1913-03-18-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14078
Zentraljournal: 1913-A-05583
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 03/18/1913
Praesentatsdatum: 03/18/1913
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


"Reichspost"

Das Schicksal Armeniens
Von einem Armenier



Von einem Armenier.

Im fernen Osten lebt ein Volk, dessen entrüstete Klagen über grausame Verfolgungen und Bedrückungen leider allzu selten bis an Europas Ohr dringen. Es ist arischer Abstammung, besitzt eine hohe Kultur und hat oft seine christliche Religion und sein Vaterland mit seinem Herzblut verteidigt - das Volk der Armenier. Nach dem Zeugnisse großer europäischer Gelehrten, hat dieses Volk stets regen Sinn für alle Zweige der Kunst und Wissenschaft gezeigt und sich der Kultur anderer, moderner Staaten immer anzupassen gewußt; Elisee Reclus nennt die Armenier die wichtigste Regenerationsquelle des Orients und Gladstone hat einst von ihnen gesagt: "Wer ihnen dient, sorgt für Zivilisation." Wie stark die Lebenskraft dieses Volkes ist, zeigt sich darin, daß es sich trotz nahezu ununterbrochener Verfolgung als Urvolk zu erhalten wußte. Diese Verfolgung erreichte ihren Höhepunkt unter Abdul Hamid in dem Blutbad des Jahres 1895, in dem 300000 Armenier ihren Tod fanden, und in dem Christenmassaker von Adana (1909). Vom neuen Sultan Rechad Muhamed V. und der jungtürkischen Regierung erhoffte sich das schwergeprüfte Volk eine dauernde Verbesserung seiner Lage, aber seine Hoffnungen wurden getäuscht. So töteten in den letzten Monaten die kurdischen Bandenführer Mir Mhe, Seid Ali u. v. a. unter den Augen des ottomanischen Statthalters eine große Menge armenischer Priester, Lehrer und Kaufleute, ohne daß die Regierung auch nur im mindesten dagegen eingeschritten wäre. Eine furchtbare Plage für das arme Land sind die häufigen Brandschatzungen durch die Kurden. Oft kommt es vor, daß die Bewohner eines Dorfes von kurdischen Banden vor die Entscheidung gestellt werden, entweder eines qualvollen Todes zu sterben oder Haus und Hof oder wenigstens die Ernte den Räubern zu überlassen. Die türkische Verwaltung sieht diesen Greueltaten untätig zu. Zu diesen himmelschreienden Mißständen kommt jetzt die große Gefahr, die den Armeniern von jenen Mohammedanern droht, die infolge des jetzigen unglücklichen Krieges die europäische Türkei verlassen und sich in Asien eine neue Heimat suchen. Es ist sehr zu befürchten, daß sie das Beispiel der Kurden nachahmen und sich kurzerhand in den Besitz von Grund und Boden setzen werden. Daher ist es dringend geboten, endlich an die Durchführung des Art. 61 des Berliner Vertrages zu schreiten. Dieser Artikel, der nun schon 35 Jahre auf dem Papier steht, lautet: "Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Verzug die durch lokale Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erforderlichen Verbesserungen und Reformen ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren. Die Hohe Pforte wird die in dieser Richtung getanen Schritte in bestimmten Zeitabschnitten den Mächten bekanntgeben, die ihr Inkrafttreten überwachen werden." Da durch die Macht der Tatsachen eine Reihe von grundlegenden Artikeln des Berliner Vertrages hinfällig geworden sind, ist eine Revision und teilweise Neugestaltung des Vertrages notwendig geworden. Dabei muß endlich auch Armenien zu seinem Rechte kommen. Die armenische Frage wird in allernächster Zeit in den Vordergrund des Interesses treten. Die Art ihrer Lösung wird wahrscheinlich über das Schicksal ganz Vorderasiens und die Reste der türkischen Herrschaft entscheiden. In Vorderasien aber stoßen die Interessen der ganzen zivilisierten Welt zusammen. Daher die außerordentliche aktuelle und große Tragweite des Problems.

Das Bergland Armenien, oder richtiger: Großarmenien liegt zwischen dem Ostende des Schwarzen Meeres und der Südwestecke des Kaspisees. Der nordöstliche Teil Großarmeniens, die Gegend südlich vom Kaukasus, gehört zu Rußland, der östliche Teil zu Persien, das Land im Quellgebiet des Euphrat und Tigris zur Türkei. Dieser letztere Teil ist das Land des Ararat, das von dem majestätischen Schneeberg Massis beherrscht wird, das Land der großen Seen und der zahllosen Quellen. Weithin erstrecken sich üppige Wiesen und weite Kornfelder, herrlich gedeiht die Weinrebe und der Granatapfel. Allerwärts singen die Nachtigallen, überall sonnen sich Fasanen und Pfauen; am Waldrande steht die anmutige Gazelle; auf den Abhängen der wilde Steinbock. Eine andere Art von Schönheit bietet Kleinarmenien mit seinem stolzen Taurusgebirge und den fruchtbaren Gefilden von Adana. In Klein- und Großarmenien leben die Armenier als geschlossene Völkerschaft in einer Stärke von beiläufig vier Millionen. Davon sind etwa zwei Millionen türkische Untertanen. Außerdem befinden sich Armenier in fast allen türkischen Städten, zusammen ungefähr eine halbe Million. Armenische Kolonien gibt es in Indien, Ägypten, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Österreich-Ungarn (Erzbistum Lemberg), Italien, Frankreich, England und Amerika.

