kommen, und eine unter dem Protektorat einer anderen Grossmacht stehende Türkei wäre für uns ein zweites Marokko.

Die konservative Tendenz, welche der deutsch-österreichischen Politik im nahen Orient innewohnen muss, wird die Türkei immer zu einer gewissen Anlehnung an die Zentralmächte führen, auch wenn sie zeitweilig genötigt sein sollte, ihre Beziehungen zu Frankreich und England in den Vordergrund zu rücken.

Ganz von selber aber knüpft sich an diese Erwägungen die Frage: lässt sich die Türkei konservieren?

Da muss zunächst hervorgehoben werden, dass das jungtürkische Regime es in den wenigen Jahren seiner Herrschaft verstanden hat, die Armee und bis zu einem gewissen Grade auch die Finanzen wesentlich zu bessern. Die Staatseinnahmen haben sich gehoben und die türkische Armee ist, welche Mängel ihr auch noch anhaften mögen, in ihrer modernen Schulung und Bewaffnung und bei den ausgezeichneten Eigenschaften des türkischen Soldaten zum mindesten in der Defensive eine sehr wirksame Waffe. Wenn die Türkei infolge ihrer besonderen internationalen Lage die langen Jahrzehnte militärischer Ohnmacht überstanden hat, ohne zugrunde zu gehen, so ist dies umsomehr zu erwarten, nachdem sie sich eine Achtung gebietende moderne Armee geschaffen hat. Die militärische Entwickelung der Türkei ist jedenfalls hinter derjenigen ihrer Balkannachbarn nicht zurückgeblieben.

Muss man somit anerkennen, dass die Widerstandsfähigkeit der jungen Türkei nach aussen gewachsen ist, so ist die innere Stabilität des jetzigen Regimes noch keineswegs erwiesen. Die durch das Parlament und die Zeitungen Europa vorgetäuschte öffentliche Meinung gibt es vorläufig noch nicht. Der Sultan ist schwach. Die politische Organisation des Komitees beherrscht zwar das Land, aber nur, weil sie sich auf den einzigen realen Machtfaktor stützt, die Armee. Die Unzufriedenheit, die die Herrschaft des Komitees in der Bevölkerung erregt, ist solange ungefährlich, als sie nicht die Armee ergreift. Aber diese Möglichkeit liegt natürlich nahe. Man hört gelegentlich auch jetzt von unzufriedenen Stimmungen im Offizierskorps. So wurde kürzlich aus Monastir darüber berichtet. Solange der gegenwärtige Krieg dauert, möchte ich dem keine besondere Bedeutung beimessen; eine kritische Phase aber wird für die Türkei mit dem Friedenschluss einsetzen. Wenn es in der Armee zu Uneinigkeit kommen sollte, so würde dies allerdings meines Erachtens die ganze Existenz der Türkei in Frage stellen, denn es ist kaum anzunehmen, dass Bulgarien und Griechenland die Gelegenheit eines inneren türkischen Zwistes ungenutzt vorübergehen lassen könnten. Gelingt es hingegen der gegenwärtigen Regierung, mit Ehren Frieden zu schliessen und gestützt auf eine geschlossene Armee die Ruhe im Lande zu erhalten, so hat sie ihre Feuerprobe bestanden und kann getrost den Verlust der beiden fernen afrikanischen Provinzen verschmerzen. Mit jeder Bahnstrecke wächst die wirtschaftliche Bedeutung und militärische Macht der Türkei. Binnen wenigen Jahren kann sie in Friedensarbeit mehr gewinnen, als Tripolis und die Cyrenaika für sie wert sind.


Mutius

Kommentar Bethmann Hollweg: gut!



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