1910-09-06-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 13190
Zentraljournal: 1910-A-15344
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Praesentatsdatum: 09/11/1910
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 281
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Geschäftsträger der Botschaft Konstantinopel (Miquel) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 281
Abschrift.

Therapia, den 6. September 1910.

Von dem grossen Problem der jungen Türkei, nämlich der Verschmelzung aller Nationalitäten zu einem verfassungstreuen Ottomanentum, ist es recht still geworden, und die wenigen Nachrichten über diese Bestrebungen lauten nichts weniger als günstig. Ja man kann unbedenklich behaupten, dass die Türkei von diesem Ziele weiter entfernt ist wie je. Die Enttäuschung der Nichttürken ist bereits in vielen Teilen des Landes zu Tage getreten, und es gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob eine friedliche, auf gemeinsamer Arbeit beruhende Lösung dieser Aufgabe nicht zu erreichen sein wird. Es würde demnach nur die Frage bleiben, ob die Türken nach und nach mit Gewalt die Verschmelzung durchsetzen, ähnlich wie in Russland die fremdstämmigen Untertanen russifiziert werden. Die Hohe Pforte, unterstützt von dem chauvinistischen Komitee, scheint vor den Schwierigkeiten dieses Programms, so unüberwindlich sie auch sein mögen, nicht zurückzuschrecken. Sie bevorzugt die Türken bei der Besetzung von Aemtern in jeder Weise und sucht die Rechte der übrigen Nationalitäten durch eine möglichst beschränkende Auslegung der Verträge auf ein Mindestmass zurückzuführen. In vielen Fällen mag sie dabei Recht haben; häufig geht sie aber zu weit. Der Kampf richtet sich namentlich gegen die Ottomanen griechischer Abkunft und das ökumenische Patriarchat, welches früher verwöhnt, sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen will. Die Pforte stellt den Grundsatz auf: Kirchliche Würdenträger haben sich auf kirchliche Dinge zu beschränken. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, dass das Patriarchat alles aufbietet, um von der alten Stellung möglichst viel in die neue Zeit hinüber zu retten. Es wünschte als Hilfstruppe eine Nationalversammlung zu berufen, scheiterte aber an dem Widerstand der Regierung, welche keine Beeinträchtigung der öffentlichen Ruhe durch ein solch turbulentes Organ aufkommen lassen will. Die scharfen Ausdrücke, deren sich der Patriarch zu bedienen pflegt, haben schon in verschiedenen Kreisen die Ansicht hervorgerufen, dass nur sein Rücktritt einen Ausweg aus der gespannten Lage bieten kann.

An Deutlichkeit der Sprache lassen es auch die griechischen Abgeordneten nicht fehlen; sie halten in einem sonderbarer Weise an den Scheich-ul-Islam gerichteten Schreiben der Regierung ein wahres Sündenregister vor. Die darin vorgebrachten Klagen werfen ein so klares Licht auf dieses Gebiet der jungtürkischen inneren Politik, dass es sich lohnt, den Inhalt des umfangreichen Dokumentes kurz anzusehen.

Die griechischen Abgeordneten schreiben, die anfängliche Freude an der Umgestaltung des Staatswesens sei ihnen bald verdorben worden. In künstlicher Weise sei die Zahl der griechischen Abgeordneten eingeschränkt und der Einfluss der Christen beseitigt worden, obwohl diese jetzt den Heeresdienst leisteten. Alle Gesetze dienten nur den Interessen der Muselmanen. Sämtliche einflussreichen Stellen würden mit Muselmanen besetzt, die sich Übergriffe nach allen Richtungen erlaubten. Griechische Schul- und Kirchenrechte würden rücksichtslos verletzt, ja die Regierung beleidige das kirchliche Oberhaupt der Griechen und bezeichne die gütigen Vermittlungsversuche des Patriarchen als eine unpassende Intervention. In ungesetzlicher Weise fänden Bekehrungen zum Islam statt. Ein solches System der Unterdrückung der Nichttürken habe nur Misstrauen zur Folge, und zwar nicht bei den Griechen allein.

In dem Wunsche, mit dem Staate im Guten auszukommen, bäten die griechischen Abgeordneten um Wahrung ihrer alten Rechte, Gleichstellung ihrer Schulen, Festlegung der Anzahl christlicher Rekruten, Aenderung des Wahlgesetzes unter Berücksichtigung der Bevölkerungsstatistik und Ermahnung aller Beamten zur Befolgung der Verfassung und gerechten Behandlung der Nichttürken.

Eine Antwort von türkischer Seite ist hierauf nicht ergangen, würde auch wohl nicht viel nützen. Die Gegensätze sind vorerst unüberbrückbar; nicht Worte entscheiden, sondern die Gewalt, und über diese verfügen die Jungtürken, welche davon einen recht ausgiebigen Gebrauch machen.


[Miquel]


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