Die Armenier sind arischer Abstammung und seit frühester Zeit (33 n. Chr.) Christen. Von den ottomanischen Armeniern sind 300000 katholisch, 150000 evangelisch, der Rest orientalisch. Im byzantinischen Kaiserreiche waren Armenier hervorragende Krieger, erneuernde Denker und große Künstler. Ein Dutzend der Kaiser gehörte dem armenischen Stamme an. Im türkischen Kaiserreiche behielten die Armenier ihre Stellung als belebendes Element: sie hatten den Handel in Händen, sie zeichneten sich als Gelehrte, Künstler und Staatsmänner aus. Vom 15. Jahrhundert bis zum 19. war der armenische Volksgeist unterdrückt, fast wie vernichtet. Nur die Kirche stand aufrecht. In den Klöstern schliefen die alten Manuskripte... Ein Mönch, Mechithar, der es verstand, daß in der Türkei ein geistiger Herd für das Armenentum nicht aufzurichten sei, brachte die wertvollsten Handschriften nach Venedig, wo er das Kloster von San Lazzaro gründete, das eine Art armenischer Akademie wurde. Die Bewohner dieses Klosters entfalteten eine ungeheure Tätigkeit als Uebersetzer und machten so ihre Landsleute mit allen Schätzen des alten und neuen Europa bekannt, von Homer über Racine und Alfieri bis zu Schiller. Eine neue Blüte armenischen Geisteslebens begann. Besonders die Poesie erwachte zu herrlichem Leben. Der Grundton der armenischen Dichtungen ist Trauer, tiefe Trauer. Herzzerreißend klagt das armenische Lied über die Leiden, die Armenien um seiner Religion willen zu ertragen hat. Selbst die Flüsse des unglücklichen Landes lassen die Dichter teilnehmen an dem Klagegesange. So weint der Arares:

Wenn das christliche Volk nur verjagt worden wäre! Es ist hingeschlachtet worden, grausam gemartert, zu Tausenden und Hunderttausenden. Türken und Kurden teilen sich in die Henkersarbeit. Wir geben im folgenden nur eine knappe Übersicht über die furchtbarsten Blutbäder, die unter den armenischen Untertanen der Türkei im 19. Jahrhundert angerichtet wurden. 1856, im Jahre des Pariser Kongresses, gewährte der Hati-Hümaynn den Christen infolge des Druckes Europas "Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetze und das Recht der Eidesleistung und Zeugenaussage vor Gericht sowie Gleichheit in der Leistung der Steuern". Der Erfolg war: Massaker in Syrien 1850, Massaker der Armenier und Nestorianer 1859, Massaker der Maroniten und Syrier am Libanon 1860! Nach dem unglücklichen Kriege von 1876 bis 1878 nahm Abdul Hamid gerne die Artikel 23 und 61 des Berliner Vertrages an, dem eine Reformvorlage zugunsten der Christen in der Türkei 1880 folgte. Daraufhin 1884 neue Gewalttaten in Armenien und wieder neue Versprechungen. Schließlich begaben sich 1894 infolge der Bluttaten von Sassun drei Vertreter der europäischen Staaten nach dem Dalvorikberge und Abdul Hamid nahm die Denkschrift von 1895 an. Um diese vollständig zu verwirklichen, rüstete man die berühmte Kommission Schakki Paschas aus, die aber neue Untaten aussät. Resultat: Aufhebung der Verfassung, Massaker in Bulgarien und Rumelien, Bildung der irregulären kurdischen Hamidjetruppen, die großen armenischen Massakers in den Provinzen Trapezunt, Erzerum, Van, Urfa, Sivas, Kharput, Egin und in der Hauptstadt unter den Augen der Botschafter. 300000 Menschen fielen diesen furchtbaren Metzeleien zum Opfer. Noch vor vier Jahren (1909) haben die entsetzlichen Massaker von Adana stattgefunden, aber mit Adana schließt noch nicht die lange Reihe kurdischer Greueltaten an den Armeniern. Woche für Woche, ja beinah Tag für Tag hatte der armenische Patriarch in Konstantinopel bei der Regierung bittere Klagen zu führen über Bluttaten, die an den Armeniern verübt wurden. Erschütternd wirken trotz ihrer dokumentarischen Kürze und Sachlichkeit die Eingaben, die der armenische Patriarch von 1908 bis 1912 an die türkische Regierung gerichtet hat und die in französischer Sprache der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. UeÜber die seit September 1912 vorgefallenen Greueltaten hat das armenische Patriarchat einen offiziellen, im Druck noch nicht erschienenen Bericht verfaßt, aus dem wir auf gut Glück einige Fälle herausgreifen. In Schadakh wurden in einem Monat von den Kurden zwölf Armenier getötet, zwei verwundet (Bericht vom 12. September 1912). Ein Bericht vom 28. September besagt, daß der Räuberhauptmann Fakki-Ebbed mit 100 wohlbewaffneten Gehilfen das Dorf Harkenz angriff, zwei Bewohner tötete und das ganze Vieh forttrieb. Am 23. Oktober begegnete der berüchtigte Brigand Makme zwei jungen Armeniern, erschoß den einen, beraubte den anderen und verlangte außerdem von dessen Mutter 20 Pfund. Die arme Frau brachte erst 7, dann 20 Pfund, die sie von Fremden leihen mußte. Makme nahm das Geld und schoß dann vor den Augen der Mutter dem Sohn die Augen aus und schnitt ihm hierauf mit einem Yatagan das Herz heraus. Wie der Niedergang der Türkei den Armeniern neue Verfolgungen bringt, zeigt ein Brief vom 17. Dezember aus Bafra: "Eine Kommission sollte die aus Rumelien geflohenen Türken ansiedeln. Sie wies ihnen Weideplätze und Aecker an, die 800 armenischen Familien Unterhalt geboten hatten." Die Ausschreitungen der Kurden stoßen jetzt auf nahezu keinen Widerstand, da die waffenfähigen armenischen Männer alle unter die Fahnen gerufen sind, wo sie auch nach türkischem Urteil mit großer Tapferkeit kämpfen. Um so mehr empfindet man den gänzlichen Mangel an Regierungsmaßnahmen gegen die Übergriffe der Kurden. Diese Klage bildet den ständigen Refrain in den Berichten des armenischen Patriarchats in Konstantinopel.

Diese tieftraurige Lage des armenischen Volkes schreit nach Reformen. Eine Reformvorlage wurde von den Vertretern des armenischen Katholikos ausgearbeitet. Dabei wurde das Memorandum der Botschafter vom 11. Mai 1895 sowie die Vorlage Gladstones vom Jahre 1901 zugrundegelegt. Die hauptsächlichsten Forderungen der Armenier sind folgende: Die Armenier verlangen die tatsächliche Durchführung der versprochenen Reformen unter der tatkräftigen und bestimmenden Kontrolle und Mitarbeit Europas. Als notwendige Vorbedingung hierzu erachten sie die Einführung einer Verfassung ähnlich der des Libanons, der von einem christlichen Statthalter verwaltet wird. Die Armenier fordern die Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Besitzes. Sie verlangen Bewaffnung, um sich verteidigen zu können; sollte ihnen das nicht zugestanden werden, bestehen sie auf Entwaffnung der Kurden. Sie fordern die Herausgabe des armenischen Landes, das die Kurden seit den tragischen Ereignissen von 1895/96 in Beschlag genommen haben. Sie verlangen die Abschaffung der Feudalrechte der Kurden, die Wiedereinsetzung der Gerichtshöfe, die Zulassung der Armenier zur Gendarmerie, die Bestrafung der durch ihre Mord- und Raubzüge berüchtigten Banditen, die Entlassung der durch ihr schrankenloses Entgegenkommen gegen die Kurden befleckten Beamten. Die Armenier bestehen auf der Forderung wirtschaftlicher Reformen, durch die der materielle Wohlstand der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung gehoben wird und auf der Abschaffung der willkürlichen Steuern, die ein Erbe der alten Regierung sind. Ferner verlangen sie die Einführung der Lokaladministration in jeder Provinz und jeder Gemeinde. Endlich fordern die Armenier eine Umarbeitung der Grenzverhältnisse der Dorfgemeinden im Sinne der Schaffung homogener Gruppierungen, um die Zwistigkeiten zwischen den so ungeheuer gegensätzlichen Rassen und Religionen möglichst auf ein Mindestmaß einzuschränken.

Alle diese Forderungen klingen so selbstverständlich, daß man sich wundert, daß sie erst erhoben werden müssen.

Die Erfüllung der Forderungen der Armenier liegt im eigensten Interesse der Türkei. Gerade jetzt, nach dem unglücklichen Ausgange des Balkankrieges, ist sie doppelt darauf angewiesen, die ihr verbleibenden Untertanen zu Anhängern des ottomanischen Staatsgedankens zu machen. Die Türkei schütze die Armenier und sie wird an ihnen treue Freunde besitzen, denn es haben beide Völker gemeinsame Lebensinteressen kultureller und wirtschaftlicher Art und selbst die großangelegte russische Propaganda in Armenien hat bisher nicht vermocht, die Zusammenhänge des Volkes mit dem ottomanischen Reiche zu zerschneiden. Aber wenn die Türkei die Politik fortsetzt, die sie bisher betrieb, wird sie auch noch das ihr verbliebene Armenien verlieren und dann wird der Tag der Schlußliquidation des ottomanischen Reiches gekommen sein. Hierin liegt die Bedeutung der armenischen Frage für Europa.



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